Die Ideologie von der Moderne

Hannah Arendts Eichmann-Deutung wird wieder verhandelt

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hannah Arendts Bericht vom Prozess gegen Adolf Eichmann veränderte den Blick auf die NS-Täter: vom Schauer und von Sensation erregenden Bild des Schlächters zum kühlen und unauffälligen Schreibtischtäter. Der Untertitel des Buchs, als das ihr Prozessbericht schließlich erschien, die "Banalität des Bösen", so ist Julia Schulze Wessel zuzustimmen, hat "Karriere gemacht wie kaum ein anderer Begriff aus der NS-Forschung."

Im Anschluss an Arendt etablierte sich eine Deutung, die Eichmann als beflissenen, autoritätshörigen Bürokraten darstellt. Damit war eine bestimmte Sicht auf den Nationalsozialismus im allgemeinen und auf die Judenvernichtung im besonderen verbunden. Geht es um Eichmann, dann wird stets mehr verhandelt als der konkrete Fall, "anhand seiner Person wird über den allgemeinen Charakter des NS-Regimes gestritten." In den letzten Jahren wurde das gängige Eichmann-Bild demontiert, und damit geriet auch Arendt in Kritik. Dass ersteres zurecht geschah, zweiteres aber zu Unrecht, das möchte Schulze Wessel in ihrer Studie zeigen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Arendts opus magnum "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" von 1951, und "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" von 1964. Aber sie bezog das gesamte Werk Arendts mit ein und griff auch umfangreich auf Quellen im "Hannah Arendt-Archiv" in Oldenburg zurück.

Schulze Wessel weist eine Fortentwicklung, ja Radikalisierung der Gesellschaftsdiagnose von den "Elementen und Ursprüngen" zur "Banalität des Bösen" nach. Im Mittelpunkt steht hierbei der Antisemitismus-Begriff. Der Antisemitismus unter totaler Herrschaft sei nicht mehr als "Antisemitismus" zu fassen, weil der Inhalt des Antisemitismus, also das Hassobjekt, nach und nach verschwunden sei. Der neue Antisemitismus richte sich nicht mehr auf "konkrete Menschen", deswegen seien judenfeindliche Handlungen nicht mehr notwendig "an antisemitische Überzeugungen der Beteiligten gekoppelt." Aber bestand eine Kluft "zwischen den ideologischen Aussagen und den realen Erfahrungen mit der verurteilten Gruppe" nicht schon immer? Ist dies nicht gerade das, was das Vorurteil ausmacht: keine Erfahrung zuzulassen, sie nicht zu brauchen und sie auch nicht zu wollen?

So generös war auch das Pogrom schon: "konkrete Menschen" waren noch nie gemeint, sie waren immer nur Anlass, korruptes Material für den windigen Beleg der Richtigkeit des Vorurteils. Wenn man Antisemitimus nur als "persönliches Ressentiment" anerkennt, dann mag Eichmann kein Antisemit gewesen sein. Aber was ist mit den Aussagen von Rudolf Höß und Eichmanns Kollege Dieter Wisliceny, was mit den Interviews, die Eichmann nach dem Krieg in Südamerika gab, die das Gegenteil zeigen und die Schulze Wessel auslässt? "Die Frage [...] ob er Antisemit war oder nicht", so Schulze Wessel selbst, sei für ihre Untersuchung "irrelevant" - eine großzügige Kleinigkeit, wenn man bedenkt, dass Eichmann der Organisator der Vernichtung von fünf bis sechs Millionen Juden war. Wenn dies für sie irrelevant ist, wieso macht sie dann so eifrig Aussagen darüber? Eichmann war in der Tat, so Arendt, "no monster, no murderer, no fanatic" - aber muss man dies sein, um als Antisemit gelten zu dürfen?

Die Betrachtung Eichmanns war von Anfang an schief. Arendt stellte an den Beginn ihres Berichts ihr Erstaunen über die Differenz zwischen dem unscheinbaren äußeren Erscheinungsbild einerseits und dem Bild, das man sich von ihm auf Grund seiner Taten gemacht hatte, bevor man ihn zu Gesicht bekommen hatte, andererseits. Auch Schulze Wessel zieht ihre resümierende Argumentation von hier aus auf. Dieser Abgrund aber zwischen schillernder Phantasie und banaler Realität sollte nicht dazu dienen, sich eine Erklärung für Eichmanns Handeln zu basteln, die die Banalität der äußeren Erscheinung in die Tat verlegt, sondern sie sollte eher Erstaunen über die Klischeehaftigkeit des eigenen Denkens hervorrufen.

"Der Hinweis darauf, dass er Juden persönlich nicht hasste", so Schulze Wessel, diente bei Arendt "nur dazu, die Aufmerksamkeit auf ein anderes Phänomen zu lenken, auf etwas, das Eichmanns Mentalität besser zu fassen bekommt. Mit der Abgrenzung vom Antisemitismus rückt Arendt etwas ins Licht", nämlich "eine neue Mentalität", die Schulze Wessel "Ideologie der Sachlichkeit" nennt und folgend in den Vordergrund stellt. Die Judenvernichtung des neuen Antisemitismus, der als "Antisemitismus" nicht mehr bezeichnet werden könne, war die erste Tat dieser Ideologie. Charakteristisch für sie sei, dass sie "nur noch im [sic!] Denken von Planung und Durchführung verhaftet" sei. Sie sei eine Ideologie, "die nicht auf spezifische Inhalte festgelegt ist, sondern eher auf Verfahrensweisen, auf ein Denken in Effizienzkriterien, auf Technik und Administration."

Hiermit kann man Form und Inhalt sauber voneinander trennen, übrig behält Schulze Wessel dann "das stereotype Denken als solches", "das Klischee, das heute antisemitisch sein kann und morgen etwas ganz anderes ausdrückt [sic!]." Sie hat dann ein Denken ohne Inhalt - was damit kein Denken mehr, sondern nur noch ein Unding ist. Diese sinnlose Rede von 'Denken' aber eröffnet theoretische Spielräume, mit denen man zum einen, wenn auch nolens volens, Eichmann entschulden, zum anderen sich ebenso allgemeine wie beliebte Aussagen über 'die Moderne an sich' erlauben kann.

"In den Verteidigungsstrategien des Angeklagten scheint die ganze Krise der Moderne auf." Eichmann habe nur der Sinnlosigkeit des modernen Individuums entkommen wollen, als er zum SD ging, nur "egoistische, rein selbstbezogene Interessen" hätten ihn angetrieben, keine ideologische Motivation. Darüberhinaus sei er "abhängig [...] von vorgegebenen Meinungen und festen Strukturen" gewesen. Aber nicht nur deswegen habe er sich im Judenreferat des Reichssicherheitshauptamts besonders wohlfühlen müssen, sondern auch weil es dort keine Gewissenskonflikte geben konnte, weil er sich in einer Umwelt bewegte, die seine Taten nicht in Frage stellte. Die Lüge sei universell geworden und deswegen nicht mehr durch Wahrnehmung korrigierbar. Ist die Sprachregelung, die Schulze Wessel als Beispiel anführt, mit der die Judenvernichtung verschleiert werden sollte, nicht gerade ein Beleg dafür, dass die 'Schreibtischtäter', die nur nach gängigem Klischee büroklammernverbiegend zwischen Aktentasche und Registratur saßen, sehr wohl wussten, was sie Ungeheures taten? Denn sonst hätten sie es ja nicht mit einer besonderen Sprachregelung verdecken müssen.

An der Ideologie der Sachlichkeit kritisiert Schulze Wessel gewisse "planende, bevölkerungspolitische Elemente, Vorstellungen und Wunschfantasien über [sic!] ein neues Ordnungsmodell von Gesellschaft, einer Gesellschaft, in die der Mensch nach seinem Belieben eingreifen kann." Diese "Hybris" beschwört sie immer wieder. Aber wer, wenn nicht der Mensch, sollte in etwas eingreifen, was er selbst gemacht hat und wonach, wenn nicht nach seinem Maß? Hat man die Judenvernichtung wirklich damit erfasst, wenn man über die moderne Gesellschaft sagt, dass sie "alles gleich macht und keine Abweichung duldet"? Wieso haben Deutsche dann konforme deutsche Juden vernichtet? So kann man den Antisemitismus austreiben und braucht sich mit den in ihm artikulierten Vorstellungen nicht mehr zu beschäftigen. Diese Gefahr besteht, wenn man Arendts Gedankengängen sich zu weit überlässt. Sicherlich ist es richtig und ihr gutes Recht, dass Arendt nur den für sie "drängendsten Fragen" nachging, aber da sie dabei ihren Gegenstand aus dem Auge verlor und ganz und gar ihrer Diagnose über 'die Moderne an sich' unterordnete, sollte man, so weit dies möglich ist, brauchbare Analyse und Diagnose einer Pathologie der Moderne voneinander trennen.

Das gleiche gilt für Schulze Wessels Arbeit. In der Grundtendenz folgt sie einem verselbständigten Diskurs über 'die Gewalt/die Ordnung und die Moderne', den Zygmunt Bauman und Wolfgang Sofsky in der etablierten Intelligenz und Enzo Traverso in der Linken populär gemacht haben und in dessen eingefahrene glatte Denkwege man sich nur hineinzusetzen braucht, um sogleich Fahrt zu gewinnen, dass einem Hören & Sehen vergeht. Es ist sinnvoll, die Transformationen des Antisemitismus zu verzeichnen und den neuen Antisemitismus gegen andere Formen abzusetzen. Aber wenn man ihn auflöst, dann kann die Shoah nicht begriffen werden. Arendt deutete die Judenvernichtung an einigen Stellen von "Elemente und Ursprünge" als negative Bevölkerungsplanung. Schulze Wessel hält sie deswegen für "radikaler" als die Arendt-Kritiker, weil Arendt grundsätzlich jede Bevölkerungsgruppe für vernichtungsbedroht ansah. Dies aber ist eine Radikalität, die nicht weiß, wohin sie führt. Schulze Wessel handhabt die Sekundärliteratur souverän, lässt aber die Deutungen etwa Paul Gerhards zur entlastenden Funktion von Arendts Theorie aus. "Eichmann in Jerusalem" wurde nicht zuletzt deswegen so begeistert rezipiert, weil er deutsche Verbrechen in einer Malaise der Welt im allgemeinen aufgehen ließ. Die Witterung solcher weltanschaulichen Nutzung geht Schulze Wessel leider ab. Stattdessen leistet sie dieser weiteren Vorschub.

Auf der anderen Seite sind Schulze Wessels Ausführungen über den Führerwillen sehr erhellend. Hier werden dann auch ihre blass formellen Sätze wie der, dass die "Gefahr der Arbeitsgesellschaft" darin bestehe, dass diese "von Menschen nichts weiter verlange, als ihre Arbeit zu tun", in den richtigen Zusammenhang gesetzt: Eichmann nämlich zeigte "grenzenlose Eigeninitiative [...], um das Projekt möglichst perfekt durchzuführen." Hier demontiert sie durch eine Synthese verschiedener nur kurzer Ausführungen zum Führerwillen das Bild von Eichmann als nur ausführendem Organ. In der freiwilligen Aneignung des Führerwillens zeigt sich das "Paradox von [sic!] einer Form von Selbständigkeit in der totalen Unselbständigkeit." Der Führerwille wurde bereitwillig übernommen, brauchte nicht aufgezwungen zu werden. Man unterwarf sich einem ungeschriebenen Gesetz, das man selber manifestierte, indem man sich in politischen Maßnahmen als "Autor dieses Gesetzes" betätigte.

Hier verlässt sie dann einen verkürzten Ideologie-Begriff, wie man ihn auch in der so genannten "neuen Täterforschung" und in den Debatten über diese findet: eine Tat sei nur dann antisemitisch zu nennen, wenn Täter das gesamte Weltbild des Antisemitismus aufsagen können. Der Antisemitismus aber vollzog sich durch die Taten hindurch, unter Umständen ohne dass dies in der Intention der Täter gelegen haben muss. Die Tat bestimmt sich von ihrem Resultat her. Nun ist natürlich nicht jeder tote Jude ein Opfer von Antisemitismus, aber die Leichen, die im Rahmen des Projekts der 'Vernichtung der jüdischen Rasse' produziert werden, sehr wohl. Die Tat spricht über den Täter; was im Täter steckt, das kann man ohnehin nicht wissen, das weiß er selbst vielleicht auch nicht.


Titelbild

Julia Schulze Wessel: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
248 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518293966

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