Aus dem Emirat des Bohnerwachses

Nominiert für den Deutschen Bücherpreis: Uwe Tellkamps Roman "Der Turm"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Geschichte aus einem versunkenen Land" lautet der Untertitel von Uwe Tellkamps opulentem Erzählwerk "Der Turm", das für die Shortlist des Deutschen Bücherpreises nominiert wurde.

Das "versunkene Land" ist die DDR, deren langsames Dahinsiechen (zwischen Dezember 1982 und dem Mauerfall im November 1989) zu einem großen gesellschaftlichen Panorama ausgemalt wird. Wie schon in seinem letzten Roman "Der Eisvogel" (2005), beweist der 40-jährige Arzt und Bachmann-Preisträger Uwe Tellkamp wieder Mut zum großen Pathos und zu gewagten Formspielen mit Anleihen aus der deutschen Kulturgeschichte.

Im Mittelpunkt des gewaltigen Epos' steht die für DDR-Verhältnisse untypische Familie Hoffmann, die im Dresdner Villenviertel Loschwitz ein - nach sozialistischen Normen - großbürgerliches, beinahe märchenhaftes Leben führt. Richard Hoffmann (verheiratet mit der Krankenschwester Anne) ist ein angesehener Chirurg mit ausgeprägtem Faible für Kunst. Sein pubertierender Sohn Christian will ebenfalls Medizin studieren, bekommt aber keine Zulassung. Dann ist da noch der introvertierte Schwager Meno Rohde, ein ausgebildeter Zoologe, der sich als Verlagslektor eine kleine intellektuelle Nische eingerichtet hat. In diesem bürgerlichen Dresdner Mikrokosmos wird musiziert und viel gelesen, zum Beispiel "Hermann-Hesse-Ausgaben der Vorkriegszeit" oder auch "die zigarrenbraunen Thomas-Mann-Bände des Aufbau-Verlages aus den 50er-Jahren."

Autor Uwe Tellkamp, der vorab für diesen Roman mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurde, kennt das beschriebene Milieu aus eigenem Erleben - als Spross einer Ärzte- und Musikerfamilie aus Dresden durchlebte er eine ähnliche Sozialisation wie der Hoffmann-Spross Christian. "Soll ich Ihnen sagen, was Dresden ist? Dieses Emirat des Bohnerwachses und der Gummibäume?", fragt eine der vielen Nebenfiguren.

"Aufrichtigkeit, auch und gerade dann, wenn es brenzlig wurde, war er nicht so von seinen Eltern erzogen worden? Gleichzeitig übten sie mit ihm das Lügen", resümiert der heranwachsende Christian die missliche Situation, in der er sich befindet. Schule und Elternhaus - das bedeutet für ihn einen ständigen Paradigmenwechsel.

Mit der Aufrichtigkeit nimmt es Christians Vater Richard allerdings nicht so genau. Er führt seit Jahren ein privates Doppelleben, hat mit der Chefsekretärin des Klinikums ein Kind und besucht seine Zweitfamilie jeden Donnerstag, während seine Frau Anne ihn beim Sport wähnt. Für den Staatssicherheitsdienst wird der politische Nonkonformist Richard Hoffmann erpressbar.

Auch der Sohn eckt mit den Machthabern an, nachdem er sich freiwillig zur Nationalen Volksarmee (NVA) gemeldet hatte. Der picklige Christian wird von seinen Kameraden schikaniert, bekommt den Spitznamen "Nemo" verpasst und bleibt, wie es der Name nahe legt, ein "Nichts", ein geächteter Außenseiter.

In der Christian-Figur verbergen sich die stärksten biografischen Parallelen zu Uwe Tellkamps eigener Vita. Wie der Autor selbst hat sich auch Christian im Herbst 1989 bei der NVA der Befehlsverweigerung schuldig gemacht. Er musste zusehen, wie Polizisten seine Mutter am Dresdner Hauptbahnhof verprügelten. Schließlich greift er nach dem Unfalltod eines Kameraden sogar einen Vorgesetzten an, kommt dann vor ein Militärgericht und wird zur Zwangsarbeit am Karbid-Ofen eines Chemiewerks verurteilt. Schlimmer hätte der Kontrast zwischen der behüteten Dresdner Familie und den Schikanen des sozialistischen Alltags für den sensiblen Christian kaum ausfallen können. Mit dem Fall der Mauer lässt Tellkamp sein monumentales Untergangs-Epos enden.

Exzellente Ortsschilderungen und authentische Dialoge aus den unterschiedlichsten Milieus gehören zu den Vorzügen des "Turms". Den lang erwarteten Wenderoman hat Tellkamp aber nicht vorgelegt, denn das von ihm schillernd ausgemalte bürgerliche Milieu war nur eine kleine Minorität in der DDR-Gesellschaft.

Am Ende stellt sich nach fast 1.000 Seiten Lektüre auch die Frage, ob all die wortreich geschilderten Nebenfiguren (hinter denen sich unter anderem Peter Hacks und Manfred von Ardenne ausmachen lassen) handlungstragenden Charakter haben oder ob ihre Auftritte allein der unbezähmbaren Erzähl- und Fabulierlust des Autors entspringen. Etwas weniger hätte literarisch mehr sein können.


Titelbild

Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
976 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420201

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