Vorschule der Aesthetik

Von Gustav Theodor FechnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Theodor Fechner

I. Die Ästhetik von Oben und von Unten.

Die doppelte Weise, wie sich die menschliche Erkenntnis zu begründen und zu entwickeln strebt, macht sich auch in der Ästhetik, der Lehre vom Gefallen und Mißfallen oder nach Andern der Lehre vom Schönen, geltend. Man behandelt sie nach einem kurzen Ausdrucke von Oben herab, indem man von allgemeinsten Ideen und Begriffen ausgehend zum Einzelnen absteigt, von Unten herauf, indem man vom Einzelnen zum Allgemeinen aufsteigt. Dort ordnet man das ästhetische Erfahrungsgebiet einem, von obersten Gesichtspunkten aus konstruierten, ideellen Rahmen nur ein und unter; hier baut man die ganze Ästhetik auf Grund ästhetischer Tatsachen und Gesetze von Unten an auf. Dort handelt es sich in erster und zugleich höchster Instanz um die Ideen und Begriffe der Schönheit, der Kunst, des Stils, um ihre Stellung im System allgemeinster Begriffe, insbesondre ihre Beziehung zum Wahren und Guten; und gern steigt man damit bis zum Absoluten, zum Göttlichen, den göttlichen Ideen und der göttlichen Schöpfertätigkeit hinauf. Aus der reinen Höhe solcher Allgemeinheiten steigt man dann in das irdisch-empirische Gebiet des einzelnen, des zeitlich und örtlich Schönen herab, und mißt alles Einzelne am Maßstabe des Allgemeinen. Hier geht man von Erfahrungen über das, was gefällt und mißfällt, aus, stützt hierauf alle Begriffe und Gesetze, die in der Ästhetik Platz zu greifen haben, sucht sie unter Mitrücksicht auf die allgemeinen Gesetze des Sollens, denen die des Gefallens immer untergeordnet bleiben müssen, mehr und mehr zu verallgemeinern und dadurch zu einem System möglichst allgemeinster Begriffe und Gesetze zu gelangen.

Beide Behandlungsweisen lassen sich auch wohl als philosophische und empirische unterscheiden. An sich stehen sie nicht in Widerspruch mit einander, insofern eine richtige und vollendete Erkenntnis der obersten Prinzipien des Seins, der göttlichen und menschlichen Dinge, auch die Prinzipien einer richtigen Betrachtung der ästhetischen Verhältnisse einschließen muß, gegenseits eine richtige Verallgemeinerung der erfahrungsmäßigen Tatsachen und Gesetze des ästhetischen Gebietes in diese Erkenntnisse hineintreten muß. Beide durchmessen dasselbe Gebiet nur in entgegengesetzter Richtung; und überall ergänzt sich die Möglichkeit der Bewegung in einer Richtung durch eine solche in entgegengesetzter Richtung. Es haben aber beide Wege ihre besondern Vorteile, Schwierigkeiten und Gefahren.

Der erste Weg stellt uns so zu sagen von vorn herein an das Ziel, dem man auf dem zweiten erst zustreben muß, gewährt von da aus den allgemeinsten Blick, die höchsten Gesichtspunkte; aber man gelangt auf ihm schwer zu einer klaren Orientierung über die Gründe des Gefallens und Mißfallens im Einzelnen, um die es uns doch auch zu tun sein muß; es bleibt mehr oder weniger bei unbestimmt schwebenden, in ihrer Allgemeinheit das Einzelne nicht leicht scharf treffenden Begriffen. Dazu setzt dieser Weg, um richtig zu führen, einen richtigen Ausgang voraus, den man im Grunde nur in einem vollkommenen philosophischen und selbst theologischen Systeme finden kann, was wir beides noch nicht haben. Nur viele Versuche derselben haben wir, und so haben wir auch viele Versuche, die Ästhetik damit in Beziehung zu setzen, die alle noch viel zu wünschen übrig lassen, aber doch dem Bedürfnis allgemeinster und höchster Gesichtspunkte entgegenkommen, und, wenn sie dasselbe nicht vollständig befriedigen, doch beschäftigen und wach erhalten. Auch haben sich diese Nachteile wie Vorteile in allen sehr zahlreichen Darstellungen der Ästhetik und Behandlungsweisen ästhetischer Fragen, welche in Abhängigkeit von Schelling, Hegel und selbst von Kant, die Richtung von Oben bisher eingeschlagen haben, mehr oder weniger fühlbar gemacht.

Der andere Weg hingegen, der Weg von Unten, gewährt oder verspricht wenigstens unmittelbar eine klare Orientierung nicht nur im Felde der Begriffe, welchen sich das Gebiet des Gefallens und Mißfallens unterordnet, sondern auch über die Gründe des Gefallens und Mißfallens im Einzelnen und Nächsten; aber man gelangt auf ihm schwer zu allgemeinsten Gesichtspunkten und Ideen, bleibt leicht in Einzelheiten, Einseitigkeiten, Gesichtspunkten von untergeordnetem Wert und untergeordneter Tragweite befangen, wie sich dies namentlich bei den Engländern (als wie Hutcheson. Hogarth, Burke, Hay u. A.) zeigt, welche vorzugsweise den Weg von Unten eingeschlagen haben.

Nach Vorstehendem werden überhaupt die Versuche, die seither mit Behandlung der Ästhetik im ersten Sinne gemacht sind, mehr den befriedigen können, welcher sein Hauptinteresse in der Unterordnung der Dinge unter allgemeinste Begriffe oder Ideen sucht, und in irgendwelcher Gestaltung derselben Befriedigung findet, ohne die Ansprüche an Klarheit und Sachlichkeit höher zu stellen, als ihnen nun eben genügt ist; indes ein Versuch, die Ästhetik im zweiten Wege zu behandeln, mehr den zu befriedigen im Stande ist, dem es vor Allem auf eine leichte und klare Orientierung im Nächstliegenden ankommt, und der seinerseits keine größere Höhe und Allgemeinheit beansprucht, als bis zu der nun eben angestiegen ist. Im Allgemeinen kann man sagen, daß an eine Ästhetik von Oben sich von vorn herein höhere Ansprüche stellen, indes die Ästhetik von Unten die niedrigeren, die an sie zu stellen, leichter befriedigt.

Soll nun überhaupt einmal eine Ästhetik von Oben zu Stande kommen, welche das recht leistet, was durch die bisherigen Versuche derselben vielmehr angestrebt als erreicht worden ist, so wird meines Erachtens zu den höchsten und letzten Prinzipien, von denen auszugehen, selbst erst mittelst vorsichtigen langsamen Aufsteigens nicht nur durch das ästhetische Gebiet, sondern alle Einzelgebiete menschlicher Erkenntnis unter Mitrücksicht. auf praktische Forderungen gelangt sein müssen. Von da wird sich dann allerdings wieder zu den einzelnen Erkenntniszweigen und durch sie hindurch absteigen lassen, wobei nicht nur jeder Erkenntniskreis von selbst in Abhängigkeit von höheren Gesichtspunkten treten wird, als die sind, zu welchen im bloß aufsteigenden Wege durch ihn allein hatte gelangt werden können; sondern auch sein Inhalt durch den Zusammenhang mit anderen Erkenntniszweigen noch in anderer Weise wird motiviert und erläutert erscheinen, als auf dem aufsteigenden Wege ins Licht treten kann. Eine solche Ästhetik aus höherem Gesichtspunkte bleibt aber eine Sache der Zukunft, und die bisherigen Versuche derselben sind vielmehr geeignet, die an sich gerechtfertigte Aufgabe derselben zu bezeichnen und präsent zu erhalten, als zu erfüllen.

Es wird also zwar in demselben Sinne eine philosophische Ästhetik höheren Stils über der empirischen geben können, wie es eine Naturphilosophie über der Physik und Physiologie geben kann, wenn schon noch nicht gibt. Aber wie die rechte Naturphilosophie, auf die zu hoffen, diese Lehren nicht wird ersetzen oder aus einem aprioristischen Grunde herausgebären können, vielmehr derselben zur Voraussetzung und Unterlage bedürfen wird, ohne sich selbst in ihre Spezialitäten zu verlieren, so steht es mit dem Verhältnis der philosophischen Ästhetik höheren Stils zur empirischen. Nun aber fehlt es leider noch gar zu sehr an der empirischen Unterlage; und so scheinen mir alle unsre Systeme philosophischer Ästhetik Riesen mit tönernen Füßen.

Man sieht hieraus wohl, daß ich eine Ästhetik von Unten selbst zu den wesentlichsten Vorbedingungen der Aufstellung einer Ästhetik von Oben rechne; und da ich, bei der bisher unzulänglichen Erfüllung dieser wie anderer Vorbedingungen dazu, den Weg von Oben eben so wenig klar, sicher und erfolgreich einzuschlagen vermöchte, als ich ihn bisher eingeschlagen finde, so werde ich vielmehr durch strenge Einhaltung und Verfolgung des Weges von Unten ein Scherflein zu dieser Erfüllung beizutragen suchen, womit ich zum Voraus alle wesentlichen Vorteile desselben in Anspruch nehme, ohne den, in dessen Wesen liegenden, Nachteilen entgehen zu können. Den bloßen Gefahren desselben zu entgehen, darauf soll wenigstens das Streben gerichtet sein.

Wohl kann man fragen, ob sich nicht die Vorzüge und Vorteile beider Wege dadurch vereinigen lassen, daß man den Gang von Unten mit Ideen von Oben beleuchtet oder nach Prinzipien von Oben richtet. Das klingt allerdings schön, und wirklich wird der Weg von Unten neuerdings mehrfach so begangen, oder der Weg von Oben selbst in diesem Sinne verstanden. Nun werden die allgemeinsten Formalprinzipien des Denkens und Forschens der Ästhetik von Unten wie von Oben mit allen Gebieten der Forschung gemein bleiben; im Übrigen aber möchte es auch hier mit der Ästhetik wie mit der Physik sein, die bisher noch durch jedes Licht, wodurch die Naturphilosophie sie zu klaren und zu führen versucht hat, verwirrt und geirrt worden ist. Wer Licht erst sucht, und der Weg von Unten ist ein Weg solchen Suchens, kann diesen Weg nicht mit schon fertigem Lichte beleuchten wollen.

Als wesentliche Aufgaben einer allgemeinen Ästhetik sind meines Erachtens überhaupt zu bezeichnen: Klarstellung der Begriffe, welchen sich die ästhetischen Tatsachen und Verhältnisse unterordnen, und Feststellung der Gesetze, welchen sie gehorchen, wovon die Kunstlehre die wichtigsten Anwendungen enthält. Die Behandlungsweisen der Ästhetik von Oben aber haben vorzugsweise nur die erste Aufgabe vor Augen gehabt, indem sie die Erklärung der ästhetischen Tatsachen aus Gesetzen durch eine solche aus Begriffen oder Ideen zu ersetzen statt zu ergänzen suchen.

In der Tat sieht man die meisten unserer Lehrbücher und allgemeinen Abhandlungen über Ästhetik an, — die meisten aber verfolgen den Weg von Oben, — so bilden Erörterungen und Streitigkeiten über die richtige Begriffsbestimmung der Schönheit, Erhabenheit, Häßlichkeit, des Angenehmen, Anmutigen, Komischen, Tragischen, Lächerlichen, des Humors, des Stils, der Manier, der Kunst, der Kunstschönheit und Naturschönheit, Unterordnungen des Einzelnen unter diese Begriffe, Einteilungen des gesamten ästhetischen Gebietes aus dem Gesichtspunkte derselben, den Hauptinhalt der Darstellung. Aber damit erschöpft man doch nicht die Aufgabe der Ästhetik. Denn bei Allem, was uns ästhetisch angeht, wird die Frage nicht bloß die sein: welchem Begriffe ordnet es sich unter, an welchen Platz stellt es sich im System unserer Begriffe — man hat das allerdings zu fragen, es gehört zur klaren Orientierung in unserem Erkenntnisgebiete; — aber die am meisten interessierende und wichtigste Frage wird doch immer die bleiben: warum gefällt oder mißfällt es, und wiefern hat es Recht zu gefallen oder zu mißfallen; und hierauf läßt sich nur mit Gesetzen des Gefallens und Mißfallens unter Zuziehung der Gesetze des Sollens antworten, wie sich auf die Frage: warum bewegt sich ein Körper so und so und wozu haben wir ihn zu bewegen, nicht mit dem Begriff und einer Einteilung der verschiedenen Bewegungsweisen, sondern nur mit Gesetzen der Bewegung und Betrachtung der Zwecke, worauf sie zu richten, antworten läßt. Und solange sich die begrifflichen Erklärungen der Ästhetik nicht mit einer Erklärung durch Gesetze erfüllt haben, bleiben sie ein hohler Rahmen.

Auch in der Weise der Begriffsbestimmungen selbst aber unterscheidet sich der Weg von Oben von dem hier einzuschlagenden Wege von Unten. In letzterem Wege kommt die begriffliche Bestimmung bloß darauf zurück, den Sprachgebrauch festzustellen, und, wo er schwankt, sich über Wahl und Weite desselben zu erklären, so daß man wisse, um was es sich bei der sachlichen Untersuchung handelt, ohne aber in der Begriffsbestimmung das Resultat solcher Untersuchung vorwegzunehmen oder in Wesensbestimmungen vorweg einzugehen, womit es leicht ist, Klarheit und Allgemeinverständlichkeit zu erzielen; indes der Weg von Oben die Wesensfrage gleich aus dem Begriffe und im Begriffe zu beantworten sucht, hiermit aber die Schwierigkeit einer klaren Feststellung der obersten Begriffe auf alle abgeleiteten Begriffe überträgt.

Unter den Deutschen hat die Bearbeitung der Ästhetik im Wege von Oben in Abhängigkeit von Kant, Schelling, Hegel weit das Übergewicht über die Bearbeitung von Unten erhalten und bis jetzt noch behalten. Mit den Einflüssen jener Philosophen aber fangen neuerdings mehr und mehr solche von Herbart, Schopenhauer, Hartmann an sich zu mischen; andrerseits aber doch auch die Ästhetik, sei es noch unter philosophischem Einflusse oder in mehr selbstständiger Richtung und Entwickelung auf den Weg von Unten mit einzulenken (Hartsen, Kirchmann, Köstlin, Lotze, Oersted, Zimmermann); und ist dies schon teils nicht in so reiner Durchführung, als ich bei voriger Charakteristik im Auge hatte, teils nur in beschränkter Ausführung geschehen, so kann man doch nicht mehr sagen, daß dieser Weg bei uns überhaupt verlassen sei. Dazu kommen dann noch schätzbare empirische Untersuchungen der Neuzeit in ästhetischen Spezialgebieten als von Brücke, Helmholtz, Oettingen u. a. [Fußnote]; endlich kunstkritische Betrachtungen in Fülle, die sich mehr oder weniger nach einer oder der andern Seite neigen, auf was Alles jedoch ausführlicher einzugehen hier nicht die Absicht, und nach historischen Hauptbeziehungen auf die Geschichtsdarstellungen der Ästhetik von Lotze und von Zimmermann zu verweisen ist.

[…]

XII. Physiognomische und instinktive Eindrücke.

Es kann vorkommen und kommt oft vor, daß wir uns von Personen gleich bei der ersten Begegnung angezogen oder abgestoßen finden, ehe sie noch das Geringste getan haben, was unsere Zuneigung verdiente oder unsere Abneigung rechtfertigen könnte, daß sie uns, wie man sich ausdrückt, sympathisch oder antipathisch sind, ohne daß wir uns Rechenschaft geben können, warum. Besonders Frauen sind stark in solchen so zu sagen aprioristischen Sympathien und Antipathien; ein Gesicht ist oft ein schlimmeres Verbrechen bei ihnen als eine Handlung. Inzwischen ist ihr Gefühl meist ein richtiges und leitet sie oft besser als uns der Verstand. Hartmann sagt: die Weisheit des Unbewußten tut’s. Nun ja, es fragt sich nur, woher es diese Weisheit hat. Ich meine, jedenfalls in der Hauptsache daher, daß alle Erfahrungen, die wir von Jugend auf über Güte, Liebe, Schlechtigkeit, Gemeinheit der Menschen in Verbindung mit ihrem Anblick und Behaben gemacht — unzählige aber sind’s, deren wir uns einzeln nicht mehr erinnern können — sich beim Anblick eines uns neuen Menschen in einem assoziativen Resultate geltend machen, was uns mehr oder weniger entschieden zu Gunsten oder Ungunsten der betreffenden Persönlichkeiten stimmen kann, je nachdem es mit einer mehr oder weniger entschiedenen Richtung unserer Neigung oder Abneigung zusammentrifft.

Man hat mir hiergegen eingewandt, daß gerade kleine Kinder, die doch noch wenig Erfahrungen an Menschen haben machen können, die bestimmteste Neigung oder Abneigung gegen Personen zu erkennen geben, die ihnen das erstemal nahen. Aber dieselbe Person, vor der sich ein Kind anfangs in den Schoß der Mutter verkroch, wird ihm oft nach wenig Stunden, fängt’s die Person nur recht an, die liebste. Ein paar Zwiebacke können viel tun, die angeborene Antipathie, was man dafür halten möchte, zu entwurzeln. Kleine Kinder folgen überhaupt wie ein beweglicher Wagebalken leicht dem kleinsten Eindrucke nach einer wie der anderen Richtung. Und dann, so wenig Erfahrungen an Menschen auch das Kind hat machen können, so bilden die, die es hat machen können, doch schon eine Grundlage für Assoziationen, die bei der Frische seines Geistes sich lebhaft einprägen und ihren Erfolg so lange gellend machen, bis derselbe durch entgegengesetzte Erfahrungen aufgehoben wird. Wer aber hat je ein Kind so genau beobachtet, daß er sagen könnte, welche Assoziationen zu Gunsten oder Ungunsten einer ihm neu entgegentretenden Person sich schon bei ihm geknüpft haben, welche noch bestehen und welche wieder zerfallen sind. Oft auch mag dem Kinde statt der Person nur das Kleid mißfallen. Auf kindische Sympathien und Antipathien ist also bei der Frage nichts zu geben.

Daß man sich der assoziativen Vermittelung der physiognomischen Eindrücke nicht leicht bewußt wird, ist freilich Schuld; daß man gern einen mystischen Grund dafür sucht. Es können, so meint man wohl, zwei Menschen wie zwei Saiten ihrer Grundeinrichtung nach harmonisch oder disharmonisch zu einander gestimmt sein, und schon im Eindrucke der Erscheinung etwas von dieser Harmonie oder Disharmonie empfinden, ohne daß es irgendwie früherer Erfahrungen zur Vermittelung davon bedarf. Ich will nicht sagen, daß das schlechthin unmöglich sei, wohl aber, daß es dem klaren Grunde gegenüber, der sich mit Vorigem angeben ließ, sehr zweifelhaft ist; und sollte etwas der Art statt finden, was ich wegen Ermangelung entscheidender Beweise für wie wider dahin stelle, so hebt es den vorigen Grund nicht auf, sondern kompliziert sich nur mit ihm.

Durch frühere Erfahrungen unvermittelte Eindrücke der Art würde man zu den instinktiven zu rechnen haben, und es führt das auf die allgemeinere Frage, welches Verhältnis überhaupt instinktive Eindrücke zu den assoziativen haben und wie weit sie solche vertreten können, worüber ich einige Betrachtungen anstellen will, die das ästhetische Interesse wenigstens mit berühren.

Die Instinkte der Tiere beweisen jedenfalls, daß manche psychisch-physische Einrichtungen, die der Mensch erst durch Übung oder Erfahrung erwerben muß, auch angeboren sein können. Ein Hühnchen, was eben erst aus dem Ei gekrochen, schnappte gleich nach einer Spinne, die neben dem Ei an einem Spinnfaden herabhing; woher wußte es, daß das ein Ding zum Fressen war? Die Biene sucht beim ersten Ausfluge Honig in den Blumen; was führt sie gleich zum rechten Versteck? Der Anblick der Spinne, der Blumen muß hier nach einer angeborenen Einrichtung ein ähnliches Spiel von Empfindungen und Trieben auslösen, als in uns der Anblick einer wohlschmeckenden Frucht nach früher gemachten Erfahrungen auslöst, wenn er uns gleich Lust macht danach zu greifen.

Man kann den Ursprung der instinktiven Einrichtungen darin suchen und dadurch mit den assioziativ erworbenen unter einen gemeinschaftlichen Gesichtspunkt zu bringen suchen, daß sie doch von den Voreltern der Geschöpfe, welchen sie zukommen, im Laufe des Lebens oder der Generationen erworben und nur durch Vererbung auf sie übergepflanzt wurden. Dies stimmt wesentlich mit der Darwinschen Lehre und findet seine Unterstützung darin, daß nachweislich manche Instinkte gezüchteter Tiere auf solche Weise entstanden sind, wie die Instinkte des Schäferhundes, Dachshundes und Hühnerhundes. Wogegen man freilich einwenden kann, daß, wenn die Bienen erst hätten lernen sollen, daß Honig in den Blumen zu finden, und die Spinnen lernen sollen, wie ein Netz zu spinnen, sie lange zuvor verhungert wären, da der Zufall und Kampf ums Dasein, welche den menschlichen Lehrmeister zu vertreten hätten, nicht gleich diesem die Tiere bis zur erlangten Fertigkeit auch füttern würden. Die fundamentalen Instinkte scheinen doch einen fundamentalem Grund zu haben, was nicht hindert, daß sie durch Erziehung nach gewissen Richtungen entwickelt und modifiziert werden. Also stelle ich mir lieber im Sinne einer Ansicht, die ich in meinen „Ideen zur Schöpfungsgeschichte“ entwickelt habe, vor, daß die, im irdischen Ursystem noch einheitlich zusammenhängende oder verschmolzene, Organisation von Biene und Blume sich bei der Auseinandersetzung (Differenzierung) dieses Systems in die besondern Reiche und deren Glieder so auseinanderlegte, daß beide noch durch gegenseitige Wirkungsbezüge im Sinne der Erhaltung des Ganzen und ihres eigenen lebendigen Fortbestandes verknüpft blieben. Häckelisch ist das freilich nicht.

Jedoch lassen wir immerhin die Entscheidung über diese Frage dahingestellt. Das Faktum instinktiver Einrichtungen bei Tieren bleibt jedenfalls bestehen, und selbst den Menschen fehlen solche nicht ganz; wohin gehört, daß das Kind die Mutterbrust, die es sieht oder an die es gelegt wird, als Gegenstand und Mittel der Befriedigung eines Triebes erkennt, überhaupt an jedem runden Gegenstande, der ihm in den Mund gesteckt wird, zu saugen anfängt, und daß zwar nicht unmittelbar angeboren, aber aus angeborener Anlage naturgemäß sich entwickelnd, später geschlechtliche Begierden beim Anblick oder der Berührung dessen, was sie befriedigen kann, erwachen.

Hiernach besteht die Aufgabe, außer dem direkten und assoziativen Faktor der von den Gegenständen auf uns gemachten Eindrücke auch einen instinktiven zu berücksichtigen, d. i. zu untersuchen, was etwa in diesen Eindrücken vielmehr durch eine angeborene als erworbene Einrichtung mit den direkten mitspielt, zwischen welchen und den instinktiven übrigens keine so strenge begriffliche Scheidung vorliegt, daß man nicht auch das Gefallen an der Symmetrie als Sache einer instinktiven Einrichtung erklären könnte.

Ein ästhetisches Interesse der Rücksichtsnahme auf instinktive Eindrücke macht sich insbesondere bei der Frage nach den Gründen der Menschenschönheit geltend. Hängt das Gefallen des Menschen an der menschlichen Gestalt wesentlich von einer angebornen, respektive aus angeborener Anlage von selbst sich entwickelnden, Einrichtung oder einer auf Assoziationswege im Verkehr mit Menschen erworbenen Einrichtung ab?

In dieser Beziehung scheint mir Folgendes zu erwägen.

Wenn schon allgemeingesprochen Instinkte von ganz bestimmter Richtung beim Menschen weniger vorkommen als bei Tieren, wird man ihm doch instinktiven Geschlechtstrieb und wohl auch Geselligkeitstrieb zugestehen müssen, und da alle Tiere ihres Gleichen geschlechtlich und viele auch gesellig suchen, in die dazu gehörige instinktive Einrichtung aber die Wirkung des Anblickes der Gestalt mit verrechnet ist, so mag Entsprechendes auch vom Menschen im Naturzustande gelten, und in der Tat das Gefallen des Menschen an der menschlichen Gestalt, als Moment des Zuges der Menschen zu einander, wesentlich mit ein instinktiver sein. Inzwischen sind alle rein instinktiven Eindrucke und Triebe bei Menschen wie bei Tieren doch nur sehr einfacher und niederer Art, und weit mehr bei Menschen als bei Tieren werden die Erfolge des Instinktes im Laufe des Lebens durch den Verkehr mit ihres Gleichen und den Außendingen modifiziert und in höhere Bahnen gelenkt; daher bei verschiedenen Völkern sich das Gefallen an sehr verschiedene Verhältnisse der menschlichen Gestalt knüpft, und bei den gebildeten Völkern der, nur auf Assoziationswege verständliche, Ausdruck des Charakters und der körperlichen und geistigen Begabung ein Gefallen aus höherem Gesichtspunkte bedingt.

Hieran knüpft sich eine Frage von einigem Interesse, die ich weder für entschieden halte, noch selber wage zu entscheiden, nämlich ob der Ausdruck der einfachsten Seelenbewegungen im Gesichte eines Menschen, der Freude, des Schmerzes, der Zuneigung, des Zornes seine Deutung Seitens Anderer nur assoziativ in Folge früherer Erfahrungen oder angebornerweise instinktiv findet. Um die erste Ansicht zu vertreten, würde man etwa so sprechen können.

Es ist kein Grund, weshalb dem Menschen das Lächeln des Mundes oder der zornige Blick anfangs mehr oder etwas Anderes vom geistigen Innern des Menschen verraten sollte, als diese oder jene Stellung der Beine und Hände. Versuche man es nur, ein Kind, das noch nie einen zornigen Blick mit Zorneshandlungen verknüpft gesehen hat, das erstemal zornig anzusehen, ob man es dadurch erschrecken kann. Das Kind muß eben so dressiert sein, diesen Blick zu verstehen, als der Jagdhund die Worte und Mienen seines Herrn. Diese Dressur macht sich aber beim Kinde von selbst. Indem es bei Handlungen von demselben Charakter der Freundlichkeit oder des Zornes immer dieselben Mienen wiederkehren sieht, während Stellungen der Arme und Beine beliebig wechseln, wird die Assoziation mit jenen konstant, während sie sich mit diesen von selbst wieder auflöst, indem entgegengesetzte Assoziationen sich zerstören. Sähe aber das Kind, daß die Mutter sich jedesmal etwa setzte oder aufstände, um es zu liebkosen, so würde dies ein eben so bezeichnender Zug der Freundlichkeit werden als die lächelnde Miene, wie wir denn aus diesem Grunde eine sanfte Vorneigung des Hauptes als ein Zeichen der Freundlichkeit haben ansehen lernen, wodurch sogar das Wort Zuneigung entstanden ist. So erhält allmälig jede Miene, jeder Zug, ja jede Bewegung eine physiognomische Bedeutung für uns. Stelle man endlich in dieser Beziehung das Experimentum crucis an, — Eltern freilich ist es nicht zuzumuten, — ein Kind von klein auf immer anzulächeln, während man es schlägt, und furchtbar anzublicken, während man ihm Nahrung reicht und es liebkost, so wird sich die Bedeutung der lächelnden und zornigen Miene für dasselbe geradezu verkehren; ja es wird, so lange es seine eigenen Mienen noch nicht im Spiegel mit denen von Anderen hat vergleichen können, glauben, selbst zu lächeln, wenn es zornig blickt, und zornig auszusehen, wenn es lächelt, weil es denselben Ausdruck der Empfindungen, der ihm immer von Anderen begegnet ist, dann auch mit seinen eigenen Empfindungen assoziieren wird; und freilich möchte es zum Verrücktwerden für dasselbe sein, wenn ihm endlich der Blick in den Spiegel den Widerspruch bewiese.

Möglich, daß es sich so verhält; aber hat denn jemand das Experimentum crucis wirklich angestellt; und selbst, wenn der Erfolg so ausfiele, wie hier vorausgesetzt wird, wäre nichts streng damit bewiesen, weil ja instinktive Triebe, warum nicht auch instinktive Eindrücke durch Dressur unterdrückt und überwogen werden können. Wahrscheinlich würde sogar das Kind, das Handlungen der Freundlichkeit Seitens Anderer immer von einem zornigen Blicke begleitet sähe, vermöge der den Kindern eingebornen Nachahmungssucht selbst endlich anfangen, solche Handlungen mit einem zornigen Blick zu begleiten , trotz eingebornen Triebes, das Gegenteil zu tun.

Experimente von bestimmterem Erfolge als an kleinen Kindern, die sich über ihre Eindrücke nicht äußern können und ihre Aufmerksamkeit nicht zu konzentrieren wissen, ließen sich vielleicht an Blindgebornen, die erst erwachsen operiert worden sind, anstellen. Werden diese den Ausdruck der Fröhlichkeit, des Schmerzes, der Liebe und des Zornes an einem Gesichte sofort unterscheiden können, nachdem die Starbrille sie in den Stand gesetzt, überhaupt etwas deutlich zu unterscheiden? Aber wahrscheinlich werden sie Anfangs überhaupt ein Gesicht als solches nicht erkennen, und auch hieraus nichts Sicheres zu schließen sein. Und gesetzt auch, das Kind hätte ein instinktives Wohlgefallen am freundlichen Gesichte, so könnte dieser Instinkt bei einem Erwachsenen, der überhaupt von Kindheit an nichts zu Gesicht bekommen, um so mehr verkümmert sein, als das Tastgefühl bei ihm die Rolle des Gesichtes übernommen. In der Tat sind blindgeborne Menschen nach der Operation so ganz desorientiert im Reiche des Sichtbaren, daß sie Anfangs die Augen schließen, um sich zurecht zu finden.

Nun legt allerdings der Umstand, daß jedenfalls eine angeborene Einrichtung besteht, unsere eigenen Gemütsbewegungen vielmehr durch diese als jene Mienen, Gebärden, Töne aktiv auszudrücken, den Gedanken nahe, daß ihr eine eben so angeborne Einrichtung entspreche, diesen Ausdruck auch Seitens Anderer zu verstehen, wenn es doch einmal instinktive Erkenntnisse gibt; ja was die Locktöne der Tiere betrifft, so ist hieran gar nicht zu zweifeln; nur fragt sich, wie weit dies zu verallgemeinern. Auch läßt sich eine Tatsache geltend machen, welche beweist, daß die instinktive Assoziierung des eigenen Seelenzustandes mit einem zugehörigen äußern Ausdruck immerhin etwas viel Sichreres und Bestimmteres ist, als die Erkenntnis eines fremden aus solchem. Man kann nämlich durch eigene Beobachtung finden; daß das Nachmachen der körperlichen Äußerung eines fremden Seelenzustandes diesen viel besser kennen lehrt als das bloße Sehen dieser Äußerung, indem sich ein Abklang des fremden Seelenzustandes dann in umgekehrter Richtung daran assoziiert; und obwohl diese Tatsache nicht allgemein bekannt ist, scheint sie doch allgemein gültig zu sein. So wenn ich hinter jemand hergehe, den ich nicht kenne, und seinen Gang und sein Behaben möglichst genau nachahme, wird mir dabei in seltsamer Weise ganz so zu Mute, wie ich meine, daß der Person selbst zu Mute sein müße; ja einem Frauenzimmer nachzutrippeln oder nachzuhuschen, versetzt so zu sagen in dessen weibliche Stimmung hinein.

Bei Burke (vom Sch. u. E. 216) lese ich Folgendes, was hierher gehört. „Spon erzählt uns in s. Recherches d’Antiquité eine hierher gehörige, sonderbare Geschichte, von dem berühmten Physiognomist Campanella. Dieser Mann hatte, allem Ansehen nach, nicht nur sehr genaue Beobachtungen über die menschlichen Gesichtszüge gemacht, sondern er besaß auch in einem hohen Grade die Kunst, die merklichsten nachzumachen. Wenn er Lust hatte, die Neigungen derer, mit welchen er umging, zu erforschen, so nahm er, so genau als er konnte, das Gesicht, die Gebärde, die ganze Stellung der Personen an, welche er untersuchte. Und dann gab er genau Acht, in was für eine Gemütsverfassung er durch diese Veränderung versetzt wurde. Auf diese Weise, sagt mein Schriftsteller, war er im Stande, so vollkommen in die Gesinnungen und Gedanken des Anderen einzudringen, als wenn er sich in die Person desselben verwandelt hätte. So viel habe ich oft selbst erfahren, daß, wenn ich die Mienen und Gebärden eines zornigen, sanftmütigen, kühnen oder furchtsamen Menschen nachmache, ich in mir einen ganz unwillkürlichen Hang zu der Leidenschaft finde, deren sichtbare Zeichen ich nachzuahmen suche.“

Wäre nun die Erkenntnis des fremden Seelenzustandes aus seiner körperlichen Äußerung Sache eines eben so entschiedenen Instinkts als die Äußerung selbst, so bedürfte es nicht erst der Nachahmung zur genauem Erkenntnis. Von anderer Seite ist nicht außer Acht zu lassen, daß es sich hierbei um komplizierte Seelenzustände handelt, womit nicht ausgeschlossen wäre, daß doch die Äußerungen der einfachsten Seelenbewegungen eben so sicher instinktiv verstanden als getan würden. Wir können aber die Fragen in dieser Hinsicht um so leichter unentschieden lassen, als sie in das Feld unserer ästhetischen Betrachtungen nicht eben tief eingreifen.

[…]

XIII. Vertretung des direkten Faktors ästhetischer Eindrücke gegenüber dem assoziativen.

[…]

3) Der direkte Faktor in den Künsten der Sichtbarkeit.

Wenden wir uns zu den Künsten der Sichtbarkeit, so haben wir einer Unterschätzung des direkten Faktors darin zu begegnen, welche sich auf Betrachtungen folgender Art zu stützen sucht.

Faktisch und zugestandenermaßen lassen sich Form- und Farbeverhältnisse nicht eben so wie die melodischen und harmonischen Beziehungen der Musik zu Werken von höherer ästhetischer Wirkung, welche den Namen schön im engeren und höheren Sinne verdienen zusammensetzen, wenn nicht ein Sinn, eine Bedeutung hinzutritt, die über die direkten Form- und Farbebeziehungen hinausgreift. Zwar können Gegenstände von geringer oder nebensächlicher ästhetischer Bedeutung, als wie ein Teppich, eine Zimmerwand, durch Farben- und Formverhältnisse ihrer Fläche, Kanten, Muster, direkte Wohlgefälligkeit erlangen, beweisen aber eben damit, daß sie zu keiner höhern und selbständigen ästhetischen Bedeutung erhoben werden können, wie gering und niedrig die ästhetische Leistung dieser Verhältnisse ist; auch sieht man selbst wohl an solchen Gegenständen gern Verzierungen in Pflanzen- und Tierformen angebracht, welche durch Erinnerung ihrer Bedeutung den Eindruck assoziativ mitbestimmen. In eigentlichen Kunstwerken endlich kann man der direkten Wohlgefälligkeit gegenüber der höheren, welche aus dem angeknüpften Sinne der Bedeutung erwächst, überhaupt keine Bedeutung mehr beilegen.

In der Tat, so wohlgefällig die Symmetrie im Kaleidoskop erscheinen mag, wird sie doch weder in einem Landschafts- noch historischen Bilde vertragen, weil sie zur Bedeutung der dargestellten Gegenstände nicht paßt; wogegen die größten Unregelmäßigkeiten, die uns abgesehen von ihrer Bedeutung nur gleichgültig oder gar mißfällig erscheinen könnten, in Kunstwerken durch die angeknüpfte Bedeutung Interesse erwecken und wohlgefällig werden können. Eben so bestimmt sich das Colorit des Bildes vielmehr durch die Forderungen der Bedeutung als die Regeln der Farbenharmonie; denn so gut auch Blau oder Grün zu Rot außerhalb eines Bildes stehen mag, kann man doch zum Rot der Wange das Gesicht nicht blau oder grün malen.

Am häufigsten ist von schönen reinen Verhältnissen eines Bauwerkes, schönen Formen und Verhältnissen einer Menschengestalt, überhaupt also in der unorganischen und organischen Baukunst die Rede, und nirgends häufiger als hier wird das Gefallen von Dimensions- und Formverhältnissen rücksichtslos auf angeknüpfte Bedeutung abhängig gemacht. Aber der Turm und Tempel fordern andere Verhältnisse als der Palast und das Wohnhaus; das Weib, das Kind andere als der Mann, der Erwachsene; Jupiter und Herkules andere als Apoll und Bacchus. Überall also müssen sich die Verhältnisse nach Bestimmung des Baumaterials, nach Geschlecht, Alter und Charakter der Individuen ändern, um als wohlgefällig oder schön zu gelten. Sie erscheinen überall nur wohlgefällig, insofern sie zur Bedeutung der Gegenstände passen, und schön, sofern sie passend in den Ausdruck höherer und ansprechender Ideen hineintreten, demselben dienen, nicht durch ihren eigenen Reiz, der vielmehr im höheren Reize aufgeht oder gegen denselben verschwindet, wie eben daraus zu entnehmen , daß sie überall aufhören zu gefallen, wo sie aufhören zu passen. Weil sie aber nie vollkommen passen, so treten sie auch nie vollkommen rein in Kunstwerken höhern Stils auf. So sieht man in vielen religiösen Bildern eine angenäherte symmetrische Komposition, nie eine vollkommene. Der Künstler hat daher überhaupt von der Rücksichtsnahme auf direkt wohlgefällige Verhältnisse zu abstrahieren, und nur darauf zu achten, daß die Form- und Farbeverhältnisse, die er anwendet, zu der gewollten Bedeutung passen und die Bedeutung selbst eine zusagende sei, gleichviel, ob die zur Darstellung derselben verwandten Verhältnisse an sich selbst wohlgefällig sind oder nicht.

Insofern man sich einen Begriff von der Bedeutung der Gegenstände macht, kann man auch sagen: nur insofern eine Form den Begriff dessen erfüllt, was sie darstellen soll, kommt sie ästhetisch in Betracht, und so sagt Bötticher in s. Tektonik der Hellenen: „Körperform, ganz abstrakt betrachtet, kann weder schön noch unschön sein. Das Kriterien von körperlicher Form gibt die Analogie mit dem Begriffe der Wesenheit, der Funktion des Körpers. Es ist jedesmal die Form, welche dem innern Begriffe desselben am folgerechtesten und innigsten entspricht, und seine Wesenheit in der äußern Erscheinung ethisch (geistig sittig) am wahrsten und schlagendsten darstellt, die schönste. Wenn daher von Ausbildung einer Form die Rede ist, so kann das nur so viel heißen, als: ihr Schema technisch plastisch vollkommen für ihren inliegenden Begriff entwickeln.“

So wenig nun die vorigen, von einem einseitigen Standpunkt aus geführten, Betrachtungen das Richtige scharf treffen oder erschöpfen, bleiben sie doch in so weit triftig, als sie der gegenteiligen Einseitigkeit widersprechen, indem es überall unmöglich bleiben wird, die Schönheit der sichtbaren Dinge allein oder nur aus höherem Gesichtspunkte durch Formen und Verhältnisse zu erklären, die rücksichtslos auf angeknüpfte Bedeutung gefallen; aber sie leiden an zwei Grundirrtümern, einmal daran, daß die nicht wegzuleugnende Wohlgefälligkeit niedern Charakters; welche manche Formen und Verhältnisse an sich haben, durch passenden Eintritt in höhere Beziehungen ihrer ästhetischen Wirkung nach verschwinde, da sich vielmehr diese Wirkung nach dem Hilfsprinzipe wechselseitig mit der höhern Wirkung steigert; zweitens, daß, weil an sich wohlgefällige Formen und Verhältnisse uns zu mißfallen anfangen, wenn sie zu einer Bedeutung, der sie entsprechen sollen, einer Idee, deren Darstellung sie dienen sollen, nicht passen, sie auch bei Einstimmung damit nur nach Maßgabe des Dienstes, den sie der Idee leisten, nur durch ihr Passen zum Sinne, zur Bedeutung etwas zum Gefallen beitragen können, da sie vielmehr dies Gefallen durch ihren eigenen Lustwert erhöhen, und zwar nach jenem Prinzipe mehr erhöhen, als man nach ihrer Leistung für sich zu schließen hätte.

In der Tat, wenn sich das ästhetische Hilfsprinzip in den Werken der Poesie, Musik wie auch Natur überall bewährt hat (Abschn. VI), warum sollte es bei Werken der bildenden Kunst und Architektur seine Triftigkeit und Gültigkeit versagen. Vielmehr wird man annehmen dürfen, daß auch im Gebiete dieser Künste Formen und Verhältnisse, die uns außerhalb der Kunst ein, wenn selbst nur niedres, geringes oder vergleichsweise zur Geltung kommendes, Wohlgefallen durch ihre eigentümliche Beschaffenheit erwecken, beim widerspruchslosen Eingehen in Zweck und Motiv der Kunst etwas Wirksames zur Schönheit ihrer Werke werden beizutragen im Stande sein, nicht bloß sofern sie dem Zwecke, Motive dienen, sondern auch, sofern Zweck, Motiv sich eben ihrer und keiner andern bedienen. Nur widersprechen dürfen sie dem Zwecke, dem Motive, der zur Geltung zu bringenden Bedeutung, dem Sinne um den sichs handelt, nicht, weil sie dann nicht als Bedingung, sondern als Hinderungsmittel der Lust auftreten, die an diesem Faktor hängt.

Bei näherem Zusehen findet sich nun allerdings, daß ein solcher Widerspruch in den Werken der bildenden Kunst leichter und häufiger eintritt, als in Werken der Poesie und vollends der Musik, welche überhaupt nicht wesentlich an Assoziationen gewiesen ist, daß daher nicht leicht eine so reine Durchbildung direkt wohlgefälliger Verhältnisse durch die Werke der bildenden Kunst möglich ist als des Versmaßes, des Reimes durch die Werke der Poesie, des Taktes und Wohllautes durch die der Musik; und hieraus folgt allerdings eine beschränktere Anwendbarkeit und beschränktere Wichtigkeit direkt wohlgefälliger Formen und Verhält-nisse in der bildenden Kunst als in Poesie und Musik, aber keine verschwindende, da noch unzählige Fälle übrig bleiben, wo statt. Widerspruches zwischen dem direkten und assozia-tiven Faktor der Wohlgefälligkeit sei es volle oder partielle Einstimmung zwischen beiden besteht, in deren Grenzen die Schönheit durch die Wohlgefälligkeit des ersten gesteigert werden kann; ja es gehört zu den Forderungen eines sog. guten Stiles (wenn schon er nicht allein darauf beruht), die direkt wohlgefälligem Formen und Verhältnisse den minder wohlge-fälligen vorzuziehen, so weil es sich mit der Angemessenheit zum Sinne verträgt; auch wenn die Angemessenheit zum Sinne dieselben nicht wesentlich fordert.

So sieht man in der sixtinischen und Holbeinschen Madonna, dem Leonardoschen Abend-mahle und unzahligen anderen Bildern der religiösen Kunst die Symmetrie in der Hauptanord-nung so weit durchgeführt, als es sich mit dem Sinne der Darstellung einer lebendigen Szene verträgt, ohne dadurch wesentlich gefordert zu sein, und man würde einen Nachlaß daran in einem beträchtlichen Verluste an Wohlgefälligkeit spüren. Und selbst in Landschaften und Genrebildern, wo eine so weit gehende Durchführung der Symmetrie dem Sinne widerspre-chen würde, achten doch die Maler auf eine gewisse Abwägung der Massen der Art, daß nicht der Hauptinhalt zu sehr auf eine Seite falle, ohne daß dies durch eine Rucksicht auf den Sinn an sich bedingt wäre.

Interessant war mir eine auffällige Verletzung dieser Regel in einer Grablegung von Tizian (in der Gallerie zu Verona), worin sämtliche Figuren sich zu einem Knäuel auf der linken Seite des Bildes (bez. des Beobachters) zusammengeballt finden, der sich nach der rechten, fast leeren Saite zuspitzt; dies macht einen sehr unangenehmen Eindruck.

Man kann einen gewissen Widerspruch darin finden, daß schon eine geringe Abweichung von der Symmetrie an einem Rechtecke uns mißfällt, während die Annäherung an eine symmetrische Anordnung in einem religiösen Bilde uns wohl gefällt, die doch im Grunde eine viel größere Abweichung von der Symmetrie als jene ans an dem Rechteck mißfällige ist. Aber es kommt hierbei in Betracht, daß wir beim nicht ganz symmetrischen Rechteck den Vergleich mit der vollen Symmetrie ziehen, bei dem nicht ganz symmetrischen religiösen Bilde vielmehr mit der ganz fehlenden Symmetrie der Bilder; wonach uns nur jenes als Abweichung von Symmetrie, dieses als Annäherung an Symmetrie, jenes ein Fehler, dieses ein Gewinn scheint, der freilich da zunichte wird, wo die Annäherung der Angemessenheit widerspricht.

Auch das Colorit wird bei guten Bildern keineswegs bloß durch die Angemessenheit zum Sinne bestimmt, sondern darauf gesehen, daß das Bild nicht im Ganzen unregelmäßig fleckig, scheckig, in grellen Kontrasten oder zu unscheinbar oder monoton in der Färbung gehalten sei, weil alles dies abgesehen von aller Bedeutung weniger gut gefällt, als eine gewisse Abstufung und Abwechselung der Töne ohne schroffe Übergänge, wenn schon starke Forderungen des Sinnes Ausnahmen hiervon bedingen können. Aus diesem Gesichtspunkte macht ein Gemälde schon von Weitem, noch ehe wir seinen Inhalt erkennen oder wenn wir von demselben abstrahieren, einen erfreulicheren Eindruck als das andere. Um diese Abstraktion zu erleichtern und ein Bild um so sichrer in Betreff seiner bloßen Farbenwirkung zu beurteilen, geben Manche die Regel, dasselbe in umgekehrter Lage zu betrachten. Trifft nun eine an sich gefällige Haltung des Colorits ganz mit den Forderungen des Sinnes zusammen, so entsteht als Erfolg des Hilfsprinzips ein Reiz des Colorits, der einem Bilde einen hohen ästhetischen Wert verleiht, von manchem Künstler aber freilich selbst auf Kosten der Forderungen des Sinnes angestrebt wird. Insofern die Verhältnisse der größern Farbenmassen für die totale Farbenwirkung von hauptsächlichstem Belange sind, werden namentlich die Farben der Gewänder, in denen eine gewisse Freiheit betreffs der Angemessenheit besteht, gern so gewählt, daß wohlgefällige Farbebeziehungen dabei herauskommen, die mit dem Sinne des Bildes nichts wesentlich zu schaffen haben.

Überhaupt kann man bemerken: erstens, daß Idee, Zweck, Bedeutung unbeschadet ihres wesentlichen oder Hauptgesichtspunktes meist einen erheblichen Spielraum in der Anwendung dieser oder jener Formen oder Verhältnisse lassen, welchen man mit Vorteil benutzen kann, die direkt wohlgefälligsten vorzuziehen, oder, was wesentlich auf dasselbe herauskommt, daß man die darzustellende Idee, den Zweck, die Bedeutung oft nach untergeordneten oder Nebenbestimmungen so modulieren kann, daß sie vielmehr zur Anwendung der wohlgefälligeren als ungefälligeren Verhältnisse Gelegenheit geben. Zweitens, daß, wenn schon Idee, Zweck, Bedeutung nach Hauptgesichtspunkten die höhere Forderung stellen, welcher die Rücksicht auf direkte Wohlgefälligkeit weichen muß, doch nach untergeordneten Bestimmungen nicht selten das Umgekehrte einzutreten hat, wenn ein wichtiger Vorteil direkter Wohlgefälligkeit durch einen geringen Nachtheil der Angemessenheit zum Sinne oder zur Wohlgefälligkeit des Sinnes erkauft werden kann. So muß in einem Gedichte selbst eine minder günstige Gedankenwendung vorgezogen werden wenn die günstigere sich dem Versmaße und Reime durchaus nicht fügen will, und läßt man in der Architektur die Symmetrie der Seitenteile eines Gebäudes auch dann gewöhnlich noch durchgreifen, wenn dieselben einer verschiedenen Bestimmung dienen was nach allgemeineren Kunstprinzipien vielmehr zu einem Ausdruck der inneren Verschiedenheit durch eine symbolisch oder teleologisch zugehörige äußere auffordert; ohne damit auszuschließen, daß es auch Gebäude geben darf, in denen die Symmetrie ganz gegen überwiegende assoziative Motive zurückgestellt wird.

Kann man hiernach dem Faktor direkter Wohlgefälligkeit selbst in den höhern Künsten der Sichtbarkeit seine wichtige Bedeutung nicht absprechen, so wächst doch dieselbe, wenn wir von Plastik und Malerei zur Architektur und von dieser zur Kunstindustrie oder den sog. technischen Künsten und der Ornamentik herabgehen; indem nach Maßgabe dieses Herabgehens einerseits der assoziative Faktor selbst an Bedeutung in Verhältnis zum direkten verliert, anderseits Konflikte des direkten mit dem assoziativen minder leicht eintreten. Namentlich gewinnt in diesen Kunstgebieten die anschaulich verknüpfte Mannigfaltigkeit eine erhöhte Wichtigkeit, wohin die Symmetrie, der goldne Schnitt, das regelmäßige Muster, die Wellenlinie, die Volute, der Mäander u. s. w. gehören, was Alles in den höhern Künsten der Sichtbarkeit leichter fehlen kann, und aus angegebenen Gründen meist fehlen muß, weil man darin für die anschauliche Verknüpfung die assoziative durch die Idee hat. Aber auch Glanz, Reinheit und Sättigung der Farbe, gefällige Farbenzusammenstellungen spielen in den niedrigem Künsten der Sichtbarkeit eine wichtigere Rolle als in den höhern, welche sich die niederen Vorteile nur versagen, um höhere dafür zu bieten.

[…]

XIV. Verschiedene Versuche, eine Grundform der Schönheit aufzustellen. Experimentale Ästhetik. Goldner Schnitt und Quadrat. 1) Versuche, eine Normal- oder Grundform der Schönheit aufzustellen.

Nach den, im vorigen Abschnitte angestellten, Betrachtungen gewinnt die Frage allgemeineres Interesse, welche Form- und Farbeverhältnisse überhaupt einen Vorzug der Wohlgefälligkeit vor anderen rücksichtslos auf Zweck und Bedeutung, kurz auf Assoziation, in Anspruch nehmen können, und an welchen Bedingungen der Vorzug hängt. Auch hat sich das Interesse dieser Frage, die hier bloß in Bezug auf die Form Verhältnisse verfolgt werden soll, schon hinreichend dadurch bewiesen, daß eine Untersuchung darüber von Vielen aus mehr oder weniger allgemeinen oder speziellen Gesichtspunkten angestellt worden ist, ohne freilich bisher zulänglich angegriffen worden zu sein und zulängliche Ergebnisse geliefert zu haben.

Vielmehr haben die bisher nach mehr oder weniger unzulänglichen Prinzipien und Methoden angestellten Untersuchungen zumeist nur zu einer einseitigen oder übertriebenen Bevorzugung gewisser Formen oder Formverhältnisse als allgemeiner Normalformen oder Normalverhältnisse der Wohlgefälligkeit oder Schönheit, wie des Kreises, des Quadrates, der Ellipse, der Wellenlinie, der einfachen rationalen Verhältnisse, des goldnen Schnittes geführt, denen sämtlich nur ein bedingungsweiser Vorzug oder ein Vorzug innerhalb gewisser Grenzen zuzugestehen ist, welchen es vielmehr gilt richtig abzuwägen, als ins Unbestimmte zu verallgemeinern. Vielfach aber hat man gemeint, mit solchen Formen die Schönheit sichtbarer Gegenstände so zu sagen abmachen zu können, ohne den viel wichtigeren Beitrag der Assoziation dazu sei es überhaupt oder in andern als nebensächlichen Betracht zu ziehen und bei der Untersuchung beide Faktoren recht zu scheiden, so daß, abgesehen etwa von Zeisings, wenn auch nicht einwurfsfreier, doch in gewisser Beziehung durch ihr Resultat wertvoller, Untersuchung alle jene Versuche im Grunde nur noch ein historisches Interesse haben.

Der Kreis namentlich hat seit Alters als die Linie der Vollkommenheit und hiermit Schönheit gegolten, wogegen Winkelman den Satz hat und zu begründen sucht „Die Linie der Schönheit ist elliptisch.“ — Hogarth hat die in einer Ebene sich windende Wellenlinie und im Raume sich windende Schlangenlinie als Linie der Schönheit und des Reizes aufgestellt, woneben er noch die auch bei Künstlern als Form der Gruppierung beliebte Pyramidalform bevorzugt. — Das Quadrat und überhaupt das Verhältnis 1 :1 ist neuerdings von Wolf in s. Beitr. z. Ästhetik der Baukunst als leichtest faßliches und hiermit ästhetisch vorteilhaftestes Dimensions- und Abteilungsverhältnis in Anspruch genommen worden, indes Andere, wie namentlich Heigelin (Lehrb. d. hohem Baukunst), Thiersch (Lehrb. d. Ästh.), Hay u. s. w. in dieser Hinsicht allgemeiner die einfachen rationalen Verhaltnisse überhaupt 1 :1, 1 :2 u. s. w., zum Teil mit Rücksicht darauf, daß diese Verhältnisse als Schwingungsverhältnisse in der Musik konsonieren, bevorzugen. Zeising macht das goldne Schnittverhältnis nicht nur als ästhetisches Normalverhältnis, sondern überhaupt als allgemeinstes Gestaltungsverhältnis der Natur und Kunst geltend, und sucht dasselbe insbesondre durch die Gliederung und Untergliederung des menschlichen Körpers wie der schönsten Architekturwerke durchzuführen. Noch einiger Ansichten, die nur der Kuriosität halber hier Erwähnung finden konnten (von Rober und Liharzek), ist in meiner Schrift „zur experimentalen Ästhetik“ gedacht.

Der Begriff des von Zeising und seit Zeising so viel besprochenen goldenen Schnittes beruht darin, daß die kleinere Dimension eines Gegenstandes sich zur grösseren, also z B bei einem Rechtecke die kleinere Seite zur größeren verhält, wie die grössere zur Summe beider, oder, wenn es sich am Abteilungen eines Gegenstandes handelt, daß die kleinere Abteilung zur größeren sich verhält, wie die größere zur Summe beider oder zum Ganzen. Die kleinere Dimension oder Abteilung, welche in das Verhältnis eingeht, wird von Zeising Minor, die größere Major genannt. Untersucht man nun, welches Verhältnis der Minor zum Major haben muß, um dieser Bedingung zu entsprechen, so findet man, daß es eigentlich ein irrazionales Verhältnis wie das des Kreisumfanges zum Durchmesser ist, welches aber in roher Annäherung in ganzen Zahlen schon durch 3 5, nahe zureichend für das Augenmaß durch 5 8, in weiter steigenden Annäherungen durch 8 13, durch 13 21 u s. w dargestellt werden kann, Annäherungen, die sich beliebig dadurch steigern lassen, daß man die größere Zahl jeder vorgängigen Annäherung mit der Summe beider in Verhältnis setzt, wodurch man zu 21 34 u. s. f, kommt. Der genaue mathematische Ausdruck des goldenen Schnittverhältnisses ergibt sich durch eine quadratische Gleichung gleich , wovon das obere Vorzeichen dem Verhältnis des Major zum Minor = 1,61803 . . ., das untere dem Verhältnis des Minor zum Major = 0,61803 … entspricht, womit die obigen Approximationen um so mehr übereinkommen, je höher sie steigen. Das goldne Schnittverhältnis hat eine ganze Reihe interessanter mathematischer Eigenschaften, deren Zusammenstellung gelegentlich in meiner Schrift: „Zur experimentalen Ästhetik“ gegeben ist.

Als Fehler, welche gemeinhin (wenn auch nicht jeder von Jedem) bei den Versuchen zur Aufstellung ästhetischer Normal Verhältnisse begangen worden sind, lassen sich folgende aufzählen, die sich leicht durch spezielle Beispiele belegen lassen würden. a) Man baut zu viel auf theoretische Voransichten, denen keine hinreichende Evidenz oder bindende Kraft zukommt, bevorzugt etwa das Prinzip der Einheit vor dem der Mannigfaltigkeit oder umgekehrt, meint, Verhältnisse, die als Schwingungsverhältnisse musikalisch am wohlgefälligsten erscheinen, auch ins Gebiet der Sichtbarkeit als solche übersetzen zu können, oder glaubt selbst, in höheren philosophischen Gesichtspunkten einen Anhalt finden zu können, b) Man unterscheidet bei der erfahrungsmäßigen Untersuchung das, was auf Rechnung assoziativer Wohlgefälligkeit kommt, nicht hinreichend von dem, was der direkten zuzuschreiben. c) Man legt partikulären Bedingungen direkter Wohlgefälligkeit eine zu allgemeine und ausschließliche Bedeutung bei. d) Man berücksichtigt in der Erfahrung vorzugsweise nur die mit der Voraussetzung zutreffenden Fälle, e) Man hält sich an zu komplizierte Beispiele, als namentlich den menschlichen Körper und Bauwerke, bei welchen nicht nur die Wohlgefälligkeit der daran vorkommenden Formen und Verhältnisse assoziativ und kombinatorisch mitbestimmt ist, sondern die auch in ihren mannigfachen Dimensionen und zum Teil sehr unbestimmten Abteilungen der Willkür mehr oder weniger Spielraum geben, was man als Hauptverhältnis ansehen und wie man das Maß anlegen will. f) Man versäumt, das Experiment unter einfachst möglichen Bedingungen anzustellen, wodurch allein die Schlüsse, die sich aus Beobachtungen ziehen lassen, zu einer sicheren Entscheidung geführt werden können.

In der Tat lassen sich mit Erfolg verschiedene Wege einer experimentalen Ästhetik zur Ermittelung gesetzlicher Verhältnisse in diesem Gebiete und zur Entscheidung hierher gehöriger Fragen einschlagen, worüber meine Schrift: „Zur experimentalen Ästhetik“ (Lpz. Hirzel), von der bisher erst der erste Teil erschienen ist, nähere Auskunft gibt. Hier würde ein näheres Eingehen darauf zu weit führen; doch gebe ich unter 3) wenigstens ein Beispiel der Anwendung einer der hierher gehörigen Methoden mit den daraus ziehbaren Resultaten, nachdem zuvor unter 2) einige Einwände berücksichtigt sind, welche sich gegen Untersuchungen in dieser Richtung überhaupt und gegen die Brauchbarkeit der damit zu erzielenden Resultate erheben lassen, denen zu begegnen sein möchte, um nicht dieses ganze Untersuchungsfeld von vorn herein bei Seite zu lassen.

[…]

XVIII. Vom Geschmack. Begriffliches.

Es ist mit dem Begriffe des Geschmackes wie mit allen unseren Allgemeinbegriffen; man kann sie nicht fest einschnüren, oder sie weichen nach allen Seiten über das Schnürband hinaus; in der Regel aber bleibt doch ein gemeinsamer Kern. Und so bleibt für den Begriff des Geschmackes der gemeinsame Kern, daß er eine Einrichtung der Seele auf unmittelbares Gefallen oder Mißfallen an dem und jenem ist, was nicht erst der Überlegung bedarf, um ausgelöst zu werden. Man sieht einen Gegenstand und ohne zu wissen und zu fragen warum, gefällt oder mißfällt er uns; das ist Geschmackssache. Und fragt doch jemand nach dem Warum, und weiß man nicht warum, so hält man es auch genug, zu sagen, es sei eben Geschmackssache.

Der Geschmack ist solchergestalt eine subjektive Ergänzung zu den objektiven Bedingungen des Gefallens und Mißfallens. Das Ding muß seine Eigenschaften haben, um gefallen oder mißfallen zu können; aber wenn der Mensch nicht die dazu passende Einrichtung hat, gefällt oder mißfällt es doch nicht; bei anderer Einrichtung kann dem Einen gefallen, was dem Andern mißfällt, und so sprechen wir von einem verschiedenen Geschmack, je nachdem Verschiedenen Verschiedenes gefällt oder mißfällt.

In sofern sich die Ästhetik mit Gegenständen und Verhältnissen unmittelbaren Gefallens und Mißfallens beschäftigt, und schön oder unschön im weitesten Sinne überhaupt heißt, was die Eigenschaft hat unmittelbar zu gefallen oder zu mißfallen, ist auch Geschmackslehre gleichbedeutend mit Ästhetik, ist der Geschmack ein Vermögen, von den Dingen so oder so angesprochen zu werden, und Sache des Geschmackes, etwas schön oder nicht schön zu finden. In sofern aber in einem engeren Sinne der Begriff des Ästhetischen und Schönen auf Gegenstände und Verhältnisse höheren Gefallens und Mißfallens beschränkt wird, pflegt man auch den Begriff des Geschmackes in einem entsprechend engeren Sinne auf solche zu beziehen, und z. B. das Gefallen oder Mißfallen an etwas Wohl- oder Übelschmeckendem, trotz dem, daß der Ausdruck Geschmack daher entlehnt ist, nicht als Sache des Geschmackes im engeren Sinne zu rechnen, nennt also einen Gutschmecker deshalb noch nicht einen Mann von gutem Geschmack. Doch lassen sich manche, auf den Geschmack im engeren und höheren Sinne bezügliche, Verhältnisse nur um so handgreiflicher am niederen erläutern.

In sehr weiter Fassung wird der Begriff des Geschmackes wie der des Schönen oder Unschönen nicht bloß auf Gefallen und Mißfallen an Verhältnissen der Außenwelt, sondern auch der Innenwelt bezogen, und sagt man also wohl: es ist nicht nach meinem Geschmacke, mich viel mit Sorgen zu plagen, erst lange zu überlegen u. s. w.; in engerem Sinne aber bezieht man doch Geschmack eben wie auch schön und unschön nur auf Gefallen und Mißfallen an Dingen und Verhältnissen, die von der Außenwelt her ihren Eindruck auf uns machen.

Insofern man Verstandes- und Gefühlsurteile danach unterscheidet, daß man sich bei ersteren der Gründe des Urteiles bewußt ist, bei letzteren nicht, gehören die Urteile nach dem Geschmacke, ob etwas schön oder unschön sei, eben so wie die nach dem Gewissen, ob etwas recht oder unrecht sei, zu den Gefühlsurteilen. Gründe zum Urteile muß es freilich überall geben; aber sie können in einer inneren Einrichtung liegen, deren Wirkung, aber nicht deren Entstehung und Wirkungsweise man sich bewußt wird. Nun kann eine öftere verstandesmäßige Überlegung der Ansprüche, welche die Dinge haben zu gefallen oder zu mißfallen, selbst etwas zu der Einrichtung beitragen, vermöge deren sie uns nachher auch ohne Überlegung gefallen und mißfallen; doch ist das nur eins der Bildungsmittel des Geschmackes, von welchen wir weiterhin zu sprechen haben werden. Wie er aber auch entstanden und gebildet sei, ist er anders gut gebildet, so ist er darum so außerordentlich schätzbar, daß er das Resultat von tausend guten Gründen, die der Verstand finden läßt, auch ohne Suchen nach diesen Gründen unmittelbar gibt.

Insofern der Geschmack uns unmittelbar sagt, was schön und unschön, das Gewissen, was recht und unrecht ist, hat der Geschmack eine ähnliche Bedeutung für die Ästhetik, als das Gewissen für die Moral. Ob sie überall das objektiv Rechte sagen, ist bei beiden noch die Frage, um die es sich aber hier zunächst, wo wir nur erst mit begrifflichen Bestimmungen zu tun haben, nicht handelt.

Bisher sprachen wir nur vom Geschmack in subjektiver Beziehung; man wendet aber den Begriff des Geschmacks auch auf Gegenstände zur Bezeichnung der Weise, wie sie den subjektiven Geschmack ansprechen, an, so wenn man von, einem bestimmten Geschmacke spricht, der in Bausachen, Möbeln, Kleidern herrscht.

Über Unterscheidungen, die man im Begriffe des Geschmackes machen kann, ist Folgendes zu sagen.

Die wichtigste Unterscheidung, welche zu machen, ist die zwischen einem guten und schlechten oder richtigen und unrichtigen Geschmack, je nachdem dem Menschen gefällt und mißfällt, was ihm beziehentlich gefallen und mißfallen soll oder das Gegenteil. Sofort erhebt sich die Frage nach dem Gesichtspunkte dieses Sollens. Hierauf werden wir unten kommen; zunächst kann man sich an dem geläufigen Begriffe des Sollens genügen lassen.

Weiter kann man einen feineren und gröberen, höheren und niedrigeren, einseitigeren und vielseitigeren Geschmack und verschiedene Richtungen des Geschmackes unterscheiden, je nachdem der Mensch befähigter ist, von feineren oder gröberen, höheren oder niedrigeren, wenigeren oder mehreren, so oder so beschaffenen Bestimmungen und Verhältnissen der Dinge ästhetisch affiziert zu werden.

Man kann nicht schlechthin sagen, daß ein feinerer und höherer Geschmack zugleich notwendig ein richtigerer oder besserer sei; denn so oft auch die Bedingungen davon zusammentreffen, ist es doch nicht unbedingt der Fall. So hat der Überbildete oft einen feineren und höheren, doch darum noch nicht einen richtigeren oder besseren Geschmack, worauf weiterhin zurückzukommen. Um so weniger ist ein vielseitiger Geschmack notwendig ein guter, da er vielmehr nach allen Seiten schlecht sein kann; indes ein zu grober, zu niedriger, zu einseitiger Geschmack freilich auch nicht gut ist.

Auch zwischen Feinheit und Höhe des Geschmackes findet keine notwendige Bedingtheit statt. Es ist an sich nur Sache eines feinen aber nicht hohen Geschmackes, wenn jemand sich der feinen Ausführung eines Bildes, der feinen Modulationen eines Tonstückes so wie der Beziehungen zwischen dem Feinen, die man selbst fein nennt, erfreut; aber dabei kann es recht wohl sein, daß die Empfänglichkeit über das Einzelne der feinen Beziehungen nicht hinausreicht, bis zu den höchsten und letzten Beziehungen, welche durch das Ganze gehen und das Ganze verknüpfen, nicht aufsteigt, daher trotz der Feinheit der Empfindung zu keiner großen Höhe gelangt; indes umgekehrt in der Empfänglichkeit für die Beziehungen großer Massen, wie solche z. B. in Kunstwerken sog. hohen Stils zur Geltung kommen, zu großer Höhe aufgestiegen, dafür aber an Feinheit der Empfindung im Einzelnen eingebüßt werden kann. Die Kunst kommt dieser Unterscheidung dadurch entgegen, daß Kunstwerke von feiner Ausführung im Allgemeinen nicht zugleich Werke hohen Stils und umgekehrt sind; und kann man auch nicht sagen, daß eine Vereinigung des Feinen und Hohen überhaupt unmöglich sei, so findet sie sich doch weder im Subjekt noch Objekt oft zusammen, und hat der Versuch ihrer Vereinigung sein Aber. Das gäbe Anlaß, ins Weite abzuschweifen; aber wir wollten zunächst nur vom Begriffe des Geschmackes sprechen.

Während Geschmack allgemein gesprochen gut oder schlecht, fein oder grob sein kann, legt man doch jemand Geschmack schlechthin vielmehr in erstem als letztem Sinne bei, meint also, wenn man von jemand sagt, er habe Geschmack, daß er einen verhältnismäßig richtigen und feinen habe, braucht also in diesem engeren Sinne Geschmack gleichgeltend mit Geschmack wie er sein soll.

Die Bedeutung der Beiwörter geschmackvoll, geschmacklos hängt mit dieser engem Bedeutung von Geschmack zusammen; dabei aber hat der Sprachgebrauch seine Launen. Man spricht von geschmacklosen Menschen als solchen, denen ein guter Geschmack fehlt, warum nicht auch von geschmackvollen als solchen, die ihn besitzen. Wir haben dafür überhaupt kein treffendes Beiwort; denn taktvoll bezieht sich mehr auf Benehmen als Empfinden.

Das Natur- und Kunstschöne ist vorzugsweise Gegenstand des höheren und feineren Geschmackes; doch wird Niemand eine Landschaft oder ein historisches Gemälde nach Hauptbeziehungen geschmackvoll oder geschmacklos nennen; wogegen Kleider, Möbeln, Dekorationen, ganze Toiletten oder Zimmereinrichtungen freigebigst mit jenen Beiwörtern bedacht werden. Auch die Aufstellung eines Gemäldes oder einer Statue, die man selbst wohl schön, aber nicht geschmackvoll nennen möchte, in einer passenden oder unpassenden Umgebung kann als geschmackvoll oder geschmacklos gelten; indes immer wahr bleibt, daß die Beurteilung des Gemäldes, der Statue als schön oder unschön nach dem unmittelbaren Eindrucke, den sie im Ganzen zu machen vermögen, Sache des Geschmackes bleibt. Die adjektivische Bedeutung in Bezug auf die Objekte des Gefallens und Mißfallens folgt also der substantivischen in Bezug auf die Subjekte nicht bis zu den Gegenständen höheren Gefallens hinauf.

Hätte sich die Sprache systematisch ausgebildet, so würden die Beiwörter überall besser mit dem Hauptworte stimmen; aber unsere Begriffe haben sich nicht so ausgebildet, und so konnte es auch nicht die Sprache.

Unter abgeschmackt versteht man den höchsten oder einen ganz offenkundigen Grad des Geschmacklosen, etwas, was von einem richtigen Geschmack ganz abfällt.

Streit des Geschmackes.

Es ist eine alte Rede, daß sich über den Geschmack nicht streiten läßt; indes streitet man doch darüber, ja über nichts mehr als über den Geschmack; es muß sich also doch darüber streiten lassen. Und nicht bloß Einzelne streiten darüber, auch Nationen und Zeiten, oder wenn sie nicht darüber streiten, weil sie zu entlegen von einander sind, streiten doch die Richtungen ihres Geschmackes unter einander, indem sie gewöhnlich eben so abweichend von einander, als die Nationen und Zeiten entlegen von einander sind. Aber auch die einander in Zeit und Raum, wissenschaftlichen und religiösen Ansichten nahe stehen, die besten Freunde sonst in allen Dingen, pflegen doch noch über den Geschmack zu streiten. Und die Ästhetiker und Kunstrichter, die den Streit zu entscheiden hätten, streiten am meisten darüber, indem sie auch über die Gesichtspunkte und Gründe der Entscheidung streiten.

Fassen wir nun vor Allem einige besonders auffällige Beispiele streitenden Geschmackes rein tatsächlich ins Auge, teils um eine Ansicht von der Größe der vorkommenden Geschmacksverschiedenheiten zu erwecken, teils Anknüpfungspunkte für spätere Erörterungen darin zu finden. Und zwar zuerst ein Beispiel aus dem Gebiete der Mode, einem Gebiete, welches zweifeln lassen könnte, daß der Geschmack sich überhaupt Regeln und Gesetzen fügt. Denn obwohl er sich selber in jeder neuen Mode eine neue Regel gibt, ist es doch nur, um der alten zu spotten und dem Spotte der späteren zu verfallen.

Wohl als das Geschmackloseste, was es gibt, erscheint uns jetzt eine Perücke und deren etwas spätere Vertreter, Puder, Zopf, Haarbeutel, die den Kopf selbst zu einer Art Perücke machten. Wie ganz anders aber stellte sich eine noch nicht zu lange vergangene Zeit dazu. Ich selbst habe noch alte Leute erzählen hören, welchen Eindruck der Armseligkeit, Unkultur, ja Rohheit ihnen früher ein Kopf ohne Frisur und Zopf gemacht habe. Ein Mensch ohne das sähe nach gar nichts aus. Hier in Leipzig war mein Schwiegervater, Ratsbaumeister Volkmann, der erste, der es wagte, bei einer feierlichen Gelegenheit, seiner Doktordisputation nämlich, ohne Zopf zu erscheinen, und sein, mit ihm befreundeter Opponent, der nachher berühmt gewordene Philolog, Gottfried Hermann, sekundierte ihm in diesem Wagnis, dem er sich schwerlich allein gewachsen gefühlt hätte. Auch hätte es ihn beinahe den Eintritt in den Rat gekostet; denn einen Vater der Stadt ohne Zopf denken, hieß fast sich den Lenker eines Schiffes ohne Steuer denken. Doch waren Frisur und Zopf im Grunde nur schwache Nachklänge und letzte Ausläufer der einst weit beherrschenden Perücke; durch diese und die zu ihr so zu sagen polare Schleppe aber wurden früher Eindrücke hervorgebracht, die uns fast bedauern lassen könnten dieser Stücke verlustig gegangen zu sein, von denen das eine die Würde des Menschen um eben so viel nach Oben erhöhte, als die andere nach Unten und rückwärts verlängerte. Wir sind damit um einen Quell erhabener Eindrücke ärmer geworden. In der Tat machte eine großartige Alongeperücke in vorigen Jahrhunderten fraglos einen erhabenem Eindruck als der kölnische Dom, der eben deshalb, weil die Perücke einen so großen machte, gar keinen machte, daher unvollendet blieb. Aber es ist auch kaum zu viel gesagt, daß sie früher einen größern machte, als der kölnische Dom jetzt macht. So erinnere ich mich gelesen zu haben, daß ein Kind, als sein Vater Besuch von einem Ratsherrn erhielt, der eine ungeheure Perücke trug, nachher mit scheuer Ehrerbietung fragte, das sei doch wohl der liebe Gott gewesen. Es konnte also das höchste Wesen nicht ohne die größte Perücke denken, und schloß nun umgekehrt von der größten Perücke auf das höchste Wesen. So hatte die Ehrfurcht vor der Perücke schon in den jüngsten Gemütern Wurzel gefaßt.

Auch war es mit diesen Dingen nicht etwa wie mit dem heutigen Frack, den man eben so allgemein theoretisch verwirft, als noch vor Kurzem faktisch in Gesellschaft trug, und selbst heute noch nicht ganz abzustreifen vermocht hat. Vielmehr galt der Geschmack an jenen Dingen für so maßgebend, daß ihn selbst Vertreter des Geschmacks vertraten. Lese man, was ein Künstler, der selbst eine Analyse der Schönheit geschrieben hat und solche jedenfalls nach dem Geschmacke seiner Zeit schrieb, Hogarth, darüber sagt [Fußnote].

„Die volle und lange Perücke hat, gleich der Mähne eines Löwen, etwas Edles in sich, und gibt dem Gesichte nicht nur ein ehrwürdiges sondern auch verständiges Ansehen . . . .“ und: „Die Richterröcke haben ein furchtbar ehrwürdiges Ansehen, welches ihnen die Größe dessen, was an ihnen ist, gibt, und wenn die Schleppe gehalten wird, so geht eine ansehnliche wellenförmige Linie bis zu der Hand seines Schleppenträgers. Und wenn die Schleppe sachte niedergelegt wird, so fällt sie gemeiniglich in viele mannigfaltige Falten, welches wiederum das Auge beschäftiget und dessen Aufmerksamkeit auf sich ziehet.“

Man sieht, Hogarth faßte Perücke und Schleppe aus einem wahrhaft idealen Gesichtspunkte auf. Auch trat die Perücke aus diesem Gesichtspunkte in die Kunst ein. Als der Frack noch in größerer Geltung war als jetzt, würde man sich doch selbst auf Familiengemälden; um so mehr in monumentaler Darstellung, gescheut haben, jemand im Frack darzustellen; man trug und trägt ihn noch so zu sagen in Widerspruch mit dem geltenden Geschmack. Hiergegen kann man behaupten, wie ich einer sachkundigen Darstellung entnehme, „daß es aus dem Zeitraum von den sechziger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts bis ziemlich tief in das folgende hinein in keinem öffentlichen und Familien-Gemälde und vor keinem Titelblatt eines Buches ein männliches Porträt gibt, das nicht eine Perücke trüge; der Mann müßte denn in der Schlafmütze dargestellt sein, was auch vorkommt;“ denn auch die Schlafmütze spielte damals als kompendiöser Auszug aus der Perücke eine ganz andere Rolle als jetzt.

Nun denke man sich aber einmal, ein vornehmer Herr mit Perücke oder Frisur, breitschößigem Frack, blumiger Schößenweste, kurzen Scharlachhosen, großen Schnallenschuhen, und an seiner Seite eine Dame mit hohem Kopfaufsatze, Schönpflästerchen im Gesichte, Schnürkorset, Reifrock, hohen Absätzen, sei eines schönen Tages im alten Athen oder Rom auf dem Markte durch die Menge schreitend erschienen; was würde es da für einen Eindruck gemacht haben? Man meint vielleicht, es würde ein unauslöschliches Gelächter entstanden sein. Das würde auf unserem Markte entstanden sein. Ich glaube vielmehr, es würde ein allgemeines Grausen entstanden sein, indem man etwa gemeint hätte, die Erscheinung zweier gespenstigen Götzen aus einer widervernünftigen Welt zu sehen, wie sie keine menschliche Phantasie, kein menschlicher Verstand ersinnen könnte. Doch mußten sich ehedem in dem für den Geschmack maßgebenden Frankreich sogar die griechischen und römischen Könige, Helden und Senatoren gefallen lassen, in nur etwas gemilderten Trachten dieser Art auf dem Theater aufzutreten. So sehr verlangte sie der Geschmack, daß nicht einmal das damals allgemein geltende Prinzip der Nachahmung der Natur durch die Kunst dagegen aufkommen konnte, man vielmehr nur die notwendige Idealisierung der Natur durch die Kunst darin sah.

Nun sind unstreitig Kleidungsstücke, Modesachen überhaupt, nur niedere Gegenstände des Geschmackes. Aber zur Zeit, wo die Menschen Zopf und Perücke trugen, trugen so zu sagen alle, selbst die höchsten Gegenstände des Geschmackes, Zopf oder Perücke, woher eben die Ausdrücke Zopf- oder Perückengeschmack, Zopf oder Perückenzeit. Und zur Zeit, wo das griechische Gewand und die römische Toga getragen wurden, stimmte auch Alles zu diesen Gewändern.

Hier haben wir also zwei Zeiten und Völker, die sich so zu sagen in Nichts, was den Geschmack anlangt, verstanden. Wie sich denn überhaupt Geschmacksverschiedenheiten niemals isoliert geltend machen, und alle Beispiele, die hier anzuführen, eigentlich einen größeren Zusammenhang von solchen zu vertreten haben. Wenden wir uns damit von der Mode zur Kunst, doch begnügen uns mit kürzeren Hinweisen auf dies unendliche Feld.

Soll ich von Beispielen aus der bildenden Kunst sprechen. Denke man z. B. daran, wie der Geschmack an der Antike in dem frühen Mittelalter ganz verloren war, sich erst in der Zeit der sog. Renaissance erneute, nach manchen Schwankungen, inmitten deren Bernini mehr als die Alten galt, in Winckelmann so zu sagen eine neue Wiedergeburt feierte, wie die Canovasche Weichlichkeit und Prätension einen neuen Sieg über die Alten feierte, und der von Winckelmann vergötterte Apoll sich jetzt gefallen lassen muß, in zweiten Rang gestellt zu werden.

Unser musikalischer Geschmack ist weder der Geschmack anderer Nationen, noch unser jetziger musikalischer Geschmack der Geschmack vergangener Zeiten, die Zukunftsmusik aber schon mit schmetternden Fanfaren da, den Sieg über den heutigen zu verkünden. Mag hier bloß folgende Stelle aus einem historischen Aufsatze über Musik Platz finden, die mich selbst, der ich kein Musikverständiger bin, besonders interessiert hat [Fußnote].

„Daß im Harmonischen Vieles, was für unsere Vorfahren überraschende Gegensätze bildete, uns im Gegenteil wenig überrascht, vielmehr trivial dünkt, ist nicht auffallend. Aber daß dem Ohr eines Zeitalters Harmonien-Verbindungen völlig falsch und unsinnig klingen, die dem Ohr einer anderen Zeit schön und natürlich geklungen haben, dies ist doch eine rätselhafte Tatsache. Schon die grellen und unvorbereiteten Dissonanzen, die wir jetzt häufig für sehr wirkungsreich halten, haben vor 100 Jahren für ohrzerreißend gegolten. Mehr noch. Die schauerlichen Quartenfolgen des Guido von Arezzo aus dem 11ten Jahrhundert widerstreben unserm Ohr so sehr, daß die äußerste Selbstüberwindung geübter Sänger dazu gehört, um solche Harmonie-Verbindungen nur überhaupt aus der Kehle zu bringen. Und doch müssen sie dem mittelalterlichen Ohre schön und naturgemäß geklungen haben! Sogar Hunde, welche moderne Terzen- und Sextengänge ruhig anhören, fangen jämmerlich zu heulen an, wenn man ihnen die barbarischen Quartengänge der Guidonischen Diaphonien auf der Geige vorspielt! Diese historisch-konstatierte Umstimmung des musikalischen Ohres ist in der Tat unbegreiflich.“

Hierzu zeigt der Verfasser, wie auch die Orchesterstimmung, das Tempo u. s. w. nach Ort und Zeit verändert worden sei.

Ohne mich weiter hierbei aufzuhalten, füge ich zu dem Beispiele aus der eigentlichen Musik ein solches aus der gefrorenen Musik, wie bekanntlich einer der Gebrüder Schlegel die Architektur nannte; ein Beispiel, was, wenn schon das vorige fast unglaublich erschien, noch unglaublicher erscheinen dürfte, indem sich unser architektonischer Geschmack darin geradezu auf den Kopf gestellt zeigt.

In unserer wie der antiken Baukunst gilt es als selbstverständlich, daß Säulen, Stützen nur Teile eines Gebäudes zu tragen, nicht aber, wie etwa die Beine den Leib eines Tieres, das ganze Gebäude sich aufzuladen haben, und als eben so selbstverständlich, daß sie sich vielmehr nach Oben als nach Unten verjüngen. In der Tat würde es uns als Sache eines völlig verkehrten Geschmackes erscheinen, ein Gebäude durch Säulen, Stützen ganz und gar über den Erdboden erhoben zu sehen, als scheute es sich das zu berühren, worauf es sich vielmehr ganz und gar zu gründen hat, und den dickern, mithin schwereren, Teil der Säulen, Stützen vielmehr nach Oben als nach Unten gekehrt zu sehen. Beide Absurditäten aber finden sich in der Baukunst Bencoolens auf der Insel Sumatra vereinigt, wie ich einer Reisebeschreibung entnehme. Hier nämlich ruht der Fußboden der Häuser nicht auf der Erde, sondern auf 8 Fuß hohen Stützen, so daß man unter dem Fußboden wie unter einer Decke weggehen kann, und diese Stützen sind sämtlich oben dicker als unten. Dabei gelten dieselben den Einwohnern nicht etwa bloß als Gegenstände des Nutzens, sondern wirklich des Geschmackes, wie daraus hervorgeht, daß sie dieselben sauber bearbeiten und ihren oberen Teil in ähnlicher Weise verzieren, als wir die Capitäler unserer Säulen verzieren. Ihr Auge und Schönheitssinn oder Geschmack hat sich auf diese Verhältnisse ihrer Bauwerke eben so eingerichtet, wie unser Geschmack auf die bei uns vorkommenden Verhältnisse; und wenn wir über ihre stelzfüßigen Häuser lachen, so werden ihnen dagegen unsere Häuser unstreitig vorkommen wie Geschöpfe, denen man die Beine abgeschnitten und die nun platt auf der Erde aufliegen.

Man fragt: wie erklärt sich eine solche Verirrung des Geschmackes? Sie wird sich nicht nur weiterhin (Pkt. 4,) erklären, sondern auch als keine Verirrung rechtfertigen lassen; und eben deshalb, weil sie so instruktiv ist, habe ich sie angeführt. Nun nur noch ein letztes Beispiel bezüglich der ästhetischen Auffassung der Natur.

Daß sich diese bei den Alten wesentlich anders stellte als bei uns, geht sehr einfach daraus hervor, daß sie bei ihrer übrigens so hoch entwickelten Kunst doch keine Landschaftsmalerei in demselben Sinne hatten als wir. Zwar wußte man lachende, blühende, wohl angebaute, an Abwechselung von Wald, Berg, Fluß reiche, Gegenden, insbesondere Strandgegenden von See und Meer, wohl zu schätzen, und baute sich vorzugsweise gern daran an, stellte sich aber noch in kein so sentimentales Verhältnis zur Natur, raffinierte noch nicht so in den Modulationen des ästhetischen Naturgenusses, machte noch keine Reisen in schöne Gegenden bloß um der Schönheit der Gegend willen. Der ästhetische Gesamteindruck der Landschaft stand, ohne rein sinnlich zu sein, dem sinnlichen unstreitig näher als bei uns, indes manche Einzelheiten der Natur, als namentlich Haine, Quellen, Flüsse, durch ihre mythologische Beziehung auch eine höhere ästhetische Bedeutung für die Alten gewonnen haben mochten als für uns.

Ganz besonders merkwürdig aber ist der Unterschied in der ästhetischen Auffassung erhabener und wild romantischer Gegenden zwischen dem Altertum und der Jetztzeit. Für solche Gegenden, darf man sagen, ging dem Altertum der Geschmack gänzlich ab; und wenn man jetzt scherzhaft von manchen Hunderassen sagt, sie seien um so schöner, je häßlicher sie sind, so würden die Alten ernsthaft von unseren Geschmack an derartigen Gegenden gesagt haben, sie dünken uns um so schöner, je häßlicher sie sind. Gegenden wie das Berner Oberland, das Chamounithal, die höheren Alpen überhaupt, gelten uns jetzt als Quell der erhabensten Reiseeindrücke, ziehen jährlich eine Unzahl Reisender an, und wohl nirgends hört man eine solche Verschwendung überschwenglicher Ausrufungen in allen Sprachidiomen als da, wobei der Berliner und Leipziger sich nur deshalb scheel ansehen, weil keiner den Dialekt des Andern erhaben genug für die Erhabenheit der Szene findet, und jeder die erhabene Einsamkeit allein genießen möchte. Das konnte man nun früher leicht haben, denn früher wurden solche Gegenden von allen Reisenden geflohen, die nicht genötigt waren, ihren Weg hindurch zu nehmen, und ließen selbst in der Erinnerung nur den Eindruck eines Schreckbildes zurück. Und merkwürdigerweise stimmte in dieser Hinsicht der Geschmack der alten Griechen und Römer mit dem Geschmack unserer Zopf- und Perückenzeit vollkommen zusammen, worüber es belehrend ist, die Ausführungen von Friedländer im zweiten Teile seiner Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms nachzulesen. Er führt Stellen aus älteren Reisebeschreibungen an, worin die Salzburger und Tiroler Alpen, die Schottischen Hochlande als aller Zier und Schönheit bare, mit den Märkischen Sandwüsten und der Lüneburger Heide unter dieselbe Kategorie und in demselben Satze zusammengestellt und den lieblichen lachenden Gegenden, an denen man sich allein zu erfreuen vermochte, gegenübergestellt waren. Ja wie wenig stilmäßig es noch im vorigen Jahrhundert war, sich um eine erhabene Alpennatur zu kümmern, beweist das Beispiel Klopstocks, des erhabenen Klopstock, der bei einem längern Aufenthalte in der Schweiz sie unbeachtet liegen ließ.

Unter denselben Gesichtspunkt traten bei den Alten Gegenden wie die Campagna um Rom, die jetzt so beliebte landschaftliche Motive liefert. Den Alten hätte sie in ihrem jetzigen Zustande außer dem Eindrucke einer landwirtschaftlichen auch den einer landschaftlichen Öde und Trostlosigkeit gemacht. Jetzt bedauern Künstler und Kunstfreunde schon im Voraus, daß nach der Besitzergreifung Roms durch die Piemontesen die Campagna der Kultivierung über kurz oder lang entgegengeht und damit jener landschaftlichen Reize verlustig gehen wird; die Alten würden in diesem Bedauern nur ein Zeichen unseres verwilderten Geschmackes haben erblicken können, und uns vorgeworfen haben, daß wir, so viel wir auch von ihnen gelernt, doch den Barbaren noch nicht ganz ausgezogen hätten und unsere rohe Natur sich noch in unserem rohen Naturgeschmack äußere.

Genug der Beispiele, die ich mit Fleiß aus allen Gebieten entnommen habe, wo sich überhaupt Geschmack geltend machen kann, dem Gebiete der Mode, der Kunst und Natur. Überall sehen wir die Verschiedenheiten des Geschmackes so weit gehend, daß es denen, die an dem einen Extrem stehen, schwer fallen muß, die Möglichkeit des anderen Extrems zu verstehen, ja fast daran zu glauben. Und welche Variationen des Geschmackes nun zwischen diesen Extremen. Es müßte von Interesse sein, wenn man Farben dazu hätte, diese unendliche Mannigfaltigkeit von Schattierungen des Geschmackes dem Auge auf einer Tafel im Zusammenhange darzustellen; nur möchte freilich dieses Gesamtgemälde des Geschmackes uns als das Geschmackloseste erscheinen, was es gibt.

Zu dieser großen Verschiedenartigkeit des Geschmackes kommt nun noch, um dies hier mit zu berühren, eine eben so große Unsicherheit des Geschmackes. Sehe man die Besucher eines Kunstmuseums oder einer Kunstausstellung an, finden sich nicht die meisten in großer Verlegenheit, ob ihnen dies und das gefallen soll oder nicht. Zwar in Bezug auf alle bekannte Meister und Bilder findet eine solche Unentschiedenheit nicht statt; jeder weiß, daß ihm Raphael, Michel Angelo, Tizian, Albrecht Dürer, die niederländischen Genrebilder gefallen müssen, von heutigen Malern über Alles Cornelius; weiß man aber erst, was gefallen soll, und dazu sind die Kenner da, es uns zu sagen, so fängt es auch alsbald an, uns wirklich zu gefallen, denn der meiste Geschmack ist wie der meiste Glaube ein eingepflanzter, oktroierter; wir kommen darauf unten. Und so sind die meisten Geschmacksurteile in Kunstsachen nur Nachurteile nach den Urteilen, oft Vorurteilen, weniger Kenner, von welchen größere oder kleinere Gesellschaftskreise beherrscht werden. Aber in Bezug auf Bilder von neuen oder unbekannten Meistern fehlt der Anhalt des Namens und leider hat man, wenn man ratlos vor dem neuen Bilde steht, nicht immer gerade einen Kenner vor sich oder hinter sich, dessen Urteil man belauschen könnte. Auch das Urteil der Kenner aber wird unsicher, wenn der Name unsicher wird. Wurde doch noch neuerlich an einem berühmten Bilde das Beispiel erlebt, daß, als sein Meister aus einem bekannten zu einem unbekannten wurde, der früher einstimmige Geschmack aller Kenner daran ganz in Verwirrung geriet, und manche von da an sich ganz von der Bewunderung des Bildes lossagten.

Woher nun, kann man fragen, diese große Verschiedenheit des Geschmackes einerseits und Unentschiedenheit anderseits, die sich in das Feld des Geschmackes teilen? Das Schöne soll doch eine absolute Geltung haben, warum macht es sie nicht geltend? es soll einen Zauber auf die Menschen üben; warum versagt so oft dieser Zauber? Und was entscheidet endlich den Streit des Geschmackes und hebt die Unsicherheit? Ist denn jeder Geschmack gleichwertig, und gibt es überhaupt keine maßgebenden Gesichtspunkte, einen besseren von einem schlech-teren zu unterscheiden? Das scheint man in der Tat damit sagen zu wollen, wenn man sagt: über den Geschmack läßt sich nicht streiten; man will damit sagen: der Streit läßt sich nicht entscheiden.

Was nun die Erklärung der Geschmackverschiedenheiten anlangt, so kann man sich dabei auf einen verschieden hohen Standpunkt stellen. Um den höchstmöglichen einzunehmen, kann man sagen: Die ganze Entwicklung des menschlichen Geistes steht unter dem Einflusse einer Idee, und zwar in höchster und letzter Instanz der göttlichen oder absoluten Idee, und alle Verschiedenheiten des Geschmacks sind bloß sich ergänzende und fordernde, einander ablösende und in einander aufhebende Momente, Glieder, Stufen, in welchen die höchste Geschmacksidee sich auswirkt, entfaltet, zur Erscheinung kommt, ohne sich in einer einzigen Erscheinungsweise erschöpfen zu können. Jede niedere Stufe aber hat sich in einer höheren, als deren Vorbedingung und Vorstufe sie anzusehen ist, aufzuheben, die Gesamtheit aller Stufen natürlich endlich in derjenigen, die sich in dem jeweiligen Vertreter der höchsten Idee als solche manifestiert hat. Da wir nun durch Schelling, Hegel und ihre Nachfolger von den Potenzen, Stufen, Selbstaufhebungen genau unterrichtet sind, welche die Idee durchzumachen hat, um sich zur höchsten zu erfüllen; so hat dieser Weg keine andere Schwierigkeit, als die Erfahrung in das dadurch vorgezeichnete Schema unterzubringen, und, wenn sie sich nicht unterbringen lassen will, das Schema aus philosophischer Machtvollkommenheit danach abzuändern. Damit ist dann aber auch eine absolute Einsicht in die Entstehung aller Geschmacksverschiedenheiten erzeugt. Wobei nur zu bedauern ist, daß diese Einsicht durch den etwas mystischen Charakter der absoluten Idee erschwert wird, daher immer nur das Eigentum einiger Philosophen bleiben wird, die der Idee und sich selbst eine gemeine Klarheit nicht zumuten.

Auf einen beträchtlich niedrigeren aber darum dem gemeinen Menschenverstande zugänglicheren Standpunkt stellt man sich, wenn man sagt: die Verschiedenheiten des Geschmackes hängen einerseits von der angeborenen Verschiedenheit der Menschennatur, anderseits der Verschiedenheit der Umstände, unter welchen die Menschen erwachsen, und der verschiedenen Weise, wie sie erzogen werden, ab, und hängen ihren allgemeinem Richtungen nach mit Verschiedenheiten der ganzen geistigen Kultur zusammen. Diese kann man dann in großen Zügen nach ihren durch ganze Völker und Zeiten greifenden Momenten pragmatisch verfolgen, und zeigen, wie sich die Entwickelung der einzelnen Geschmacksverschiedenheiten darein ein- und unterordnet. Immer noch eine hohe und schöne Aufgabe, hinsichtlich deren Ausführung auf die Kultur- und Kunstgeschichten zu verweisen ist.

Man kann nun aber endlich auch nach den letzten psychologischen Hebeln fragen, durch welche der Geschmack jedes Einzelnen seine Richtung empfängt, und welche bei den Geschmacksverschiedenheiten ganzer Zeilen und Völker nur in großem Maßstabe und Zusammenhange in Wirkung treten; und da man in den Kultur- und Kunstgeschichten sich nicht leicht bis zu ihrer Betrachtung herabläßt, so will ich, anstatt das zu wiederholen, was man da finden kann, weiterhin mit einigen Betrachtungen auf diese letzten Hebel eingehen.

Mit den subjektiven Ursachen der Geschmacksverschiedenheiten begegnet sich die objektive, daß die Gegenstände des Geschmackes im Allgemeinen der Auffassung verschiedene Seiten darbieten. Nun wird je nach Anlage, Lebensverhältnissen, Erziehung die Aufmerksamkeit des Einen mehr von dieser, des Andern von jener Seite angesprochen, und je nachdem es eine mehr wohlgefällige oder mißfällige ist, wird sein Gefallen oder Mißfallen am ganzen Gegenstande vorwiegend dadurch bestimmt. So achtet der Eine bei einem Bilde fast nur auf die Komposition, und das Bild gefällt ihm, wenn es hierin genügt, wie auch das Colorit beschaffen sei; bei einem Anderen wird umgekehrt das Gefallen hauptsächlich durch die Verhältnisse des Colorits bestimmt; der Eine achtet mehr auf die Beschaffenheit des Inhaltes, der Andere mehr auf die Form, in der er sich ausprägt, u. s. w. Kurz die Verschiedenheit des Geschmackes hängt zum Teil mit der Einseitigkeit desselben zusammen, sofern diese verschiedene Richtungen nehmen kann.

Was die Entscheidung zwischen dem streitenden Geschmack anlangt, so fragt sich vor Allem, wer soll Richter sein? Das Gefühl? Aber der Streit des Geschmackes ist eben ein Streit des Gefühls; kann also nicht durch das Gefühl entschieden werden. Der Verstand? Wohl, gelingt es ihm Kriterien anzugeben, nach denen etwas schön ist, so wird es einfach sein, den Geschmack zu rechtfertigen oder zu verwerfen, je nachdem er es auch schön oder nicht schön erscheinen läßt, d. h. unmittelbar gefallen oder nicht gefallen macht. Aber leider sind diese Kriterien zwischen den Ästhetikern so streitig, so schwankend, unbestimmt oder schweben in solcher philosophischen Höhe, daß man die Perücke und Schleppe so gut danach rechtfertigen kann als das griechische Gewand; man braucht bloß das Prinzip danach zu wählen und zu wenden. — Wir ziehen doch sonst in der Regel das Fließende, Geschwungene dem geradlinig Steifen ästhetisch vor; Hogarth hat sogar geradezu die Linie der Schönheit für wellenförmig, Winckelmann für elliptisch, Herder für schwebend zwischen Geradem und Krummem erklärt, und wie oft hört man heute noch eine Figur wegen des schönen Flusses ihrer Formen preisen. Die Perücke scheint wie gemacht, alle diese Forderungen in Eins zu erfüllen, und nehmen wir noch das Herbart-Zimmermann’sche Prinzip hinzu, wonach das Große neben dem Kleinen gefällt, so werden wir in der größten Perücke die vollendetste Schönheit zu sehen haben. Warum verwerfen wir nun doch die Perücke und ziehen sogar den steifen Hut trotz Allem, was wir daran auszusetzen finden, immer noch der halb welligen, halb elliptischen, in ihrem Lockenfall das Gerade und Krumme verschmelzenden, kurz den schönsten Fluß der Formen darbietenden Perücke vor. — Nach Manchen ist Schönheit die göttliche, im Irdischen sich aussprechende, sinnlich erscheinende Idee, und die Aufgabe der Kunst als Darstellerin des Schönen das Ideale. Aber Kröte und Spinne sind doch auch göttliche Geschöpfe, warum gefallen und sollen sie uns weniger gefallen als Lilie und Rose; und warum sollte die Perücke als grandioser Mantel um das Haupt weniger ideal sein als der bei idealen Darstellungen so viel mehr geschätzte Mantel um die Schultern. Ist doch die Perücke nur ein idealisiertes Haar. — Wieder nach Manchen ist das Schöne das, was aus einem freien Spiele der Phantasie hervorgeht und solches anzuregen vermag. Wer aber wird in Abrede stellen, daß sich ein viel freieres Spiel der Phantasie in den alten Frisuren, turmartigen und gartenartigen Kopfputzen als in unserer heutigen Haartracht zu äußern vermochte; und daß überhaupt die Tracht des Zeitalters Ludwigs XIV. und XV. in dieser Hinsicht der geschmackvollsten heutigen und vollends antiken Tracht weit voranstand, welche die Phantasie auf den ganz bestimmten Weg der Angemessenheit und Zweckmäßigkeit beschränkte. — Nach Manchen soll das Schöne die Idee und die Gesetze des Organischen nur in reinster Ausprägung darstellen, die Gestalt der Säulen, die ganzen Verhältnisse der Bauwerke, ihre über den dienstbaren Zweck übergreifende Schönheit nur der Erinnerung an die organischen Bauwerke verdanken. Nun ist es aber Gesetz aller höheren organischen Bauwerke, ganz auf einem säulenförmigen Unterbau zu ruhen, und alle organischen Tragsäulen sind oben dicker als unten; warum wollen wir es doch nicht bei den Bencoolen’schen Bauwerken gelten lassen. — Wir finden die Quinten- und Quartenfolgen des Hucbald und Guido von Arezzo und vollends die Musik der Neger und Chinesen abscheulich; aber können wir Verirrungen des Geschmacks darin sehen, da wir es vielmehr sind, die von ihrem durch die Natur selbst angebahnten Geschmacke erst später abgewichen sind. — Uns erscheinen die unfruchtbarsten Gletschergegenden als das Erhabenste, was es gibt, den Alten erschienen sie als das Ödeste, was es gibt. Aber da wir sonst Muster des Geschmacks in den Alten sehen, Winckelmann sogar einen Glaubensartikel daraus gemacht hat, was läßt uns hier eine Ausnahme davon machen. — Kurz kein Prinzip will recht Stich halten, weder das der an sich schönen Formen, noch der Idee, noch der Phantasie, noch der organischen Gestaltung, noch der Naturgemäßheit, noch des Glaubens an die absolute Vortrefflichkeit des antiken Geschmackes. Will man noch mehr Prinzipe, so ließe sich das der Vollkommenheit der sinnlichen Erscheinung, das des interesselosen Gefallens oder der Zweckmäßigkeit ohne Zweck, und wohl noch andere zur Sprache bringen; doch hat man mit Vorigem wohl schon mehr als genug.

Nun ist freilich die Weise, wie ich alle jene Prinzipe zur Sprache brachte, höchst oberflächlich; und konnte es nicht anders sein, weil ein schärferes und tieferes Eingehen auch ein weiteres Zurückgehen, als hier am Platze war, gefordert haben würde; und so kann es keinem Vertreter irgend eines dieser Prinzips schwer fallen, mich von dieser Oberflächlichkeit zu überführen, und sein Prinzip so zu wenden oder auszulegen, daß die Perücke, die Quarten- und Quintenfolgen, der Bencoolensche Baugeschmack, u. s. w. wirklich danach verwerflich erscheinen, und Alles, was im heutigen Geschmack und insbesondere Geschmack des Vertreters des betreffenden Prinzips ist, wirklich danach schön erscheint; nur daß es leider eben bloß auf eine geschickte Wendung und Auslegung ankommt, um den Geschmack irgend welcher Zeit danach zu rechtfertigen oder zu verwerfen, und die Wendung und Auslegung immer vielmehr nach dem vorhandenen Geschmack als umgekehrt sich richten wird. Wir haben das bei Hogarth gesehen und können es bei den Geschmacksrichtern aller Zeiten sehen.

Ich bin nun auch kein ästhetischer Heiland, diesen Zustand der Dinge zu heben; bin vielmehr selbst der Ansicht, daß sich überhaupt kein Prinzip aufstellen läßt, was uns in den Stand setzt, den Streit des Geschmacks in allen Fällen zu entscheiden aber doch eins, was den Gesichtspunkt, aus welchem der Streit zu führen ist, klar genug bezeichnet, und in nicht zu verwickelten Fällen wirklich, wenn auch nur mit mehr oder weniger Sicherheit, zur Entscheidung führt. Hierauf aber wird erst (Pkt. 4) einzugehen sein, nachdem wir die verschiedenen Bildungsmittel des Geschmackes, worin zugleich die Gründe seiner Verschiedenheit liegen, in Betracht gezogen haben.

Anlage, Bildung des Geschmacks.

Der Geschmack des Menschen ist seiner Anlage nach angeboren, seiner Ausbildung nach geworden, und die Weise dieses Werdens zwar durch die ursprüngliche Anlage mit bestimmt, aber keinesweges allein bestimmt. Kurz gesagt ist der Geschmack das Produkt der ursprünglichen Anlage und erziehender Einflüsse, und nach der Verschiedenheit beider fällt der Geschmack verschieden aus.

Nach angeborener Einrichtung werden alle Menschen in ziemlich übereinstimmender Weise von den einfachsten sinnlichen Anregungen und einfachsten Beziehungen des Sinnlichen affiziert. So ziemlich jedem Kinde behagt ein süßer Geschmack, jedem rohen Volke gefällt Rot unter allen Farben am besten, dem ungebildetsten Auge wird eine symmetrische Figur mehr gefallen als ein unregelmäßiges Gewirr von Zügen. Auf dieser gemeinsamen Grundlage aber findet der Geschmack schon angeborenerweise innere Bedingungen einer verschiedenen Feinheit, Höhe und Richtung der Entwickelung. Die Frau ist durchschnittlich auf einen feinern doch minder hohen Geschmack angelegt als der Mann, der Europäer auf einen feinern wie höhern als der Neger, der Franzose und Italiener auf eine andere Richtung des Geschmackes als der Deutsche und Engländer. Zwar sind auch die erziehenden Einflüsse nach Verschiedenheit des Geschlechtes, der Rasse und Nationalität im Allgemeinen verschieden, haben sich aber, insoweit die Völker sich selbst erziehen, zum Teil selbst erst aus einer verschiedenen angeborenen Anlage herausgebildet, indes in den Einflüssen der Naturumgebung Momente liegen, welche gemeinsam auf die Anlage und die Erziehung Einfluß gewinnen.

So wichtig die angeborene Anlage als Ausgang weiterer Entwicklung ist, so wird doch leicht zu viel darauf gegeben, indem der Geschmack wie das Gewissen gar leicht als etwas dem Menschen von vorn herein fertig Mitgegebenes oder vermittlungslos aus dem Unbewußtsein des Kindes heraus sich Entwickelndes, und ein guter Geschmack nur als eine besonders glückliche Mitgabe angesehen wird. In der Tat aber wird der Geschmack überall erst durch die Erziehung fertig und kann bei gleicher angeborener Anlage nach Verschiedenheit der erziehenden Einflüsse noch in Güte, Höhe, Feinheit, Richtung sehr verschieden ausfallen.

Die Erziehungsmittel des Geschmackes sind schwer unter einen allgemeinen Gesichtspunkt zu bringen, können aber, wie die des Menschen überhaupt, etwa unter folgenden Kategorien betrachtet werden, die sich zwar nicht überall, doch bis zu gewissen Grenzen, auseinanderhalten lassen:

1) Übertragung von Anderen.

2) Eigene Überlegung.

3) Gewöhnung und Abstumpfung.

4) Übung.

5) Assoziation.

Beschränken wir uns in Betrachtung derselben auf Hauptgesichtspunkte, indes die Psychologie tiefer, die Erziehungslehre, Kulturgeschichte, Ethnologie weiter darein einzugehen haben, als hier geschehen wird.

Erstens. Tatsache ist, daß das ausgesprochene Gefallen oder Mißfallen Anderer unser eigenes Gefallen und Mißfallen mit zu bestimmen oder selbst von vorn herein zu bestimmen vermag, um so leichter, je weniger wir schon von anderer Seite her bestimmt sind, und je bestimmendere Kraft dem Anderen auf uns beiwohnt. So geht der Geschmack von den Eltern auf die Kinder über, so lange bis deren eigenes Urteil erstarkt, so steht der Geschmack in Kunstschulen unter dem Einflusse der Lehrer und Genossen; und wenn ein Geschmack in gewisser Beziehung eine ganze Zeit, ein ganzes Volk beherrscht, so wird die Übertragung, mit der Gewöhnung immer den hauptsächlichsten Anteil daran haben.

Die Übertragung kann teils dadurch zu Stande kommen, daß Gründe des Gefallens oder Mißfallens von Anderen geltend gemacht werden, welche nur der Hervorhebung bedürfen, um ihren Erfolg zu haben, kurz durch Belehrung; teils dadurch, daß das Gefallen oder Mißfallen Anderer durch seine Äußerung selbst sich in uns überpflanzt, indem es eine Art geistige Ansteckung bewirkt, welcher die passive oder noch indifferente Natur am leichtesten, namentlich Seitens derer unterliegt, denen sie sonst gewohnt ist, sich unterzuordnen. Der psychologische Grund dieser Übertragung mag noch der Erklärung und Klärung bedürfen; als faktisch ist sie jedenfalls anzuerkennen. Man kann meinen, daß ein ursprünglich eingeborener Nachahmungstrieb sich von Handlungen auf Gefühle erstrecke, und demgemäß die Lust und Unlust, welche Andere beim Anblick von dem und jenem äußern, unsere eigene Lust und Unlust beim Anblick desselben hervorlocke, oder auch in Rücksicht ziehen, ohne daß ich darin den einzigen Grund sehen möchte, daß, wenn man erst weiß, was gefallen soll, und darin hält man sich an die, welche man für klüger hält, so lange man sich selbst nicht klug genug findet, das Gefallen sich leicht aus keinem anderen Grunde einfindet, als daß überhaupt, was sein soll, uns gefällt. Jeder schätzt einen guten Geschmack als einen Vorzug, den er haben sollte, und so erweckt auch das Streben, sich diesen Vorzug anzueignen, eine unwillkürliche Stimmung in dieser Richtung. Übrigens steht einem jeden frei, den Wunsch nach einer gründlicheren Aufklärung zu erfüllen.

Zweitens. Nicht minder als fremde Belehrung kann wiederholte eigene Überlegung uns die wohlgefällige oder mißfällige Bedeutung von Dingen geläufig genug machen, um fortan unmittelbar Gefallen oder Mißfallen daran zu finden. Statt von Anderen darauf eingerichtet zu werden, können wir uns selbst darauf einrichten. So sehen wir den Geschmack des Kunstkenners und philosophischen Ästhetikers häufig vielmehr von ihren Kunstprinzipien aus als umgekehrt bestimmt.

Drittens. Vermöge der sog. Gewöhnung kann der Mensch das, was ihm anfangs mißfiel, nach dauernder oder oft wiederholter Einwirkung sich wie man sagt gefallen lassen oder gar positives Gefallen daran finden, und was ihm anfangs gefiel, ohne daß er es doch zum Wohlbefinden brauchte, endlich dazu fordern und brauchen, aber auch selbst den Wegfall des an sich Gleichgültigen nach eingetretener Gewöhnung daran mit Unlust spüren. Es ist das eine Art innerer Anpassung des Organismus an einen Reiz, die durch die Wirkung des Reizes selbst allmälig hervorgerufen wird.

Es komplizieren sich aber die Gesetze der Gewöhnung mit denen der Abstumpfung, Übersättigung, Überreizung und kommen zum Teil damit in Konflikt. Nach Maßgabe als ein Eindruck stärker ist und öfter wiederkehrt, stumpft sich seine Wirkung ab, und jeder Reiz kann so weit gesteigert und so oft wiederholt werden, daß die Grenzen, innerhalb deren eine Anpassung an ihn in obigem Sinne bestehen kann, überschritten werden. Daher ist die Gewöhnung an Lustreize doch im Allgemeinen nicht mit Steigerung ihrer Lustwirkung verbunden, und gibt sich mehr durch die Unlust bei ihrem Wegfall als die Lust bei ihrer Einwirkung auf das abgestumpfte Gefühl zu erkennen; daher hängt man in gewisser Weise an Gewohnheiten und möchte doch auch wieder aus den Grenzen des Gewohnten heraus neu angeregt sein; daher kann durch zu starke und oft wiederholte Eindrücke auch Überdruß, Übersättigung, Überreizung, Lähmung entstehen. Hieraus gehen sehr mannigfaltige Verhältnisse hervor, die zu verfolgen weit führen würde; es konnte aber hier genügen, an die allgemeinsten Gesichtspunkte, denen sie sich unterordnen, erinnert zu haben.

Nun greifen durch jede Zeit, jedes Land, jeden Stand, jedes Geschlecht und Alter andere Umstände, Verhältnisse dauernd oder in bestimmter Wiederholung durch; und geben dadurch auch zu anderen Richtungen der Gewöhnung und hiermit anderen Bestimmungen des Geschmackes, so weit er von der Gewöhnung abhängt, Anlaß.

Viertens. Daß von den einfachsten sinnlichen Reizen alle Menschen angeborenerweise, wenn nicht in ganz gleicher, doch ziemlich gleicher Weise angesprochen werden, ist oben erinnert worden. Nach Maßgabe aber als der Reiz niederer und gröberer Eindrücke durch wiederholte Beschäftigung damit sich abstumpft, tritt bei Denen, die überhaupt für feinere und höhere Eindrücke empfänglich sind, auch das Bedürfnis einer Beschäftigung mit solchen ein, so daß allmälig immer feinere Bestimmungen und höhere Beziehungen einen Eindruck zu machen anfangen, die anfangs keinen machten, indes zugleich der ästhetische Eindruck der gröberen Bestimmungen und niederen Beziehungen zurücktritt.

So tritt schon für den Weinkenner allmälig der plumpe Geschmack an Spiritus und Süßigkeit zurück und wird er dafür um so empfänglicher für die feineren Bestimmungen des Geschmackes; der Gourmand macht sich nichts mehr aus den Klößen, die unseren öffentlichen Speiseanstalten einen verdoppelten Zudrang verschaffen, und weiß dafür um so besser die richtige Mischung eines Klößchens zu würdigen. So wurde Rumohr ein Richter des kulinarischen Geschmacks. Was aber hier für den sinnlichen Geschmack gilt, gilt ganz entsprechend für den Geschmack in höheren Gebieten. Dadurch hauptsächlich unterscheidet sich der Geschmack des höher Gebildeten und gebildeter Zeiten und Völker vom Geschmack des Kindes, des Bauern, der rohen Zeit und Nation. Das Gefallen am grellen Kontrast, am grellen Rot, am buntgemalten Bilderbogen, der bunten Puppe tritt mit wachsender Bildung zurück, und feinere und höhere Beziehungen, die den unentwickelten Geschmack gar nicht berühren, fangen an, den Haupteindruck zu bestimmen. Endlich verlangt der Gebildete von jedem Werke, das ihm gefallen soll, daß sich alle Beziehungen desselben in einer höchsten Beziehung, einer Idee verknüpfen, die das Kind, der Wilde gar nicht aufzufassen vermag.

Wie in der bildenden Kunst, so in der Musik. Dem Ohre der rohesten Völker gefällt am besten die rauschendste, im einfachsten Wechsel sich bewegende Musik, die ihren Sinn am stärksten affiziert; dem Kinde, das vom Jahrmarkt kommt, gefällt das Geschmetter seiner kleinen Trompete besser, als eine Beethovensche Sonate; aber auch den Musikverständigen vergangener Zeiten gefielen noch einfachere melodische und harmonische, das Wohlgefallen so zu sagen auf dem Teller präsentierende, Gänge besser als solche, welche ein höheres Wohlgefallen aus weiter sich verzweigenden und damit höher sich steigernden Beziehungen und der Auflösung entschiedener Disharmonien schöpfen lassen. Nach Maßgabe aber, als diese zu gefallen anfangen, hören jene einfachen Tongänge auf zu befriedigen, erscheinen unbedeutend, langweilig, beschäftigen nicht mehr und gefallen darum nicht mehr. Wenn früher Oktaven-, Quinten-, Quartenfolgen wohlgefällig erschienen, Terzen- und Sextenfolgen vermieden wurden, so läßt sich das wohl daraus erklären, daß Oktaven, Quinten, Quarten die einfachst möglichen, an sich faßlichsten Tonverhältnisse sind, welche für sich am meisten konsonieren. So lange man nun noch nicht so geübt in Auffassung musikalischer Beziehungen war, als jetzt, brachte auch die Vervielfältigung des wohlgefälligen Eindruckes der einzelnen Konsonanz eine Steigerung des Effekts hervor, welche noch nicht so wie jetzt durch ein Mißfallen an der monotonen Wiederkehr derselben überwogen wurde. Kurz die Wiederholung des Wohlgefälligen überwog noch das Mißfällige der Wiederholung.

Fünftens. Nach Verschiedenheit der Umstände, unter denen die Menschen leben, und der verschiedenen Zeiten, in denen sie leben, assoziiert die Erfahrung für sie Verschiedenes an Dasselbe, oder Dasselbe an Verschiedenes, wodurch den Einen etwas unter wohlgefälligen, den Andern unter mißfälligen Beziehungen erscheinen kann. Gewöhnung und Übung gehen damit meist Hand in Hand oder nehmen ihren Ausgang davon.

Die Mode gibt hierzu die augenfälligsten Belege. Rufen wir uns das Beispiel der Perücke zurück. Wie kam doch der Geschmack vergangener Zeilen daran zu Stande? Der Eindruck, den sie durch ihre bloße Form und Farbe macht, will so viel als gar nichts sagen, und wie hätte man sich daran gewöhnen sollen, ohne einen Anlaß zur Gewöhnung. Man sagt: die Perücke wurde erfunden, um die Kahlköpfigkeit eines Königs zu decken. Hätte statt eines Königs ein Bauer seinen Kahlkopf damit bedeckt, nimmer würde sie Mode geworden sein; nun aber assoziierte sich an die Perücke etwas Königliches; und sei es auch, daß die Umgebung des Königs anfangs bloß aus Schmeichelei ihn nachahmte, so fing doch von da an sich der Eindruck der Vornehmheit, der Würde, des Reichtums ihrer Träger an ihren Anblick zu knüpfen und vom Kreise der Hofleute aus immer weiter darüber hinaus zu strahlen. Anfangs hatten die Perücken nur die bescheidene Größe, die ihnen ihr erster Zweck verlieh, und wuchsen dann als äußeres Zeichen für Größe, Würde, wie ein Keim, wenn er einmal eine gewisse Richtung genommen hat, dann bis zu gewissen Grenzen immer weiter wächst; damit wuchs zugleich ihr ästhetischer Eindruck. Und wir sahen daß dieser Eindruck sich beim Kinde sogar bis zum Eindruck des Göttlichen steigerte. An sich hat doch die Perücke nichts Göttliches; sie konnte diesen Eindruck nur der Assoziation verdanken. Hiernach trugen Gewöhnung und Übertragung bei, ihr denselben zu sichern, aber hätten ihn ohne Assoziation von vorn herein nicht hervorrufen können. Und so kann man vielleicht überhaupt sagen, daß die meisten Wandlungen des Geschmacks schließlich von Ursachen abhängen, die gar nicht in das Gebiet des Geschmackes gehören, durch Vermittelung der Assoziation aber in dasselbe eintreten und sich durch Gewöhnung und Übertragung festigen und fortpflanzen.

In ähnlicher Weise hat sich hei den Chinesen der Eindruck der Vornehmheit, des Reichtums, der Würde ihrer Träger an die Klumpfüße ihrer Damen, die dicken Bäuche und langen Nägel ihrer Mandarinen geknüpft. Dem Chinesen ist diese Assoziation so geläufig geworden, daß er die Ehrerbietung, die er Vornehmen zollt, zum Teil nach der Dicke ihres Bauches abmißt und sogar seine Götzen mit einem dicken Bauche bildet; kurz der dicke Bauch ist ihm eine Idealform geworden, in deren Anschauen ihn ein Gefühl von Macht und Größe, ja wohl, wenn der Bauch irdische Grenzen überschreitet, ein Gefühl von göttlicher Erhabenheit überkommt. Die Schlankheit des Apoll von Belvedere würde ihm nur Dürftigkeit erscheinen; ganz unwillkürlich würde sie ihm die Vorstellung erwecken, er sehe jemand von niederer Klasse vor sich, der nicht Reichtum, Macht und Rang genug habe, um sich gemächlich zur Ruhe zu setzen und seines Bauches zu pflegen; er würde nur etwa einen Menschen darin finden können, der eifrig seinem Erwerbe nachläuft, weil der Chinese selbst aus anderen Gründen nicht zu laufen pflegt.

So sehr der Geschmack des Einzelnen im Allgemeinen durch Übertragung vom herrschenden Geschmack beeinflußt wird, kommt es doch oft genug vor, daß Solche, die dem Kunstleben ferner stehen, durch davon abseits liegende Anlässe der Assoziation, denen sie im Leben unterliegen, mit dem herrschenden Kunstgeschmack in vollen Wiederspruch treten. Mag uns in folgender Einschaltung die Dresdener sixtinische Madonna, dieses schönste Bild der Welt, ein paar Beispiele dazu liefern.

Ein Militär äußerte nach einem Besuche der Dresdener Gallerie, ihm habe die Madonna doch nur den Eindruck einer besoffenen Bauermagd gemacht. Natürlich, er hatte bisher nur Bauermägde barfuß und in bloßem Kopfe gehen sehen, und wahrscheinlich den Ausdruck eines Erhabenseins über das Irdische nur als Folge des Besoffenseins gesehen. — Vor demselben Bilde wurde der, durch populär-medizinische Schriften bekannte, Dr. B. gefragt, wie ihm das Bild scheine. Das Kind fixierend sagte er: „Erweiterte Pupillen! hat Würmer, muß Pillen nehmen.“ Seine Lebensgewohnheit ließ ihn eben in dem Christkinde nur ein wurmkrankes Kind sehen. — Einen anderen mir bekannten Arzt hörte ich von den beiden Engeln am unteren Rahmenrande sagen: wenn seine Kinder sich so flegelhaft auflehnten, so würde er sie mit den Armen auf den Tisch aufstoßen; und eine kleine Engländerin äußerte von denselben Engeln, sie müßten wohl keine governess gehabt haben.

Prinzipien des guten oder richtigen Geschmacks.

Unstreitig lassen sich für die Entstehung jedes Geschmackes Erklärungsgründe unter den vorigen Kategorien finden, natürlich aber reicht es nicht hin, seine Entstehung erklärt zu haben, um ihn damit auch gerechtfertigt zu haben, wenn wir nicht alles Entstandene und hiermit jeden Geschmack für zu Recht bestehend erklären wollen; denn alles Entstandene hat Gründe der Entstehung. Und was ist es nun endlich, was uns den einen Geschmack billigen, den andern verwerfen lassen, überhaupt einen besseren von einem schlechteren unterscheiden lassen kann?

Im Grunde ist der Gesichtspunkt davon sehr einfach, fast selbstverständlich; nur die Anwendung meist zu schwierig. Der Maßstab der Güte eines Geschmackes ist eben nur der allgemeine Maßstab der Güte, d. h. es handelt sich dabei nicht bloß darum, ob etwas unmittelbar gefällt oder mißfällt, Lust oder Unlust in der Gegenwart gibt, das ist die Tatsache des Geschmackes, sondern ob es gut ist, daß es gefällt oder mißfällt, d. h. ob das Wohl, das Glück, im höhern Sinne das Heil der Menschheit im Ganzen vielmehr durch solche Weise des Gefallens oder Mißfallens gewinnt als verliert, denn danach beurteilt sich die Güte, der Wert der Dinge. Nun trägt freilich zum gegenwärtigen Wohlbefinden jedes Gefallen überhaupt bei, und hat das bei Beurteilung des Geschmackes mit zu wiegen, weil die Gegenwart mit den Folgen zugleich im Maße der Güte zu wiegen hat; aber wie oft wird die gegenwärtige oder selbstische Lust von nachteiligen Folgen im Ganzen überwogen oder tritt in schlimmem Zusammenhange auf; also gilt es bei Beurteilung des Geschmackes auch auf die Folgen und Zusammenhänge seines Daseins und seiner Bildung Rücksicht zu nehmen, kurz gesagt, überall zu fragen, ob etwas Gutes bei dem und jenem Geschmack herauskommt.

Wer stumpf gegen Lustquellen, die in der Natur und Kunst liegen, bleibt, oder von dem, was mehr Lust zu geben vermag, doch weniger Lust empfängt, bringt bei Gleichsetzung der Folgen und Zusammenhänge eine Lustlücke oder einen Lustverlust in die Welt. Das ist ein Fehler seines Geschmackes. Aber das kehrt sich bei Rücksicht auf die Folgen und Zusammenhänge oft um. Was dem Menschen gefällt, sucht er zu besitzen, zu erzeugen, nachzuschauen, und wie er gesinnt ist, sucht er Andere gesinnt zu machen. Das Gefallen an manchen Dingen ist überhaupt nur mit einer wertvolleren gedeihlicheren Einrichtung, Bildung, Stimmung des Geistes möglich, als mit anderen, und kann zu einer wertvolleren oder minder wertvollen Einrichtung der Außenwelt führen. Was überhaupt der Verstand durch Überlegung als das Zweckmäßigste, das Beste im Ganzen erkennt, soll dem Gefühl unmittelbar so erscheinen und demgemäße Antriebe und Stimmungen wecken.

Sei es nun ein Gegenstand der Mode, Kunst oder Natur, er wird sich immer aus dem Gesichtspunkte betrachten lassen, ob das Gefallen daran in vorigen Beziehungen gut oder nicht gut ist, und, insofern wir uns darüber zu entscheiden vermögen, wird sich der Geschmack danach billigen oder verwerfen, der eine Geschmack dem anderen vorziehen oder nachsetzen lassen.

In unzähligen Fällen nun werden wir eine solche Abwägung zu schwierig finden, um ein entscheidendes Resultat zu geben. Dann leistet uns das Prinzip nichts weiter, als daß es uns weise genug macht, uns des Urteiles zu bescheiden. Und diese Weisheit und Bescheidenheit ist in unser Gefühl selbst übergegangen, wenn es so oft nicht wagt sich zu entscheiden, wir nicht sagen können, ob uns etwas gefällt oder nicht gefällt, indes wir doch wissen oder fühlen, daß es ein Gegenstand des Gefallens oder Mißfallens ist. Aber in manchen Fällen ist doch auch das Urteil nach dem Maßprinzipe der Güte leicht, wenigstens mit relativer Sicherheit, zu fällen, und jedenfalls ist jede Abwägung danach vorzunehmen, jeder Streit auf dieser Grundlage zu führen, falls man streiten will.

Wenn den Chinesen an ihren Damen verkrüppelte Füße, an ihren Würdenträgern und Götzen dicke Bäuche gefallen, so möchte man immerhin in Zweifel sein, ob dieser Geschmack nicht unmittelbar eben so lustgebend für sie als für uns der gegenteilige ist; doch wird ihr Geschmack schlechter als unserer und überhaupt schlecht zu nennen sein, weil ein Geschmack, der am Ungesunden, Nachteiligen Wohlgefallen finden läßt, die Vorstellung der Würde und Erhabenheit an sinnliche Fülle und Schwere knüpfen läßt, zu keinen guten Folgen führt und mit keinem guten Sinne zusammenhängt. Um so mehr sind alle unsittlichen Darstellungen von schlechtem Geschmack. Sie mögen dem und jenem gefallen, ja unmittelbar so viel Lust gewähren, als dem Sittlichen sittlichere Darstellungen; aber es ist nicht gut, daß sie ihm gefallen, und eben darum nennen wir seinen Geschmack einen schlechten. Der Mensch soll seinen Geschmack nicht so bilden, daß daraus Nachteile für die gesunde und zweckmäßige Führung seines Lebens und vollends für die Moralität daraus hervorgehen, und er kann ihn so bilden, daß es nicht der Fall ist. Und nicht nur ist jeder Geschmack zu verwerfen, der eine solche Schuld auf sich ladet, sondern auch jeder, der nur durch eine solche Schuld möglich wird, weil es nicht der Fall sein kann, ohne daß er sie verstärkt.

Mit allem Unsittlichen, Ungesunden ist alles Unpassende, Unechte, innerlich Unwahre vom guten Geschmacke zu verwerfen, und zwar aus dem doppelten Gesichtspunkte, daß es nicht gut für den Geist ist, Gefallen am Widerspruchsvollen der Art zu finden, und nicht gut für die Welt, sich Solches gefallen zu lassen; denn über Kurz oder Lang, wenn nicht im einzelnen Fälle aber in der allgemeinen Ordnung der sittlichen und intellektuellen Welt setzt sich die Unwahrheit, der innere Widerspruch in Nachteile für das innere oder äußere Wohl des Menschen um.

In allen solchen Fällen erscheint die Entscheidung über den Vorzug des Geschmackes leicht; so leicht aber ist sie nicht immer. Sollte ich z. B. entscheiden, ob die Perücke oder unser heutiger steifer Hut, ob der Zopf am Kopfe im vorigen Jahrhundert oder die zwei Zöpfe am Frack des jetzigen Jahrhunderts geschmackvoller oder geschmackloser waren, so würde ich es nicht wagen. Um wie viel zusammengesetzter und schwieriger abzuwägende Rücksichten aber kommen im Allgemeinen in Frage, wenn es gilt, in höheren Gebieten des Geschmackes zu entscheiden, welche Weise des Empfindens die wertvollste im Ganzen ist. Nicht, daß uns das Prinzip in diesen höheren Gebieten überhaupt im Stiche lasse, wir werden noch viel Maßgebendes daraus schöpfen können; aber ein Hauptvorteil des Prinzips wird doch immer der sein, uns Bescheidenheit des Urteiles zu lehren.

Überhaupt in allen den unzähligen Fällen, wo sich Konflikte zwischen verschiedenen ästhetischen Rücksichten geltend machen, wird es zwar leicht und einfach sein, extreme Einseitigkeiten und eine Bevorzugung sichtlich untergeordneter Rücksichten vor übergeordneten als wider den guten Geschmack zu verwerfen; aber es wird nicht nur unmöglich sein, den Punkt der besten Abwägung dazwischen genau festzustellen, sondern auch nötig, eine gewisse Breite oder Freiheit darin als noch mit einem guten Geschmacke verträglich zuzulassen, ohne die Grenzen dieser Freiheit genau bestimmen zu können. Hierüber wird stets Streit ohne sichere Entscheidung möglich, und Vorsicht, sein subjektives Gefühl nicht für allgemein maßgebend zu halten, nützlich sein.

Eine solche Vorsicht aber wird zur ästhetischen Pflicht durch die Betrachtung, einerseits, daß eines Jeden Geschmack sich doch nur unter bestimmten zeitlichen und örtlichen Verhältnissen hat bilden können, und nach deren Besonderheit besondern Übertragungsverhältnissen unterlegen hat, andererseits daß auch zu verschiedenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen wirklich Verschiedenes paßt, und hiernach Verschiedenes im Sinne eines richtigen Geschmackes sein kann. Lassen wir ein früher angeführtes Beispiel in diesem Sinne sprechen.

So wunderlich und absurd uns der Bencoolensche Baugeschmack erscheinen mag, so läßt sich doch seine Entstehung nach dem Assoziationsprinzip eben sowohl erklären, als nach unserem Prinzip der Beurteilung des Geschmackes durch seine Güte rechtfertigen, und zwar ist in diesem Falle mit der Erklärung die Rechtfertigung fast von selbst gegeben.

Die Weise, wie man in Bencoolen baut, ist nämlich, wie sofort zu zeigen, für die Verhältnisse Bencoolens die zweckmäßigste, hiermit beste. Das Gefühl für diese Zweckmäßigkeit hat sich bei den Einwohnern Bencoolens an den Anblick ihrer Bauwerke assoziiert, durch Gewöhnung und Übertragung befestigt, und trägt damit eben so viel bei, sie ihnen schön erscheinen zu lassen, als bei uns die Zweckmäßigkeit durch Assoziation dazu beiträgt. Wollten sie so bauen, wie wir, so wäre das eben so absurd, und ihr Geschmack, der sich darauf eingerichtet hat, eben so absurd zu nennen, als wenn wir bauen wollten, wie sie. Jeder Geschmack muß sich darauf einrichten, das, was zu Zwecken bestimmt ist, auch nur wohlgefällig finden zu lassen, wenn es solche erfüllt.

Was zuerst die Erhebung der Häuser über den Erdboden anbelangt, so wird sie in Bencoolen durch mehr Zweckmotive gerechtfertigt, als wir für die meisten Einrichtungen unserer Häuser aufweisen können. Zuvörderst bringt für das heiße Klima Bencoolens diese Einrichtung den Vorteil hervor, daß man, wenn man unter den Häusern fortgeht, sich stets im Schatten befindet, was in anderen Städten heißer Klimata mit größerer Unbequemlichkeit für den Verkehr durch eine große Enge der Straßen erzielt werden muß. Da ferner die meisten Wohnorte des Landes an Flüssen oder Seen liegen, welche öfters austreten, so werden die Häuser durch ihre Erhebung gegen die Nachteile von Überschwemmungen geschützt. Endlich sind sie dadurch auch um so gesicherter gegen die Anfälle wilder Tiere, von denen namentlich die Tiger dort so häufig sein sollen, daß, wie ich mich erinnere gelesen zu haben, man es in Bencoolen fast für das natürliche Lebensende ansieht, von einem Tiger gefressen zu werden. Was uns also als abgeschmackter Einfall mißfallen müßte, wenn es bei uns ausgeführt würde, weil es keinem Zweck entspräche, mithin keine lustvolle Assoziation begründete, und selbst in Bencoolen noch mißfallen muß, wenn wir nicht in Bencoolen erzogen sind, wird für die Einwohner Bencoolens selbst eine ganz andere Bedeutung erhalten. Ihnen sind die Häuser zugleich Sonnenschirme, wozu die Stützen die Stecken bilden, und nicht bloß Wohnorte auf der Erde, sondern zugleich Zufluchtsorte, wodurch sie über Unheil, was sie von der Erde aus bedroht, hinweggehoben werden; und was beiträgt, diese Zwecke am Hause zu erfüllen, trägt auch bei, sie mit Wohlgefallen daran zu erfüllen und hat Recht dazu beizutragen.

Eben so wie die Erhebung der Häuser durch Stützen hat sich aber auch die Form der letzteren ganz einfach als die selbst einfachste Weise, natürliche Zweck Verhältnisse zu erfüllen, ergeben, und die griechische Säule ist in dieser Beziehung nicht gerechtfertigter als die Bencoolensche Stütze. In Bencoolen sind Erdbeben sehr häufig, der Steinbau daher überhaupt unmöglich; die Häuser sind leichte Holzhäuser; und es handelte sich also, um es kurz zu bezeichnen, bei den dortigen Bauten nicht darum, schwere Massen auf die Erde zu gründen, sondern leichte Massen in die Erde festzustecken, etwa wie man einen leichten Gegenstand an einem feststehenden mit Nadeln feststeckt, damit er durch die Erschütterung nicht abgeworfen werde. Die Nadeln werden nun hier durch Pfähle vertreten, die man in die Erde einrammt; Pfähle aber können ihrer Natur nach nur unten dünner als oben sein.

Was wir nun hier bei Beurteilung des Bencoolenschen Baugeschmacks getan, sollten wir eigentlich überall tun, wo es ein Urteil über den Geschmack fremder Zeiten und Nationen gilt, uns in die Verhältnisse von Zeit und Ort versetzen, und zusehen, ob der Geschmack, der für unsere Verhältnisse nicht gerechtfertigt. erscheinen mag, es nicht doch für die Verhältnisse der anderen Zeit, des anderen Ortes ist.

Es kann aber ein Geschmack, der für bestehende Verhältnisse gerechtfertigt ist, insofern als er das diesen Verhältnissen Angemessenste fordert, doch höhern Geschmacksforderungen insofern widersprechen, als diese Verhältnisse selbst nicht gerechtfertigt sind, und ein oft schwer zu entscheidender Konflikt statt finden, wiefern die näheren und hierdurch dringenderen oder die höheren allgemeineren Forderungen des Geschmackes zu befriedigen sind.

Jedenfalls bleibt über allen, nach Zeit, Ort und besonderen Umständen wechselnden, Forderungen die oberste Forderung des guten Geschmackes in Kraft, nichts zuzulassen, was den allgemeinsten Prinzipien des menschlichen Gedeihens widerspricht, hiermit nichts, was der körperlichen und geistigen Gesundheit, der Religiosität, Sittlichkeit, logischen Widerspruchslosigkeit widerspricht. Und hiernach kann es der Fall sein, daß der Geschmack ganzer Zeiten oder Nationen nach dieser oder jener Hinsicht für schlecht zu erklären ist; und die Allgemeinheit eines Geschmackes in einer Zeit oder Nation verbürgt noch nicht seine Güte.

Man kann dies z. B. vom Geschmacke der Orientalen am Bilderschwulst in der Poesie sagen. Unstreitig bedürfte es nur anderer erziehender Einflüsse, um das, was in dieser Beziehung bei ihnen Maß und Sinn überwuchert, reich und doch schön wachsen zu lassen.

Weiter aber kann es auch der Fall sein, daß nicht nur die Verhältnisse, unter denen ein Volk lebt, berechtigte sind, sondern auch der Geschmack für diese Verhältnisse ein ganz berechtigter ist, ja nicht besser dafür sein könnte; und daß doch der Geschmack dieses Volkes aus gewissem Gesichtspunkte niedriger zu schätzen ist als der Geschmack eines anderen Volkes, sei es, daß er weniger die Möglichkeit gewährt, das ästhetische Gefühl unmittelbar zu befriedigen, sei es, daß die gleichberechtigten Verhältnisse, denen sich der Geschmack beiderseits anpaßt, doch nicht gleich wertvoll sind; jeder Geschmack aber ist nur im Zusammenhange mit den Verhältnissen, unter denen er besteht, zu beurteilen.

So wird sich zwar den Einwohnern Bencoolens die Berechtigung, in Bencoolen zu leben und ihren Baugeschmack den Verhältnissen Bencoolens anzupassen, so wenig bestreiten lassen, als den Griechen in Griechenland zu leben und nach den Verhältnissen ihres Landes einzurichten; es läßt sich aber doch denken, daß der griechische Baugeschmack nicht nur eine größere Möglichkeit als der Bencoolensche gewährt, das ästhetische Gefühl unmittelbar zu befriedigen, sondern auch in Verhältnissen wurzelt und sich wechselseitig damit trägt und hält, welche eine gedeihlichere Entwickelung und Führung des Lebens überhaupt gestatten. Dann wird er bei nicht größerer Berechtigung doch höher zu schätzen sein. Um so mehr wird das im Verhältnis zum Baugeschmack des Feuerländers und Grönländers gelten müssen.

Daß Güte des Geschmackes nicht notwendig mit Feinheit und Höhe des Geschmackes zusammentrifft, ward schon früher im Allgemeinen bemerkt. Leicht nämlich kann es geschehen, daß das Gefallen an feineren Bestimmungen und höheren Beziehungen, sofern es sich überall nur auf Kosten des Gefallens an minder feinen und hohen entwickeln kann, größere Kosten in dieser Hinsicht macht, als es einträgt, dazu den Menschen in mißstimmende Verhältnisse zu den für ihn nicht hoch genug geschraubten und fein genug gefaserten Menschen und Dingen, mit denen er zu verkehren hat, setzt. Dann hat man das, was man als Überfeinerung, Überbildung des Geschmackes vielmehr tadelt als lobt.

Hiergegen wird man den Geschmack eines Kindes, was größeres Gefallen an seinem bunten Bilderbogen als einem Raphaelschen Gemälde findet, folgerechterweise vielmehr einen Geschmack von niedrer Stufe als einen schlechten Geschmack zu nennen haben, obwohl der Sprachgebrauch diese Folgerichtigkeit nicht immer einhält. Würde es doch nicht frommen, wenn dem Kinde umgekehrt das Raphaelsche Bild besser als sein Bilderbogen gefiele, weil mit solcher vorzeitigen Entwickelung sich keine gedeihliche Entwickelung vertrüge; man würde hier einen für die Kindesstufe überbildeten Geschmack zu sehen haben. Nur für einen Erwachsenen, der Anspruch macht, auf der Höhe der Bildung seiner Zeit und Nation zu stehen, würde der kindische Geschmack als ein schlechter anzusehen sein, indem natürlich zur Güte des Geschmacks bei Jemand, der nach Alter, Stand und Nationalität einer höheren und feineren Bildungsstufe angehört, auch gehört, daß sein Geschmack in Höhe und Feinheit damit zusammenstimme. Hier wächst in der Tat die Güte des Geschmackes bis zu gewissen Grenzen mit seiner Höhe und Feinheit, indes sie doch darüber hinaus durch Überbildung und Überfeinerung des Geschmackes wieder abnehmen kann.

Den Geschmack in objektivem Sinne (s. o. Pkt. 1) verstanden, läßt ein in einer gewissen Zeit, einer gewissen Ausdehnung herrschender Geschmack sich bis zu gewissen Grenzen schon dadurch rechtfertigen, daß er ein anderer ist, als der in der eben vergangenen Zeit oder dem nachbarlichen Raume herrschende Geschmack. Denn der Mensch bedarf, um nicht gegen gegebene Quellen der Wohlgefälligkeit abgestumpft zu werden, des Wechsels derselben; und möchte man also auch den antiken Geschmack in bildender Kunst, Architektur, Kunstindustrie allgemein gesprochen jedem anderen vorziehen, so müßte man doch zeitliche und örtliche Abweichungen von demselben gestatten, die, obwohl bei Gleichsetzung alles Übrigen minder vorteilhaft, doch eben nur durch den Wechsel mit dem antiken zeitlich und örtlich vorteilhafter würden. Indessen bedarf die Anwendung dieses Prinzips großer Vorsicht und wird durch ein gegenwirkendes Prinzip beschränkt.

Im Allgemeinen wechseln die Verhältnisse, mit welchen der Geschmack in Beziehung zu treten hat, schon von selbst so sehr nach Zeit und Ort, daß hiermit auch von selbst Abänderungen in den Forderungen des Geschmackes eintreten, welche dem Bedürfnis des Wechsels entsprechen, ohne dasselbe unabhängig davon zu berücksichtigen. Also wird das Bedürfnis des Wechsels nur insofern maßgebend sein können, als die übrigen Umstände, welche die Forderungen des Geschmackes bestimmen, die Wahl zwischen Forterhaltung und Wechsel freilassen, oder Vorteile, welche verschiedene Geschmacksrichtungen nach verschiedenen Seiten darbieten, im Wechsel zur Geltung gebracht werden sollen. So hat der Baugeschmack im Spitzbogenstil und im Rundbogenstil jeder seine Vorteile und Vorzüge; man wird beiden gerecht und erfüllt damit zugleich das Bedürfnis des Wechsels, indem man nicht einen von beiden einseitig bevorzugt. So wird selbst der chinesische Baugeschmack seine Stelle finden können. Durch kein Bedürfnis des Wechsels aber könnte auch nur zeitlich oder örtlich ein Baustil gerechtfertigt werden, der den Bedingungen der Haltbarkeit und überhaupt Zweckmäßigkeit widerspricht.

Liegt nun schon eine sehr allgemeine Beschränkung des vorigen Prinzips darin, daß überhaupt nicht vom Guten zum Schlechten gewechselt werden soll, so beschränkt sich dasselbe noch spezieller und direkter durch folgendes, ihm geradezu entgegengesetzt lautendes, doch nur scheinbar widersprechendes, Prinzip: ein, in einer gewissen Zeit oder Ausdehnung herrschender Geschmack kann sich bis zu gewissen Grenzen schon dadurch rechtfertigen, daß er mit dem Geschmacke der eben vergangenen Zeit oder im benachbarten Raume übereinstimmt. Aber wie verträgt sich dies Prinzip mit dem vorigen? Erstens macht sich nach der subjektiven Einrichtung des Menschen das Bedürfnis des Wechsels von Eindrücken, die nicht unmittelbar mißbehaglich sind, erst geltend, wenn ein gewisses Maß der Forterhaltung überschritten ist; zweitens aber erhalten sich auch immer objektiv durch benachbarte Zeiten und Räume gewisse Bedingungen fort, wodurch gemeinsame Forderungen an den Geschmack gestellt werden.

Wie sich nun beide Prinzipe in jedem besondern Falle gegen einander abzuwägen haben, kommt auf die subjektiven und objektiven Bedingungen des Falles an, und es kann im Sinne unseres allgemeinsten Prinzips nur die Regel gegeben werden, dem Konflikt beider Prinzipe dadurch Rechnung zu tragen, daß die Vorteile sowohl der Forterhaltung als des Wechsels möglichst ausgenutzt, also von einem zum anderen nur nach Maßgabe des eintretenden Übergewichts fortgeschritten werde.

Nach Allem also gibt es über alle, früher (s. o. Pkt. 2) flüchtig berührten, Prinzipe der Beurteilung der Güte des Geschmackes hinaus ein einziges, an sich völlig und überall durchschlagendes, in dem alle jene Prinzipe zusammentreffen, so weit sie triftig sind, und was ihren Konflikt entscheidet, so weit sie nicht zusammentreffen; alle aber sind doch bis zu gewissen Grenzen triftig, und treffen doch nicht überall zusammen. Nur daß es den Nachteil so vieler an sich triftigen Prinzipe teilt, daß es leichter aufzustellen als anzuwenden ist, weil es eine Abwägung fordert, zu der uns die genaue Kenntnis der Gewichte fehlt. Dies Prinzip hängt mit der Grundbeziehung des Schönen zum Guten zusammen, (vergl. Abschn. II Pkt. 2), und lautet kurz, im Grunde selbstverständlich, und darum scheinbar trivial:

Der beste Geschmack ist der, bei dem im Ganzen das Beste für die Menschheit herauskommt; das Bessere für die Menschheit aber ist, was mehr im Sinne ihres Zeitlichen und voraussetzlich ewigen Wohles ist.

 

Editorische Notiz

Publikationsvorlagen: Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik. Breitkopf und Härtel. Teil 1. Leipzig, 1897 und Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik. Breitkopf und Härtel. Teil 2. Leipzig, 1898. Die Rechtschreibung wurde nicht verändert, offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die durch Sperrdruck hervorgehobenen Textpassagen wurden kursiviert. Der Text der Ausgabe ist vollständig auf http://gutenberg.spiegel.de/buch/1096/1 (Stand: 13.7.11) digital erfasst, dieser rekurriert auf folgende Ausgabe: Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Aesthetik. Breitkopf und Härtel. Leipzig 1876. Eine digitale Kopie des Buches steht weiterhin bei http://www.archive.org/stream/vorschulederaes01fechgoog#page/n5/mode/2up (Stand: 13.7.11) zur Verfügung.

Kommentar

Gustav Theodor Fechner (1801-1887) war ein deutscher Physiker und Philosoph. Mit seiner „Vorschule der Aesthetik“ konzipierte er eine „experimentale Ästhetik“, die grundlegende Gesetzmäßigkeiten der ästhetischen Wahrnehmung mit empirischen Methoden zu bestimmen versuchte. Diese  „Ästhetik von unten“ wollte spekulative Aussagen über die Wirkung des Schönen durch intersubjektiv überprüfbare Aussagen ersetzen. Weiterhin richtete sich seine philosophische und wissenschaftliche Arbeit auf die sich entwickelnde Beherrschung der natürlichen Elemente, aufgrund der wachsenden Behauptung der Menschheit durch industrielle Weiterentwicklung. Fechner thematisierte innerhalb dieses Systems außerdem die komplizierte Bedeutung von Kultur, wie sie sich entwickelt und welche Postion der „Mensch“ in diesem Gefüge einnimmt. In dieses Denken integriert sich auch die „Vorschule der Aesthtik“, als Versuch eines Analysemittels und empirsches Regelbuch für menschlich-natürliches, ästhetisches Empfinden.

Literaturhinweise

Arendt, Hans-Jürgen: Gustav Theodor Fechner : ein deutscher Naturwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, 1999. S.194 ff.

Fix, Ulla: Fechners „Vorschule der Ästhetik“ und heutige zeichenbezogene Stilauffassungen. In: Fechner und die Folgen außerhalb der Naturwissenschaften. Hg. v. Ulla Fix. Tübingen, 2003. S.169 ff.

Kösser, Uta: Fechners Ästhetik im Kontext. In: Fechner und die Folgen außerhalb der Naturwissenschaften. Hg. v. Ulla Fix. Tübingen, 2003. S.113 ff.

Laßwitz, Kurd: Gustav Theodor Fechner.Lüneburg, 2009.

Waldrich, Hans-Peter: Grenzgänger der Wissenschaft : Hans Driesch, Gustav Theodor Fechner, Stanislav Grof,  WernerHeisenberg, Carl Gustav Jung, Elisabeth Kübler-Ross, Rupert Sheldrake, Ludwig Wittgenstein, Carl Friedrich Zöllner. München, 1993. S. 12 ff.

 

Bearbeitet von Selina Schindler