Marieluise Fleißer

1901 - 1938

Marieluise Fleißer:
Erzählungen.
Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main JAHR
334 Seiten, EUR 10,00
ISBN: 351839780X

Marieluise Fleißer:
Abenteuer aus dem Englischen Garten.
Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 1998
170 Seiten, EUR 6,50
ISBN: 3518393308

Marieluise Fleißer:
Ingolstädter Stücke. Fegefeuer in Ingolstadt. Pioniere in Ingolstadt.
Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 1977
144 Seiten, EUR 7,50
ISBN: 3518369032

Marieluise Fleißer: Die List. Frühe Erzählungen.
Hg. und mit einem Nachwort
versehen von Bernhard Echte.
Frankfurt am Main 1997, 112 Seiten,
EUR 10,80
ISBN: 3518222473

Carl-Ludwig Reichert:
Marieluise Fleißer.
dtv
München 2001
191 Seiten, EUR 10,00
ISBN: 3423310545

 

Neue Zürcher Zeitung

Aus lebendiger Nähe

Zum hundertsten Geburtstag von Marieluise Fleisser

Marieluise Fleissers Karriere begann mit einem Paukenschlag und endete im Hafen der Ehe. Der Paukenschläger war Bertolt
Brecht und der Ehemann Bepp Haindl, ein Tabakwarenhändler aus der Provinz, bei dem die junge Schriftstellerin Schutz
suchte vor nationalsozialistischen Anfeindungen und sich wiederfand in einem Gefängnis. Ein typisches Frauenschicksal oder
nur die halbe Wahrheit? Beides. Denn Marieluise Fleisser war weit mehr als das Opfer patriarchaler Strukturen und widriger
Umstände, und sie wusste das sehr wohl.

Die heute vor hundert Jahren in Ingolstadt geborene und ebendort 1974 verstorbene Theater- und Prosaautorin zählt zu den
eigenwilligsten und interessantesten Literatinnen, die die Weimarer Republik hervorgebracht hat. Bekannt wurde sie 1926 mit
dem Drama «Fegefeuer in Ingolstadt», das Moritz Seeler auf Brechts Drängen hin an seiner legendären «Jungen Bühne» in
Berlin zur Aufführung brachte. Berüchtigt wurde sie drei Jahre später, als derselbe Brecht als pfeffernder Regisseur im
Hintergrund ihr zweites Stück, «Pioniere in Ingolstadt», im Theater am Schiffbauerdamm zum Skandal machte. Die linke
Presse schwärmte und sprach von einem Erfolg, die rechte geiferte und schimpfte die Verfasserin «eine schlimmere Josephine
Baker der weissen Rasse – in dem dicksten sexuellen Ur- und Affenwald».

Thema der «Pioniere» war, was Marieluise Fleisser als ihr Thema schlechthin bezeichnete: «etwas zwischen Männern und
Frauen». So banal und vage diese Umschreibung klingt, so vielfältig und überraschend sind die Formen, mit denen die Autorin
diesem Etwas Ausdruck verliehen hat. Davon zeugt nicht nur ihr Bühnen-, sondern auch und vor allem ihr erzählerisches Werk.

Wie die meisten Schriftsteller im Deutschland der Zwischenkriegszeit hat sich «die Fleisserin» – so nannte sie Brecht – ihren
Platz im Literaturbetrieb mit Veröffentlichungen in den Feuilletons von Zeitungen und Zeitschriften erschrieben. Ihre erste
Erzählung erschien 1923 unter dem Titel «Meine Zwillingsschwester Olga» in Stefan Grossmanns renommierter Wochenschrift
«Das Tagebuch». Diese Geschichte über Ängste und Zwänge einer Gruppe Dreizehnjähriger verrät noch das vorsichtige Tasten
der Anfängerin, die sich bemüht, «neue Sachlichkeit» zu produzieren, wie ihr Mentor Lion Feuchtwanger es von ihr verlangt
hatte. Doch ist der Fleisser-Ton schon da. Naiv, manchmal fast ungelenk mutet diese Sprache an und wirkt dabei gänzlich
ungekünstelt. Die Sätze sind kurz und gründen auf äusserst präziser Beobachtung, keine wabernden Metaphern verstellen den
Blick auf das Wesentliche.

Ein Mädchen lebte allzu ernsthaft in sich hinein, und jeden Tag tat es sich was anderes an, ganz was Schlechtes, und wenn nur
was Schweres an sie herantrat, gleich nahm sie sich darum an und hielt das Schwere aufmerksam in der Hand, wie wenn sie gar
nicht mehr davon lassen könnte. Man fragte sie, warum sie das tat. Seht ihr nicht, dass mir da was nicht hinausgegangen ist,
sagte sie.

So beginnt die Titelgeschichte von Marieluise Fleissers erstem Erzählungsband, den der Gustav-Kiepenheuer-Verlag 1929
herausbrachte. Man merkt: Hier hat jemand genau hingeschaut und noch genauer hingehört. Walter Benjamin lobte in seiner
Rezension des Bandes die Fähigkeit der Autorin, eine «unliterarische, aber keineswegs naturalistische Sprache (. . .) in
Anlehnung an den ebenfalls gar nicht naturalistischen Volksmund zu schaffen».

Die Geschichten der Marieluise Fleisser, wie auch ihr einziger Roman, «Eine Zierde für den Verein» (1931), spielen
hauptsächlich im Kleinbürgermilieu. Sie handeln von den seelischen Krämpfen Ausgestossener und von der Schwierigkeit, in
einer Welt von vorgefertigten und scheinbar unumstösslichen Wert- und Moralvorstellungen die persönliche Freiheit zu
behaupten.

Häufig stehen Frauen im Zentrum der Erzählungen. Meistens geraten diese Frauen an den falschen Mann. Und weil die Fleisser
selber an manche falschen Männer geraten ist, weil sie selber – nicht zuletzt durch Förderer wie Brecht – ausgenützt und
unterdrückt worden ist, drängt sich eine biographische Lesart ihres Werkes auf. Da hat man das unerfahrene Mädchen vom
Lande, das in den intellektuellen Kreisen Münchens und Berlins geistige und andere Freizügigkeiten kennen lernt. Da ist die von
Politik, Intrigen und finanzieller Not Zermürbte, die sich heimholen lässt nach Ingolstadt, um einem ganz und gar
unintellektuellen Mann den Haushalt zu führen, und vor lauter Arbeit in Küche und Geschäft über Jahre hinweg kaum mehr
zum Schreiben kommt. Das alles passt wunderbar zum Bild von der Fleisser als Märtyrerin und greift doch viel zu kurz. Auf die
Frage, ob ihre Erzählungen autobiographisch seien, hat die Autorin selber einmal geantwortet:

Nicht eigentlich. Aber man schreibt doch immer aus dem heraus, was man selbst erfahren oder aus lebendiger Nähe beobachtet
hat, man muss es irgendeinmal gekriegt haben, von nichts kommt nichts, jedenfalls nicht bei mir. Das kann sich sehr
verwandeln, bis es zu einer Geschichte wird.

Und wie es sich verwandelt. Marieluise Fleisser stilisiert, destilliert und ziseliert, bis die Literatur sich zu ihrem Leben so verhält
wie eine gelungene Übersetzung zum Original: Sie ist eigenständig und doch untrennbar mit dem anderen verbunden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Marieluise Fleisser wieder Fuss zu fassen in einem ihr fremd gewordenen
Literaturbetrieb. Es gelang ihr nur mit Mühe. Geschwächt von den Entbehrungen des Krieges, kämpfte sie nach wie vor gegen
die physische und psychische Überlastung, die Haushalt und Ehe für sie bedeuteten. «Karl Stuart», ein Stück, das sie noch
während des Krieges geschrieben hatte, fand nirgendwo Anklang. Ein anderes, das Volksstück «Der starke Stamm», kam zwar
an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung, wurde vom Publikum aber des bayrischen Dialekts wegen nicht goutiert
und mit Hitlers Blut-und-Boden-Gesängen assoziiert. Also wandte sie sich wieder dem Schreiben von Geschichten zu, obwohl
sie, wie es in ihren biographischen Notizen heisst, «in einer Literaturform, die finanziell nichts einbringt, ihre Stoffe aufzehrt».
Dennoch stammen aus diesen Jahren einige ihrer besten Erzählungen. Das parabelhafte Prosastück «Das Pferd und die
Jungfer» beispielsweise. Oder «Avantgarde», wo sie sich, wieder in Form Fleisser'scher Autofiktion, an ihre Zeit mit Bertolt
Brecht erinnert. Ausserdem «Eine ganz gewöhnliche Vorhölle», «Der Rauch» oder «Er hätte besser alles verschlafen»,
Geschichten, die auf Erfahrungen während und nach dem Krieg zurückgehen.

Eine eigentliche Renaissance erlebte die Fleisser Anfang der siebziger Jahre. Damals erklärten sich die «kritischen Realisten»
Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz zu ihren geistigen Söhnen. Sie machten sich an Adaptionen
von ihren Stücken, Fassbinder widmete ihr seine «Katzelmacher». Die Fleisser zeigte sich erfreut, blieb aber distanziert. Mit
derselben freundlichen Distanziertheit nahm sie auch die Ehrungen entgegen, die ihr nun zuteil wurden. Und im Dezember
1972, vierzehn Monate vor ihrem Tod, erschien die dreibändige Werkausgabe und gab der Autorin die Gewissheit, dass ihr
lebenslanges Ringen um und mit Sprache zwar für «Katzelmacher», aber bestimmt nicht für die Katz gewesen war.

Sacha Verna