Roadtrip durch die USA

Benedict Wells beweist in seinem jüngsten Roman „Fast genial“ ein beeindruckendes Erzähltalent

Von Antonia FéretRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antonia Féret

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man suche ein gutes Buch. Es sei flüssig und angenehm zu lesen, aber anspruchsvoll. Es verwende eine klare, verständliche Sprache, ohne dabei simpel oder plump zu sein. Es beinhalte eine spannende, glaubhafte, berührende Geschichte ohne falsche Emotionalität und ohne künstlich wirkende Effekte, mit verblüffenden, dramatischen Wendungen. Es sei geschrieben für junge Leser und solche, die sich mit einer jüngeren Generation auseinander setzen wollen, mit einem Protagonisten, der trotz Verzweiflung, Trauer und Schmerz liebt, hofft und lacht, weint und um die Kraft kämpft, sich von seinem bedrückenden Los zu befreien.

Wer ein solches Buch sucht, findet es im neuesten Werk des Autors Benedict Wells: „Fast genial“.

Wells ist im deutschen Literaturbetrieb längst kein Unbekannter mehr. „Fast genial“ ist bereits sein dritter Roman, sein Debüt „Becks letzter Sommer“ fand 2008 sowohl bei Lesern wie Kritikern großen Zuspruch. Mit seinem neuen Buch ist ihm ein anspruchsvolles Werk auf der Basis wahrer Ereignisse gelungen, das sich besonders an junge Leser richtet, denn der Protagonist ist ein 17-jähriger Teenager aus New Jersey, der mit seiner psychisch kranken Mutter in einem Wohnwagen im Trailerpark am Rande von Claymont lebt, seine Katze füttert, „Unreal Tournament“ über das Internet spielt und sich mit der High School herumschlägt. Francis Dean, so der Name des Jungen, hat seinen Vater nie kennengelernt und ist davon überzeugt, ein Versager zu sein – nachvollziehbarerweise, ist er doch an allem gescheitert, was er je begonnen hat.

Sein Leben vollzieht eine abrupte Kehrtwende, als er nach einem Selbstmordversuch seiner Mutter erfährt, dass er durch künstliche Befruchtung in einer Samenbank mit hochintelligenten Spendern entstanden ist. Mit seinem besten Freund Grover und einer Patientin aus der psychiatrischen Klinik, in der seine Mutter behandelt wird, macht er sich zu einem Roadtrip von der Ostküste zur Westküste quer durch die Vereinigten Staaten von Amerika auf, um seinen Vater und damit auch sich selbst zu finden. Die Reise, die die drei Jugendlichen von Claymont über New York, Las Vegas, San Francisco und Los Angeles nach Tijuana in Mexiko und wieder zurück nach New Jersey führt, entpuppt sich für Francis als Zerreißprobe ihrer Freundschaft und Liebe, seiner Entschlossenheit, Hoffnung und Träume, seiner ganzen Existenz.

Vor allem im letzten Drittel des Textes überschlagen sich die unvorhersehbaren Ereignisse, mit denen Wells eine beinahe nervenzerreißende Spannung aufzubauen weiß. Dass man dafür im ersten Teil einige Längen hinnehmen muss, in denen kaum etwas passiert, ist verkraftbar, denn es ist für den Leser unschwer zu erkennen, dass die scheinbare Trivialität vieler Passagen mit der Unentschlossenheit und dem Zweifeln des Protagonisten korreliert und dadurch entscheidend zu der unsicheren Atmosphäre beiträgt. Und trotz der zunächst zögerlichen und stockenden Handlung ist die Storyline schnurgerade wie ein amerikanischer Highway. Wells lässt den Leser niemals den Sinn der Reise aus den Augen verlieren und hält konstant an seinem Ziel fest. Erst gegen Ende geht dieses Ziel der Hauptfigur und damit auch dem Leser verloren. In der daraus resultierenden Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit, in der das Individuum auf nichts anderes als sich selbst zurückgeworfen ist, spielt Wells einige wohl überlegte Trümpfe aus und gibt so der Handlung gekonnt eine völlig unerwartete neue Richtung.

Der Anspruch dieses Buches liegt in seiner Struktur und in seinem einfühlsam vorgetragenen Inhalt. Dass Wells seine tiefgründige Geschichte in einer jungen und dabei manchmal etwas saloppen Sprache präsentiert, mag anfangs irritieren; es sollte jedoch keinesfalls über das große erzählerische Potential dieses jungen Autors hinwegtäuschen. Denn was er erzählt, ist nicht nur intelligent – ihm gelingt ein Weiteres, was ein gutes Buch leisten sollte: Mit seinem Thema regt es existenzielle Fragen nach Herkunft und Persönlichkeit, Leistungsfähigkeit, Antrieb, Fremd- und Eigenverantwortung für das eigene Leben an. Am Ende von „Fast genial“ steht ein junger Mann, der aus seiner größten Enttäuschung und Ausweglosigkeit seine größte Chance erhält: Die Kraft, sein Leben ohne Illusionen neu und ohne Anerkennung einer schicksalweisenden Instanz zu gestalten. Ein Mann, der aus Liebe und der Entschlossenheit heraus, besser zu sein als er es sich selbst zutraute, alles für die wichtigsten Menschen in seinem Leben aufs Spiel setzt. Wortwörtlich: An einem Roulettetisch in Las Vegas.

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Benedict Wells: Fast genial. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2011.
322 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783257862096

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