Plädoyer für das Leben

„Das Wiesenhaus“ ist das Debüt eines besonderen Erzählers

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Wiesenhaus“ ist der Debüt-Roman eines besonderen Erzählers, des Journalisten Christoph Schmitz. Er handelt von Johannes, einem gerade 40-jährigen, der weiß, dass er vermutlich bald sterben wird. In Johannes Körper tobt der Krebs, in Darm und Lunge haben sich Geschwüre eingenistet. Der Onkologe macht ihm vage Hoffnungen, er habe „durchaus Chancen“. Der Kranke liegt im Bett – eine Wärmflasche auf seinem Bauch, darauf ein Laptop – und schreibt. Die Angst vor dem Sterben und dem Vergessenwerden lässt ihn erzählen, bevor er vergisst und „bevor ich vergessen werde“, tippt er: „Die Erinnerungen halten mich.“

Johannes erzählt von seiner Kindheit und von seiner Jugend in einer kleinen Stadt am Rhein, er erzählt von seinem Onkel Joseph, Jupp genannt, dem „Liebling, der Kronprinz, in ihn wurden alle familiären Hoffnungen gesetzt“. Jupp war der beliebteste und gleichzeitig gefürchtetste Spielgefährte. Jupp „brauchte uns als Publikum und Opfer“ – beispielsweise für seinen „Kaninchenfangschlag“, er denkt sich Spottnamen für die Kinder aus, spielt ihnen Streiche, er fährt mit seinem roten Käfer von Dorf zu Dorf und geht mit den Kindern baden.

Doch der lachende Onkel hat eine dunkle Seite: „Etwas Gefährliches schlummerte in diesem Mann. Manchmal brach es aus.“ Er bringt die Kinder mehrmals in Lebensgefahr, als er beispielsweise von einer Brücke mit Steinen nach deren auf dem Rhein dümpelnden Schlauchboot wirft. Jupp setzt sich über jede Ordnung hinweg, stiehlt gar die Osterkerze aus der Kirche und verprasst das Erbe der Großmutter – sogar das dem Roman den Titel gebende und als Rückzugsort angelegte Wiesenhaus im Garten.

Nichts ahnend verteidigt die Großmutter Jupp stets, nur der Hochzeit mit einer Protestantin bleibt die tief im katholischen Glauben verwurzelte Großmutter fern; vielleicht auch, weil Jupps Frau „zu wenig rheinischen Stallgeruch“ hatte, vermutet Johannes.

In der Geborgenheit des Hauses und der Familie scheint es „gar keinen Unterschied zwischen damals und heute“ zu geben, die „Zeiten waren verknäult“. Der Erzähler knäult die Erinnerungen zusammen und hüllt sein durchschnittliches, bürgerliches Leben in einen Kokon, „der auf Dauer angelegt ist, er würde bleiben, selbst wenn die Gerüche vergingen“. Die Sammlung von Erinnerungen, Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen ergibt ein einzigartiges Bild, eine Kollage der Jugend. Es sind diese scheinbaren Kleinigkeiten, die eine Kindheit ausmachen. Christoph Schmitz führt uns zurück auf gewachste Holzböden, auf die Streuobstwiesen, an den Rhein, zur ersten Liebe und in ein Klassenzimmer, das jeder kennt.

Wer erinnert sich nicht an den Geruch der dampfenden Kochtöpfe und das köchelnde Obst, an das Gewicht einer schlechten Klassenarbeit im Ranzen oder an das Gefühl, erstmals den nackten Körper eines anderen Menschen zu berühren? Schnell ist der Leser gefesselt vom – ganz im Sinne Konrad Ehlichs – gelungenen Transfer von Erfahrung, den Sinneseindrücken, die aus den Seiten des Romans strömen. Eigene Erinnerungen werden wieder ins Bewusstsein geholt, regen Assoziationen an und nähern sich dem Leben des Lesers. Der Leser findet sich in den Charakteren wieder. Gemeinsamkeit, eine Intersubjektivität von Sinnbildung wird geschaffen. Aus den niedergeschriebenen Erinnerungen eines Sterbenden wird plötzlich Kraft für die Lebenden.

Indem Christoph Schmitz den Kindheitserlebnissen den nahenden Tod gegenüberstellt, wird das Buch zu einem eindrucksvollen, bildgewaltigen Plädoyer für das Leben und das Bewahren des Kindlichen. Das Wiesenhaus spielt dabei eine zentrale Rolle, dort versteckt sich die Familie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, um dem Rumoren der Artillerie und den nahenden Panzern zu entgehen. Ins Wiesenhaus zieht sich Johannes während seines Studiums zurück, um allein zu sein. Das Wiesenhaus ist der generationenübergreifende Fluchtpunkt der Familie. Als das Wiesenhaus umgebaut wird, wirken die Räume „traurig und müde“. Der Umbau und der Bruch von Johannes mit dem gefährlichen Onkel Jupp führen Johannes auf den Weg in das Erwachsensein, zu einer Freundin und auf Reisen nach Italien. Die Kindheit ist unweigerlich vorbei. Die eigentliche Botschaft des Buches ist, dass die kindlich naive Unbeschwertheit und der klare Blick eines Kindes auf die Realität in der Seele jedes Erwachsenen bewahrt werden müssen. Indem die Großmutter über ihr Alter witzelt und „Späße über das graue Haar und das Gebiss mit der rosa Gaumenplatte“ macht, erhält sie ihre Kraft. An das Sterben denken Kinder nicht, „der Tod war so gut wie fort“. Beneidenswert!

Titelbild

Christoph Schmitz: Das Wiesenhaus. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
196 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422854

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