Leserbriefe zur Rezension

Dialogisches Denken

Rahel Varnhagens Briefwechsel mit dem Bruder Ludwig Robert

Von Axel Schmitt


Dr. Nikolaus Gatter schrieb uns am 17.06.2004
Thema: Axel Schmitt: Dialogisches Denken

Die insgesamt durchaus lesenswerte und die Edition des Geschwisterbriefwechsels Rahel Ludwig Robert mit einigem Recht lobende Rezension beruht in manchen Passagen auf z. T. falschen oder jedenfalls wenig durchdachten Prämissen.

1. Daß die "Edition Rahel Levin Varnhagen" die Vollständigkeit der Texte anstrebt und die Texte beider Briefpartner veröffentlicht, ist löblich, aber keine fundamentale Neuerung. Auch kam nicht erst durch Barbara Hahns schätzenswerte Studie ans Tageslicht, daß Rahels Texte an Interesse gewinnen, wenn man die Gegenbriefe kennt. Als "Brief-Wechsel" wurden Rahel Varnhagens Texte durchaus bereits von ihren Zeitgenossen gelesen. Dialogisch waren schon die ersten Publikationen aus dem Ehebriefwechsel (vgl. Lieselotte Kinskofers Edition der Journalbeiträge: "Ich will noch leben, wenn man's liest", Frankfurt u. a.: P. Lang 2001). Der ersten Publikation von Rahels Schriften in Buchform (1833) stellte der Witwer drei Jahre später die  "Galerie von Bildnissen aus Rahels Umgang und Briefwechsel" an die Seite, Gegenbriefe an die Autorin und biographische Skizzen ihrer Korrespondenzpartner enthaltend. Der bedeutendste Teil der Rahel-Überlieferung wurde nach Karl August Varnhagens Vorarbeiten von dessen Nichte Ludmilla Assing  herausgegeben, als Briefwechsel, z. B. mit David Veit (1861), Konrad Ferdinand Oelsner (1865) und mit Karl August Varnhagen  (1873).

2. Der Name "Rahel" ist, anders als der Rezensent suggeriert, von  Jugend auf (und durchaus auch im Buch "Rahel") immer wieder das "Signum eines Textes" der Autorin. Die weitaus meisten ihrer Briefe unterschrieb sie nun einmal mit "Rahel" (auch wenn sich je nach Adressaten mitunter Ralle, Friederike Antonie, Frau von Varnhagen u. ä. nennt), eine Chiffre, mit der sie durchaus spielerisch umging ("Confessions de J. J. Rahel"). Folgt man den Gepflogenheiten, die bei Jean Paul und Novalis gelten, wäre der Vorname als literarischer nom de guerre zu respektieren, während die Version "Rahel Levin Varnhagen" ein Kunstname ist, den die Autorin niemals getragen hat, geschweige denn akzeptiert hätte und den nur die Ära der political correctness ersinnen und der Autorin nachträglich aufprägen konnte. Weshalb übrigens sollte der "jüdische Vorname", den übrigens auch manche bibeltreue Christinnen tragen, im 19. Jahrhundert keine Autobiographie schmücken? Rahel Meyer, geborene Weiss (1806-1874), publizierte mehrere biographische Romane unter dem Decknamen "Rahel"; freilich nicht inspiriert durch Madame Varnhagen, sondern durch die französische Tragödin Rahel Félix, der sie verwirrenderweise eine Biographie mit dem Titel "Rahel" widmete. Und wie nannte Kathinka Zitz ihren biographischen Rahel-Roman in sechs Bänden? "Rahel oder dreiunddreißig Jahre aus einem edeln Frauenleben..."

3.  Rahel Varnhagen mag nicht die Druckfahnen korrigiert haben, dennoch hat sie die Veröffentlichung ihrer Briefe in Buchform autorisiert - in ihrem Testament, einschließlich eigens disponiertem Kapital, dessen Zinsen die Herausgabe unabhängig von den Zufälligkeiten des Buchmarkts machen sollte (die Rede ist von dem rechtsgültigen Testament vom 4. Juni 1831, nicht dem  in der Edition Rahel Levin Varnhagen (Briefwechsel mit Pauline Wiesel) herangezogenen.

4. "Rahel. Ein Buch des Andenkens" ist keineswegs, wie der Rezensent suggeriert, durchgehend "an der Chronologie im Korsett des autobiographischen Schreibens orientiert", dieses wird vielmehr immer wieder durch aphoristische Einschübe, Tagebücher, mitunter auch durch Vor- und Rückblenden. durchbrochen.

5. "Karl August Varnhagens Editionsvorbereitungen wurden erst im nationalsozialistischen Deutschland überschritten" - dieser Satz ist eine Entgleisung, die zunächst einmal abgeschmeckt sein will. Die jahrzehntelangen Bemühungen des Witwers um ein Werk, dessen Grundstock ja keineswegs als Nachlaß vorlag, sondern den Freunden erst mühsam abkomplimentiert werden mußte, die Entzifferungsleistungen, Kommentierungshilfen usw. usw. all das sei ausgerechnet im nationalsozialistischen Deutschland "überschritten" worden? Als die von der Stifterin der Sammlung, Ludmilla Assing, vorgesehene "allgemeine Nutzung" durch Boykottschilder und Lesesaalverbote für Juden vereitelt wurde, als die Sammlung entgegen ihrer testamentarischen Verfügung auseinandergerissen wurde? Eine arge Untertreibung enthält hingegen das beiläufige Statement, der Nazigermanist Hans Karl Krüger habe halt "entsprechend dem Ton der Zeit" geschrieben. Dessen Stochern nach Belegstellen für seine aberwitzigen rassistischen Konstrukte, war es nach Meinung des Rezensenten gar von editionsphilologischen Kriterien geleitet? An solche durfte allerdings auch ein Erich Lowenthal, dessen Rahel-Lektüre umstandslos der von Hans Karl Krüger vergleichend an die Seite gestellt wird, nicht denken. Lowenthal ging es einzig und allein darum, die Selbstaussagen Ludwig Roberts über sein Judentum und seine durch Varnhagen überlieferten (und, wenn auch nicht im Andenkenbuch, schon im 19. Jhd. mehrmals bekannt gemachten) Augenzeugenberichte der antisemitischen Verfolgungen von 1819 vor der Vernichtung zu retten.

6. Vor diesem Hintergrund ließe sich noch manches anmerken zu dem Verdikt, das der Rezensent über Ludwig Roberts Werke fällt, in denen es von "Misserfolgen" nur so wimmeln soll und das angeblich von "bodenloser Selbstüberschätzung und qualvoller Depression" geprägt war. Ludwig Robert war, wie immer er sich selbst eingeschätzt haben mag, ein Dramatiker mit ansehnlichen, auch materiell einträglichen  Erfolgen, der von Goethe in Weimar aufgeführt, von Benjamin Constant geschätzt und von seinem Freund Kleist als Berater herangezogen wurde. Er hat den Berliner Dramatikerverein aus der Taufe gehoben; seine Feuilletons und Kritiken fanden regelmäßige Abnehmer, zumal im renommierten Cottaschen "Morgenblatt";  die Gedichte aus den Freiheitskriegen "Kämpfe der Zeit" erlebten mehrere Auflagen; mit Übersetzungen war Robert überdies als deutsch-französischer Kulturvermittler tätig. Daß sein Werk nie zureichend erforscht, geschweigte denn bibliographiert wurde, hängt mit der latent antisemitischen Perspektive der wilhelminischen Germanistik zusammen, deren Tradition der Rezensent zunächst kritisch durcharbeiten sollte, bevor er Dekonstruktionen der bezeichneten Art vornimmt..