Die Bergpredigt

Die Bergpredigt[1]

(Mt V 1) Als wieder eine große Menge sich um ihn drängte, stieg er auf einen Berg und setzte sich. Da traten seine Jünger herzu; (2) und er öffnete seinen Mund, lehrte sie und sprach:

„Selig[2] die Armen im Geist! denn ihrer ist das Reich Gottes[3].
Selig die Trauernden! denn sie werden getröstet werden.

Selig die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit! denn sie werden satt werden.
Selig die Barmherzigen! denn sie werden Erbarmen finden.

Selig die reines Herzens sind! denn die werden Gott schauen.

Selig die Friedfertigen! denn sie werden Söhne Gottes heißen.

Selig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten! denn ihrer ist das Reich Gottes.

Selig seid ihr, wenn man euch um meinetwillen schmäht und verfolgt und allerlei Böses über euch redet! (12) Freut euch und frohlockt! denn euer Lohn ist groß im Himmel[4]; ebenso haben sie ja die Profeten vor euch verfolgt.

(13) Ihr seid das Salz der Erde; wenn aber das Salz fade wird, womit kann mans wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr, als daß man es wegwirft und die Leute es zertreten.

(14) Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. (15) Man zündet auch nicht ein Licht an und stellt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; dann leuchtet es allen, die im Hause sind. (16) So laßt auch euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen!

(17) Denkt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Profeten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen aufzuheben sondern zu erfüllen.[5] (18) Wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehn, soll kein Jota[6] vom Gesetz vergehn. (19) Wer daher eins von den Geboten, und sei es noch so klein, aufhebt und so die Leute lehrt, der wird klein sein im Reich Gottes;[7] wer es aber tut und lehrt, der wird groß sein im Reiche Gottes. (20) Ich sage euch aber: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Farisäer, so werdet ihr nicht ins Reich Gottes kommen.[8]

(21) Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht töten; wer aber tötet, soll vor Gericht gestellt werden.’ (22) Ich aber sage euch: Wer seinem Bruder zürnt wird dem Gericht verfallen, wer zu ihm sagt: Du Narr! dem Hohen Rat; wer sagt: Du Schuft! der Feuerhölle.

(23) Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst[9] und es fällt dir ein, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, (24) so laß deine Gabe dort vor dem Altar und versöhne dich zuvor mit deinem Bruder und dann bring deine Gabe dar! (25) Sei bereit zur Versöhnung mit deinem Widersacher, solang du mit ihm noch auf dem Wege bist! Sonst könnte dich dein Widersacher dem Richter, der Richter dem Diener übergeben und du ins Gefängnis geworfen werden. (26) Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht eher wieder herauskommen, als bis du den letzten Heller bezahlt hast.

(27) Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen.’ (28) Ich aber sage euch: Wer eine Frau[10] auch nur begehrlich ansieht hat schon die Ehe mit ihr gebrochen in seinem Herzen. (29) Wenn aber dein Auge dich verführen will, so reiß es aus, und wär es das rechte, und wirf es weg! Es ist besser für dich, eins deiner Glieder zu verlieren, als daß dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.

(31) Es ist gesagt: ‚Wer seine Frau entläßt, soll ihr einen Scheidebrief geben.’ (32) Ich aber sage euch: Wer seine Frau entläßt, bricht mit ihr die Ehe; und auch wer eine Entlassene heiratet bricht die Ehe.

(33) Ihr habt weiter gehört, daß zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht falsch schwören und sollst dem Herrn deine Eidschwüre halten.’ (34) Ich aber sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, (35) noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel, noch bei Jerusalem, denn es ist des großen Königs[11] Stadt; (36) auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören, denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. (37) Euer Ja sei ja und euer Nein nein! was darüber ist stammt vom Bösen.

(38) Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn!’ (39) Ich aber sage euch: Widersetzt euch nicht der Gewalt! Sondern wenn dich einer schlägt auf die rechte Backe, dem reich auch die linke! (40) und wenn dich einer verklagen will und dir den Mantel nehmen, dem laß auch das Hemd! (41) und wenn dich einer preßt für eine Meile[12], mit dem geh zwei!

(43) Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.’[13] (44) Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für eure Verfolger, (45) damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid, der seine Sonne aufgehn läßt über Böse und Gute und regnen über Gerechte und Ungerechte! (46) Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn werdet ihr dann haben? tun das nicht auch die Zöllner? (47) Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr da Besonderes? tun das nicht auch die Heiden? (48) Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!

(VI 1) Habt acht auf eure Frömmigkeit, daß ihr die nicht übt vor den Menschen, um vor ihnen zu prahlen! Ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. (2) Wenn du Almosen gibst, so laß nicht vor dir her posaunen, wie die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Straßen, um von den Leuten gepriesen zu werden! Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. (3) Wenn aber du Almosen gibst, so soll deine Linke nicht wissen was die Rechte tut, (4) damit dein Almosen verborgen bleibt. Und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird dirs vergelten. (5) Wenn ihr betet, seid nicht wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehn und beten, um aufzufallen! Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. (6) Wenn aber du betest, so geh in deine Kammer und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen! Und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird dirs vergelten. (16) Wenn ihr fastet, schaut nicht finster drein wie die Heuchler! Sie entstellen ihr Gesicht, um aufzufallen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin. (17) Wenn aber du fastest, so salbe dein Haupt und wasch dein Angesicht, (18) um nicht den Leuten aufzufallen mit deinem Fasten, sondern deinem Vater im Verborgenen! Und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird dirs vergelten.

(7) Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die glauben, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. (8) Stellt euch ihnen nicht gleich! Euer Vater weiß was ihr bedürft, eh ihr ihn bittet.

(19) Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, wo Motte und Rost fressen und Diebe einbrechen und stehlen! (20) Sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Rost fressen und keine Diebe einbrechen und stehlen! (21) Denn wo dein Schatz ist, ist auch dein Herz. (24) Niemand kann zwei Herren dienen; er wird den einen hassen und den andern lieben, dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.

(25) Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen, noch um euren Leib, was ihr anziehn sollt! Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? (26) Schaut die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr als sie? (27) Wer von euch kann denn durch Sorgen seinem Leben auch nur eine Elle zusetzen? (28) Und warum sorgt ihr um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen! (29) Sie plagen sich nicht und spinnen nicht; und doch war selbst Salomo in all seiner Herrlichkeit nicht so gekleidet wie eine von ihnen. (30) Wenn aber Gott das Kraut des Feldes so kleidet, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wie viel mehr euch, ihr Kleingläubigen! (31) Deshalb sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was sollen wir essen, was sollen wir trinken, womit uns kleiden? (32) Nach all dem trachten die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß ja, daß ihr das alles braucht. (33) Trachtet vor allem nach dem Reiche und Gerechtigkeit vor Gott! dann wird euch alles andere zufallen. (34) Sorgt also nicht für den morgigen Tag! der wird schon für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an der eigenen Plage.

(VII 1) Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! (2) denn wie ihr richtet, wird man euch richten, und wie ihr meßt, euch messen. (3) Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und gewahrst nicht den Balken in deinem Auge? (4) Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: ‚Laß mich den Splitter aus deinem Auge ziehn!’ während ein Balken in deinem eignen steckt? (5) Du Heuchler, zieh erst den Balken aus deinem Auge und dann sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehn kannst!

(6) Gebt das Heilige nicht den Hunden, werft eure Perlen nicht vor die Säue![14] Sie würden sie nur mit den Füßen zertreten, sich dann gegen euch wenden und euch zerreißen.

(7) Bittet! so wird euch gegeben; sucht! so werdet ihr finden; klopft an! so wird euch aufgetan. (8) Denn wer bittet, der empfängt, wer sucht, der findet; wer anklopft, dem wird aufgetan. (9) Oder wer von euch gibt seinem Sohn einen Stein, wenn er um Brot bittet? (10) oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet? (11) Wenn aber ihr, obwohl ihr böse seid, euern Kindern gute Gaben zu geben wißt, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten!

(12) Alles, was ihr wollt daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen! das ist das Gesetz und die Profeten.

(13) Geht ein durch die enge Pforte! denn weit ist die Pforte, die ins Verderben führt, und viele sinds die sie durchschreiten; (14) doch eng ist die Pforte, die zum Leben führt, und wenige sinds die sie finden.

(15) Hütet euch vor den falschen Profeten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind![15] (16) An ihren Früchten könnt ihr sie erkennen. Kann man Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? (17) Ein gesunder Baum bringt gute Früchte, ein kranker aber schlechte Früchte. (18) Ein gesunder Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, ein kranker Baum schlechte.

(21) Nicht jeder der zu mir sagt: Herr, Herr![16] wird ins Reich Gottes kommen, sondern nur wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. (22) Viele werden zur mir sagen an jenem Tage: Herr, Herr, haben wir nicht mit deinem Namen geweissagt, mit deinem Namen Dämonen ausgetrieben[17], mit deinem Namen viele Wunder getan? (23) Dann werde ich ihnen sagen: Ich habe euch nie gekannt; hinweg von mir, ihr Übeltäter!

(24) Wer nun diese meine Worte hört und danach tut, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baut. (25) Wenn dann ein Platzregen fällt, die Fluten kommen, die Winde brausen und an das Haus stoßen, so stürzt es nicht ein, denn es wist auf Fels gegründet. (26) Wer aber diese meine Worte hört und nicht danach tut, der gleicht einem törichten Manne, der sein Haus auf Sand baut. (27) Wenn dann ein Platzregen fällt, die Fluten kommen, die Winde brausen und an das Haus stoßen, da stürzte es ein mit großem Krach.“

Erklärungen

[1] Nicht wirklich so gehalten, sondern von Mt aus Q und andrer Überlieferung zusammengestellt. Den größten Teil der in Mt V-VII vorkommenden Sprüche bringt auch Lk, besonders in VI 20-49 (Feldpredigt), wo Mt und Lk auch in der Reihenfolge der Sprüche bis auf einen übereinstimmen, was auf Benutzung derselben Quelle (Q) schließen lässt. Doch finden sich viele Abweichungen im Wortlaut; so z. B. in den drei Seligpreisungen, die Lk statt der ersten sieben des Mt bringt und die in Lk VI 20.21 lauten: „Selig ihr Armen! Denn euer ist das Reich Gottes, selig die ihr jetzt hungert! Denn ihr werdet satt werden; selig die ihr jetzt weint! Denn ihr werdet lachen.“ Ob Mt oder Lk hier und anderswo ihre Vorlage treuer wiedergegeben haben, darüber gehn die Meinungen sehr auseinander.

[2] Anders als Johannes der Täufer beginnt Jesus mit froher Botschaft. Vgl. Jesaja LXI 1.2 !

[3] Statt „Reich Gottes“ sagt Mt fast immer „Reich der Himmel“. Himmel wird von den Juden damals auch sonst aus religiöser Scheu gern für Gott gebraucht.

[4] Der völkstümlich-jüdische Lohngedanke findet sich oft in den Worten Jesu.

[5] Gesetz und Profeten sind die Hauptteile der Heiligen Schrift der Juden. „Das Verhalten zum Gesetz der Alten war die brennende Frage des jungen Christentums.“ (Wellhausen)

[6] Der kleinste Buchstabe.

[7] In der Urgemeinde Jerusalem wird man hierbei an Paulus gedacht haben.

[8] Gerechtigkeit vor Gott ist das Ziel, das die Farisäer und Mt durch gute Werke, Paulus durch den Glauben zu erreichen hoffen. Wieso die Gerechtigkeit der Jünger Jesu besser sein soll als die der Farisäer, zeigt das Folgende. Bei Mk kommt der Ausdruck nicht vor; wir würden Frömmigkeit sagen.

[9] „Mt setzt voraus, dass der Opferdienst noch im Gange ist und dass auch die jerusalemischen Christen daran teilnehmen.“ (Wellhausen)

[10] Ehefrau.

[11] Gottes.

[12] Zu verstehn von Übergriffen der Besatzungsmacht.

[13] Letzteres wird nirgend im Alten Testament geboten.

[14] Verbot der Heidenmission? Vgl. Mk VII 27 und Kapitel „Berufung und Aussendung der Zwölf“, Fußnote 3!

[15] „Die fahrenden Profeten müssen für die christliche Gemeinde eine wahre Landplage gewesen sein.“ (Wellhausen)

[16] Bei Mk wird Jesus gewöhnlich mit Meister (= Lehrer), dreimal, zu besonderer Ehrung, mit Rabb(un)i angeredet. Die Anrede Herr in Q gebührt dem Weltrichter; vgl. 1. Korinther XVI 22 und Filipper II 11! Sie wird erst von der Urgemeinde Jerusalem Jesus beigelegt worden sein.

[17] Vgl. Mk IX 38 !

Israel und Juda. Sage und Geschichte, Weisheit und Hoffnung eines Volkes in Selbstzeugnissen. Hg. u. kommentiert von August Möhle (seit 2017 auch als E-Book)