Hetärenideologie und Prostitution

Irene Weiser und Jürgen Gutsch legen die erste verlässliche Edition von Franziska zu Reventlows Tagebüchern vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 1918 starb Franziska zu Reventlow, die einstige Schwabinger Bohémienne, der das in Klages und George-Kreisen beliebte, scheinbar so umstürzlerisch-befreiende, tatsächlich aber reaktionär-misogyne Weiblichkeitsideal der (ledigen) "Mutter und Hetäre" wie keiner anderen auf den Leib geschrieben zu sein schien. Schon sieben Jahre später veröffentlichte ihre Schwiegertochter Else Reventlow die Tagebücher der literarischen Chronistin Wahnmochings. Sie verkauften sich gut genug, um nur zwei Jahre darauf eine Neuauflage zu rechtfertigen. Dann aber sollte es - wohl nicht zuletzt durch den Nationalsozialismus und die anschließende Restauration verschuldet - bald ein halbes Jahrhundert dauern, bis 1971 die Tagebücher erneut zu erwerben waren. Wiederum zeichnete Else Reventlow als Editorin verantwortlich. Zu danken dürfte die erneute Herausgabe ebenso wie die fünf Jahre später folgenden Taschenbuch-Ausgabe der zu Beginn des Jahrzehnts heraufziehenden und in dessen Mitte fast schon auf ihrem Gipfelpunkt stehenden Frauenbewegung sein. 1980 erfolgte eine weitere Ausgabe. Diesmal im Rahmen einer vierbändigen Schriften-Ausgabe.

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts war allerdings keine der Ausgaben und Auflagen mehr auf dem Markt; bis 2004 im Igel-Verlag eine fünfbändige Werkausgabe erschien. Für die Tagebücher fungierte nun erstmals nicht mehr die zwischenzeitlich verstorbene Else Reventlow als Herausgeberin, sondern Brigitta Kubitschek, die sich mit ihrer Dissertation einen Namen als führende Reventlow-Forscherin gemacht hatte. Wie sollte es also zu rechtfertigen sein, dass gerade einmal zwei Jahre später eine weitere Ausgabe erscheint? Diesmal herausgegeben von Irene Weiser und Jürgen Gutsch, die erst kürzlich zusammen mit Detlef Seydel durch die Edition des Briefwechsels der Gräfin mit einem ihrer Schwabinger Geliebten, Bohdan von Suchocki, hervorgetreten sind.

Tatsächlich ist die "[a]us dem Autograph vollständig und textkritisch herausgegeben[e]" Neuausgabe durch Weiser und Gutsch nicht nur gerechtfertigt; sie tat mehr als Not. Denn alle bisherigen Editionen der Tagebücher weisen gravierende Mängel und Lücken auf. Dass Else Reventlow in der Ausgabe von 1925 unter Rückgriff auf den Schwabingroman ihrer Schwiegermutter ("Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil") etliche Namen verschlüsselt hatte, war bekannt; sie hatte selbst darauf hingewiesen. Unbekannt war jedoch bislang, dass der 1925 veröffentlichte Text (wie die HerausgeberInnen der vorliegenden Edition feststellen mussten) gerade einmal 80 Prozent von Reventlows Tagebuch-Eintragungen wiedergibt. Der von 1971, auf dem auch Kubitscheks Edition fußt, bringt es auf 85 Prozent.

Die von Else Reventlow zu verantwortenden Auslassungen und die nicht minder zahlreichen Abweichungen vom ursprünglichen Tagebuch-Text deuten darauf hin, dass sie ihre Schwiegermutter (ebenso wie ihren Gatten) in einem möglichst positiven Licht erscheinen lassen wollte. Die HerausgeberInnen der vorliegenden Edition kritisieren in ihren einführenden Bemerkungen gar, dass Else Reventlow den Text aus einer "quasi-hagiographische[n] Perspektive" heraus "manipuliert" habe. Und tatsächlich: Wie die, von Irene Weiser und Jürgen Gutsch in den einleitenden Bemerkungen zu ihrer eigenen Ausgabe überreichlich angeführten Beispiele belegen, kann man es wohl nicht freundlicher ausdrücken. Allerdings ist Weisers und Gutschs Kritik an Else Reventlows Edition selbst nicht völlig fehlerfrei. So monieren sie, Else Reventlow habe die kurze Notiz "Die unheimlichen Riesenmaschinen nachher im Zollhaus" getilgt, um ihre Schwiegermutter "nicht als Dummchen erscheinen" zu lassen. Tatsächlich enthalten sowohl die Ausgaben von 1925 als auch diejenige von 1971 die Passage sehr wohl, wenn auch in leichter Abwandlung: "Die unheimlichen Riesenmaschinen. Nachher im Zollhaus".

Dieses kleine Versehen der HerausgeberInnen der vorliegenden Ausgabe tut der Berechtigung ihrer Kritik an der Else Reventlows editorischer Tätigkeit insgesamt jedoch keinen Abbruch. Und was die Ausgabe von Kubitschek betrifft, so versichert diese zwar in ihrer "Editorischen Notiz", sie habe "Irrtümer" und "Druckfehler" der von Else Reventlow herausgegebenen Tagebücher unter Heranziehung der Handschrift "beseitigt". Tatsächlich hat sie jedoch selbst die schwerwiegendsten Auslassungen und Abweichungen nahezu ausnahmslos übernommen. Man kann nur vermuten, dass sie doch nicht mehr allzu genau in die Handschrift geschaut hat.

Nun wird man aufgrund der Edition von Weiser und Gutsch zwar kaum ein völlig neues Bild von Reventlow entwerfen müssen. Einige Pinselstriche sind aber durchaus anders zu setzen. Da ist zunächst und zuvorderst Reventlows - wie sie bislang immer gerne genannt wurde - "Gelegenheitsprostitution" anzusprechen, die so gelegentlich gar nicht war. War man bislang nicht zuletzt aufgrund der bisherigen Tagebuch-Editionen davon ausgegangen, dass es Reventlow zwar vielleicht nicht gerade sonderlich angenehm gewesen sein mochte sich zu prostituieren, sie es aber letztlich doch relativ leichten Herzens tat, so mutete dies durchaus einleuchtend an, da diese Haltung mit dem auch von ihr propagiertem 'Ideal des edlen Hetärentums' zu vereinbaren schien.

Nun macht die neue Edition allerdings nicht nur deutlich, wie sehr Reventlow sich selbst in den Tagebüchern scheute, das Thema anzusprechen, sondern mehr noch, wie sehr die harte, oft brutale Realität der Prostitution mit der Ideologie des Hetärentums kontrastierte und schließlich, dass Reventlow nicht eben wenig darunter litt, sich prostituieren zu müssen. So notierte sie bereits im Januar 1897: "Bei mir war es manchmal auch ein Muß. [...] Aber still davon. All diese Sachen schreibe ich nicht einmal auf und niemand weiß davon. Man muß sogar sich selbst gegenüber diskret sein". Anderthalb Jahre später klagt sie schon heftiger: "Ach Gott ich mag nicht mehr, es kommt ja doch nichts mehr dabei heraus wie beim Übersetzen, niemals der wahre grüne Zweig. Und all die peinlichen Gefahren für die ich jetzt [angesichts ihres Kindes] mehr Sinn habe. Ganz da hineinzutauchen passt mir nicht, dann ist man wieder nicht sein eigner Herr." Froh ist sie nur, "wenn ich etwas mehr Geld in der Tasche hab und wieder bei meinem Bübchen bin".

Ein "Verbrechen" mag sie allerdings auch nicht in ihrer Prostitution sehen. Es ist vielmehr die mit ihr einhergehende Gefahr und die Entwürdigung, die sie beklagt. So erwähnt sie im Juli 1908 eine "üble Aventiure Abends im Hofgarten", bald darauf, ein "mesquine[s] Rendezvous", das ihr "30. M." einbrachte und "sehr unangenehm" war. Inzwischen wünscht sie sich längst, "aus all diesem Greuel herauszusein. Ums Sendlinger Thor herum zu wandeln ist doch ein etwas zu tiefer Grad für mich." Auch wenn es Reventlow durchaus keinerlei Probleme bereitete, für einen Mann ein bloßes Sexobjekt zu sein ("Begehren des Mannes ist nie eine Beleidigung, selbst dann nicht, wenn rein gelegenheitlich und ohne alle 'seelische Beimischung'"), hätte sie sich kaum jahrelang immer wieder prostituiert, ohne durch finanzielle Katastrophen ("Ich bin wieder einmal so weit dass ich bei dem Wort Wurst Herzklopfen kriege.") dazu gezwungen gewesen zu sein. So darf man aufgrund der vorliegenden Tagebuch-Edition zumindest vermuten.

Die Prostitution ist keineswegs der einzige Lebensbereich, der in den Editionen Else Reventlows verfälschend dargestellt oder gar getilgt wurde. Konsequent ausgelassen wurden etwa Passagen über den nächtens wohl nicht unüblichen Austausch von Zärtlichkeiten zwischen Reventlow und ihrem Sohn. Eine in der Editionen von Weiser und Gutsch erstmals publizierte Tagebuchstelle verrät zudem, dass Reventlow nicht nur - wie bisher bekannt - zu verschweigen wusste, wer der Vater ihres Sohnes war, sondern dass sie sich in dieser Frage selbst gar nicht so sicher war. Auch präsentieren Weiser und Gutsch dem Lesepublikum erstmals die - allerdings sehr seltenen - antisemitischen Bemerkungen. Und hat man sich bei der Lektüre von Reventlows Briefwechsel mit Suchocki gewundert, dass in den ihn betreffenden Tagebuchnotizen so wenig von der liebevollen Sprache zu finden ist, mit der Reventlow ihn in den Briefen liebkost, so findet man durch die Neuedition von Weiser und Gutsch die Erklärung: Else Reventlow hat es vorgezogen, die von ihrer Schwiegermutter für Suchocki ersonnenen Koseworte weitgehend durch eine nüchternere Ausdruckweise zu ersetzen. Andere, weniger strikt betriebene Auslassungen und Änderungen Else Reventlows sind so zahlreich, dass sie kaum zu zählen und schon gar nicht aufzuzählen sind. Gelegentlich erscheinen sie zufällig oder allein durch den Seitenumbruch des Manuskripts bedingt.

Hat sich Else Reventlow die Verfälschung der Tagebücher ihrer Schwiegermutter wohl aus persönlichen Gründen (der Zuneigung) zu Schulden kommen lassen, so muss man Kubitschek, die all das fast unbesehen übernommen hat, mangelnde philologisch-editorische Sorgfalt vorhalten. Um so größeren Dank ist Irene Weiser und Jürgen Gutsch nicht nur dafür zu zollen, dass man nun um die Mängel der bisherigen Editionen weiß, sondern mehr noch dafür, dass sie als erste eine mit der notwendigen wissenschaftlichen Akribie erstellte Edition vorgelegt haben. Kurz: Von nun an gibt es nur noch eine zitierfähige Ausgabe, diejenige von Weiser und Gutsch.

Deren Verdienst wird auch dadurch nicht geschmälert, dass ihre Kommentierung nicht in jedem Fall überzeugend ist. So macht Thomas Manns Erzählung "Beim Propheten", durchaus nicht "klar, dass er sich zumindest im Jahr 1903 noch nicht lückenlos auskannte im damaligen Ambiente Schwabings" und "vermutlich auch von FRs [d.i. Franziska zu Reventlow bzw. wie die HerausgeberInnen bevorzugen: Fanny zu Reventlow] satirischer Tätigkeit im 'Schwabinger Beobachter' im Jahr darauf kaum Kenntnis genommen haben wird". Denn schließlich handelt es sich bei Manns Erzählung um einen fiktionalen Text, ganz abgesehen davon, dass der Schluss der HerausgeberInnen auf Manns spätere Kenntnisse alles andere als zwingend ist.

Bleiben noch zwei Bitten für hoffentlich recht bald notwendig werdende künftige Auflagen: Zunächst einmal wäre es schön, wenn eine Zeichnung aus dem Tagebuch, die laut einer Fußnote zeigt, wie Mutter und Sohn gemeinsam in einem offenbar schmalen Bett schlafen, abgedruckt würde (ebenso wie eventuelle weitere); und sodann wäre ein Verzeichnis der in den kommentierenden Fußnoten verwendeten und zitierten Literatur und archivalischen Texte sehr hilfreich.


Titelbild

Franziska Gräfin zu Reventlow: „Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich“. Tagebücher 1895-1910.
Vollständig und textkritisch herausgegeben von Irene Weiser und Jürgen Gutsch von Irene Weiser und Jürgen Gutsch.
Verlag Karl Stutz, Passau 2011.
583 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783888492082

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