Vom Trotz getrieben, vom Stil beglaubigt

Rede auf Ruth Klüger aus Anlass der Verleihung des Grimmelshausen-Preises

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Alle Autobiographen lügen – oder beinahe alle. Denn wer eingehend und ausführlich über sein Leben schreibt, kommt nicht umhin, dies und jenes zu verheimlichen und zu vertuschen oder zumindest zu retuschieren. Jede Selbstdarstellung lässt etwas weg, jede fügt ein wenig hinzu. Und niemand hat das Recht, vom anderen zu verlangen, dass er sich ganz und gar entblöße und preisgebe. Die reine Wahrheit, sagt Lessing, ist Sache Gottes und nicht des Menschen.

Gleichwohl gibt es autobiographische Bücher, die ehrlich sind oder sich der Ehrlichkeit immerhin nähern. Das geht bisweilen auf den Hochmut des Schreibers zurück oder hat, häufiger noch, mit einer Eigenschaft zu tun, die eine Tugend ebenso wie eine Untugend sein kann: Den Trotz, meine ich. Der Umgang mit besonders trotzigen Menschen mag nicht ganz leicht sein, aber ihre Bücher sind die schlechtesten nicht. Das gilt auch für Ruth Klügers Autobiographie „weiter leben“. Hier wird vieles berichtet und erzählt, was schon häufig beschrieben und geschildert wurde. Dennoch haben wir ein im tieferen Sinne sensationelles Buch erhalten – ein Buch, das still ist und zugleich alarmierend wirkt.

Ruth Klügers Trotz hat mit ihrer Herkunft zu tun und mit ihrem Weg. „Eine Jugend“ lautet der Untertitel, doch ist die Rede von einem jüdischen Mädchen, dem man die Kindheit gestohlen und die Jugend geraubt hat. Wien, ihre Heimatstadt, empfindet diese kleine Ruth als freudlos und feindlich, genauer gesagt, als kinderfeindlich, noch genauer, „bis ins Mark hinein judenkinderfeindlich“.

Im Jahre 1938, als die Deutschen nach Österreich kommen, ist sie gerade sieben Jahre alt. Sie hat den Judenstern zu tragen und gewöhnt sich, die gehässigen Blicke nicht aller, aber doch vieler Passanten zu ertragen: „Juden und Hunde waren allerorten unerwünscht.“ Noch darf sie zur Schule mit der Straßenbahn oder der Stadtbahn fahren, aber setzen darf sie sich nicht. Sie darf keine Ausflüge machen, sie darf nicht ins Kino gehen oder Schlittschuh laufen, sie darf zwar, vorerst, den Park betreten, doch auf einer Bank sitzen darf sie nicht. Sie lernt lesen, aber die beste Gelegenheit hierzu bieten die Schilder auf den Straßen, die judenfeindlichen Schilder.

Später, schon während des Krieges, gibt es für sie und ihresgleichen keine Grünanlagen und keine Spielplätze. Da hilft die Jüdische Gemeinde, sie stellt den letzten noch in Wien gebliebenen jüdischen Kindern tatsächlich einen Park zur Verfügung und einen Spielplatz. Es ist der jüdische Friedhof. So wird ihnen eine gewaltsam beschleunigte Erziehung zuteil: Die Kinder, die man systematisch schikaniert und erniedrigt, die man täglich dafür bestraft, dass sie Juden sind, müssen sich auch noch mit der unmittelbaren, mit der dauernden Nachbarschaft des Todes vertraut machen.

Vielleicht aber ist die schrecklichste Erfahrung in diesen Wiener Jahren von anderer Art: Das Mädchen muss miterleben, wie seine Angehörigen gedemütigt werden – und das ist nicht nur ein grausames, es ist auch ein für immer prägendes Erlebnis. Denn schrecklicher als die Prügel, die ein Kind einstecken muss, sind die Schläge, die in seiner Gegenwart den Eltern ausgeteilt werden. Daran mag Ruth Klüger gedacht haben, als sie schrieb: „Die Folter verläßt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht…“ Und die Folter, welche auch immer, ist es, die ihren Widerstand geweckt hat, ihre Wut und eben ihren Trotz: „Ich kann nicht sagen“, schreibt sie, „daß ich ihn ungern getragen habe, den Judenstern.“

Im September 1942 gehört sie zusammen mit ihrer Mutter zu den letzten Juden, die man aus Wien deportiert. Sie werden nach Theresienstadt verschleppt. Das ist kein Vernichtungslager, es ist bloß ein Durchgangslager auf dem Weg zu den Gaskammern von Auschwitz. In Häusern, in denen einst Soldaten der habsburgischen Armee wohnten, etwa 3500 Menschen, müssen jetzt 40 000 bis 50 000 Juden leben. „Ich hab Theresienstadt gehaßt, ein Sumpf, eine Jauche, wo man die Arme nicht ausstrecken konnte, ohne auf andere Menschen zu stoßen.“

Dass Ruth Klüger Theresienstadt gehasst hat, bedarf keiner Begründung. Nur sagt sie an einer anderen Stelle. „Ich hab Theresienstadt irgendwie geliebt.“ Was gab es dort zu lieben? Im Kinderhaus fiel ihr eine Frau auf, die manchmal mit ihrer Tochter am Tisch saß und ihr ein wenig aus der griechischen Geschichte erzählte: „Da hab ich mich auch dazugesetzt.“ Sie erinnert sich an einen Schauspieler, der die Kapuzinerpredigt aus „Wallensteins Lager“ rezitierte. Der begeisterte Beifall nach den letzten Worten – „Und solang der Kaiser diesen Friedeland / Läßt walten, so wird nicht Fried‘ im Land“ –, dieser Beifall, schreibt Ruth Klüger, war „die erste Protestkundgebung, der ich beiwohnte“; damals habe sie entdeckt, dass sich alte Texte auf Aktuelles beziehen lassen.

Und sie erinnert sich an den großen Rabbiner Leo Baeck, den vorbildlichen preußischen Bürger, dem, als er von seiner Berliner Wohnung abgeholt wurde, daran gelegen war, noch unbedingt seine Gasrechnung zu bezahlen. Nun war also auch der berühmte Gelehrte in Theresienstadt. Auf einem Dachboden erzählte er den Kindern die Geschichte von der Schöpfung der Welt: „Er gab uns unser Erbe zurück, die Bibel im Geiste der Aufklärung.“ In Theresienstadt sei aus Ruth Klüger, sagt sie, ein soziales Wesen geworden. Gespräche vor allem hätten dies bewirkt. Denn wo der Hunger regierte und die Angst herrschte, da sei die einzige Ablenkung von der Not und vom Elend eben das Gespräch gewesen.

Hier, an dieser Stelle ihres Buches „weiter leben“, hier, wo sie dankbar der Unterhaltungen und der Erörterungen gedenkt, bei denen sie, damals kaum elf oder zwölf Jahre alt, Zeuge sein durfte, hier erlaubt sich Ruth Klüger zum ersten und zum letzten Mal ein Loblied auf die Juden anzustimmen. „Gut war nur, was die Juden daraus zu machen verstanden, wie sie diese Fläche von weniger als einem Quadratkilometer tschechischer Erde mit ihren Stimmen, ihrem Intellekt, ihrer Freude am Dialog, am Spiel, am Witz überfluteten. Was gut war, ging von unserer Selbstbehauptung aus.“ Aber solche Erinnerungen sollen und können nichts beschönigen oder gar verklären: Nie vergisst Ruth Klüger, was Theresienstadt in Wirklichkeit war – es war „der Stall, der zum Schlachthof gehörte“.

In der Tat kam sie in den Schlachthof – nach Auschwitz also. Transportiert wurden die Häftlinge, wie man weiß, in Viehwaggons. Ja, das weiß man, nur stimme es nicht: Juden habe man ungleich schlimmer als das Vieh befördert. In den Waggons sei mit jeder Minute die Luft zum Atmen ungeeigneter geworden: „Daher glaube ich eine Ahnung zu haben, wie es in den Gaskammern gewesen sein muß.“

Übrigens waren die Waggons nicht nur deshalb überfüllt, weil man so viele Menschen in sie hineingepfercht hatte, sondern weil den Juden befohlen wurde, ihr ganzes Gepäck mitzunehmen. Noch das letzte, was sie besaßen, sollte von ihnen selbst an die Rampe in Auschwitz gebracht werden.

Ruth Klüger war in jenem Teil des Lagers, der beinahe poetisch Birkenau hieß, dort, wo sich die Gaskammern und die Krematorien befanden. Aber es widerstrebt ihr zu beschreiben, was sie da erlebt hat. So werden ihre Mitteilungen, ihre fragmentarischen Berichte immer knapper: „In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon.“ Die Stilistin Ruth Klüger liebt das Understatement – doch ist es ein leidendes, ein schreiendes Understatement, sie liebt die vielsagende, die provozierende Knappheit. Aber sie bleibt uns Lesern keine Antwort schuldig, auch nicht auf die Frage, wie sie diese Hölle überleben konnte. Eine der Antworten lautet: „Ich hab den Verstand nicht verloren, ich hab Reime gemacht.“

Wer Auschwitz überlebt hat – und Auschwitz ist hier nicht als Bezeichnung eines Vernichtungslagers gemeint, sondern als Chiffre für den Massenmord –, der verdankt dies einem einzigen Umstand: dem Zufall. Nur sieht der Zufall jedes Mal anders aus. Im Juni 1944 werden in Birkenau Frauen für einen Arbeitstransport gesucht. Wohin man den Transport leiten werde – tatsächlich zur Arbeit oder in die Gaskammer -– das konnte man nicht wissen. Die kleine Ruth, gerade dreizehn Jahre alt, meldet sich und wird von dem SS-Mann abgelehnt, da sie zu jung und zu schwach ist. Sie stellt sich noch einmal an, in einer anderen Reihe, und hier riskiert es die diensttuende Schreiberin, auch sie ein Häftling in einer ebenso hoffnungslosen Lage wie alle anderen, ihren Posten für einen Augenblick zu verlassen, um ihr zuzuflüstern: „Sag, daß du fünfzehn bist.“ Dies sei, schreibt Ruth Klüger, eine außerordentliche Tat gewesen -–an einem Ort, der den Selbsterhaltungstrieb bis zur Kriminalität förderte, „etwas Beispielloses und etwas Beispielhaftes“. Als angeblich Fünfzehnjährige wird die jetzt vor einem anderen SS-Mann stehende Jüdin für den Transport akzeptiert.

Kein Zweifel, ihre Wohltäterin war die ihr ganz und gar unbekannte Schreiberin. Aber der Deutsche, der Nazi, ein gutgelaunter SS-Mann, der zuweilen, um seiner eintönigen Beschäftigung etwas Vergnügen abzugewinnen, manche der sich um Arbeit bewerbenden und natürlich ganz nackten Mädchen und Frauen Turnübungen vorführen ließ? Er, der vermutlich am selben Tag Hunderte, wenn nicht Tausende Juden in den Tod geschickt hat, er war auch ihr Wohltäter. Er war es, der ihr, weil es ihm gerade so gefiel, die Verlängerung des Lebens gegönnt hat. Dieser SS-Mann ist der einzige Nazi, der in Ruth Klügers Aufzeichnungen vorkommt. Denn nicht um die Mörder geht es in ihrem Buch, es geht vor allem um den Mord. Das Ganze beginnt mit dem Wort „der Tod“, und am Ende heißt es, es sei „ein deutsches Buch“. Ja, es ist ein deutsches Buch über den deutschen Mord.

„Schildern willst du den Mord? So zeig mir den Hund auf dem Hofe: / Zeig mir im Aug von dem Hund gleichfalls den Schatten der Tat.“ Dieser Spruch Hugo von Hofmannsthals über die „Kunst des Erzählens“ erklärt auch Ruth Klügers Kunst. Sie stellt die Tat dar, indem sie ihre Schatten zeigt, ihre Folgen. Was ist denn eigentlich dieses Buch „weiter leben“? Ein Bericht, eine Reportage, eine Autobiographie, Gedanken und Erinnerungen, Episoden und Reflexionen? Wenn sich so viele Vokabeln aufdrängen, jede ihre Berechtigung haben mag und allesamt doch nicht ausreichen, dann behelfen wir uns gern mit dem Hinweis auf eine mittlerweile kaum definierbare und nicht zuletzt deshalb nach wie vor äußerst beliebte Mischform – auf den Roman also.

Haben wir es etwa mit einem Bildungs- oder Erziehungsroman zu tun, hätte das Buch auch – wie ein Kritiker meinte – „Ruth Klügers Lehr- und Wanderjahre“ betitelt sein können? Die Antwort hängt davon ab, was sich der Leser aus der Sache macht – in des Wortes schöner doppelter Bedeutung. Das soll heißen: Von einem geschlossenen Ganzen kann hier nicht die Rede sein, das Skizzenhafte und Fragmentarische dieses Buches wird von seiner Autorin nicht verheimlicht, sondern programmatisch betont. Und letztlich bietet sie uns vielleicht weniger als einen Roman, doch zugleich mehr. Ihre Aufzeichnungen enthalten Geschichten und Porträts, Episoden und Miniaturen, die unmerklich und wohl unbeabsichtigt ins Gleichnishafte übergehen und in denen, mag vieles nur in Umrissen erkennbar sein, die Epoche ihren Widerschein findet, einen düsteren, einen unheimlichen.

Da ist der Vater der Erzählerin, ein barmherziger Arzt und leichtsinniger Mensch, etwas unseriös und sehr liebenswert – wie eine Figur von Joseph Roth: „Ich sehe meinen Vater in der Erinnerung höflich den Hut auf der Straße ziehen, und in der Phantasie sehe ich ihn elend verrecken, ermordet von den Leuten, die er in der Neubaugasse begrüßte, oder doch von ihresgleichen.“ In den Gaskammern sind in den allerletzten Augenblicken die Stärkeren auf die Schwächeren getreten. Die Leichen der Männer waren daher stets oben, die der Kinder ganz unten. „Ist mein Vater auf Kinder getreten, auf Kinder wie mich, als ihm der Atem ausging?“

Liesel, das Proletarierkind, derb und vulgär, wusste immer, wo es langging. Einige Jahre älter als die Erzählerin, protzte sie in Wien mit ihrem Wissen in Sachen Menstruation und Sexualität. Und auch in Auschwitz protzte sie mit ihrem Wissen – diesmal vom Tod: „Ihr Vater war im Sonderkommando. Er hat bei der Beseitigung von Leichen mitgeholfen.“ Sie hat sich zu keinem Arbeitstransport gemeldet, denn sie wollte bei ihrem Vater bleiben, den sie buchstäblich mehr als das eigene Leben liebte. Der aber hatte keine Chancen, denn er wusste entschieden zuviel: „Sie ist mit ihm vergast worden.“

Da ist die verwirrte und von Paranoia bedrohte Mutter der Erzählerin, die ihr in Auschwitz-Birkenau erklärt, dass der elektrische Stacheldraht tödlich sei, und die ihr vorschlägt, zusammen in diesen Draht zu gehen: „Wenn das Leben lieben und sich ans Leben klammern dasselbe ist, dann habe ich das Leben nie so geliebt wie im Sommer 1944, in Birkenau, im Lager B 2 B.“ Im Alter sucht die Mutter wissenschaftliche Konferenzen auf, und von Historikern zu erfahren, wo und wie ihr Sohn gestorben sei. Die Tochter brüllt der Schwerhörigen ins Ohr: „Riga, erschossen“. Aber es ist vergeblich, die Mutter nimmt es überhaupt nicht zur Kenntnis, sie wiederholt ihre Frage immer wieder.

Da ist schließlich die Erzählerin selber, unruhig und ungeduldig und, laut eigenem Bekunden, zerfahren, eine Person, „die leicht was fallen läßt, mit oder ohne Absicht, auch Zerbrechliches, Geschirr und Liebschaften.“ So ist das nun. Wer zum Tode verurteilt war, bleibt ein Gezeichneter. Wer zufällig verschont wurde, während man die Seinen gemordet hat, kann nicht im Frieden mit sich selber leben. Und gute Bücher schreiben? Fast will es scheinen, als stamme die Literatur, von der zu reden lohnt, meist von jenen, die es schwer mit sich selber haben, von den Gezeichneten.

Wenn es der Trotz war, der zu diesem Buch geführt hat, dann ist es der Stil, der es beglaubigt. Ruth Klüger, die Germanistin, die seit Jahrzehnten an amerikanischen Universitäten lehrt, hat gleichwohl die Kühnheit zu schreiben, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Ihre Sprache hat Charme, ihr Deutsch, österreichisch geprägt und wienerisch gefärbt, ist ganz unangestrengt, natürlich und anmutig, es verbindet Leichtigkeit mit Genauigkeit.

Zu den Figuren dieses Buches gehört auch ein junger deutscher Intellektueller in der Nachkriegszeit. Er irritiert sie, denn er hat keinen Kummer mit seiner Identität: „Der war beheimatet in Deutschland, verwurzelt in einer bestimmten deutschen Landschaft … Der wußte, wo und wer er war.“ An Identitäten fehlt es der Autorin dieses Buches nicht: eine jüdische hat sie und eine österreichische, eine deutsche und eine amerikanische. Doch ist nicht zu beneiden, wer sich auf so viele Identitäten berufen muss. Und es kommt noch eine fünfte Identität hinzu ­ und vielleicht ist es die einzige, auf die sich Ruth Klüger ganz verlassen kann. Die Sprache ist es, die deutsche, die Literatur ist es, die deutsche.

Hinweise des Herausgebers:

Erstdruck unter diesem Titel und Publikationsvorlage: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1993, Nr. 241, (Bilder und Zeiten) S. IV. Der Text wurde den Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst und in dieser Form erneut veröffentlicht in Marcel Reich-Ranicki: Meine deutsche Literatur seit 1945. München: DVA 2015. Wir danken Prof. Dr. Andrew Ranicki für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung an dieser Stelle.

Am 14. Januar 1993 war Ruth Klügers „weiter leben“ übereinstimmend enthusiastisch im Literarischen Quartett  (ab Minute 31:16) besprochen worden.