Ehrliche Fiktionen

Ágnes Hellers Memoiren

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natürlich sind Memoiren keine Geschichtsbücher, denn sie bieten einen dezidiert subjektiven Blick auf die Ereignisse. Genauso wenig aber sind sie Tagebücher. Anders als diese betrachten sie das Leben aus der Retrospektive. Und das Gedächtnis ist ein kreativer Baumeister. Daher dürfte es Ágnes Heller in ihren Erinnerungen kaum gelungen sein, "die Dinge" so zu beschreiben, "wie ich sie gesehen habe". Was aufrichtige Memoiren vielmehr vermögen, ist "ehrliche Fiktionen" vorzuweisen.

Die Autobiographie der 1929 geborenen Ungarin entstand aus Gesprächen mit János Kobánai, die auf 32 Tonbandkassetten zu je 90 Minuten festgehalten worden sind, und wurde von ihrem Gesprächspartner "bearbeitet". Inwieweit der Bearbeiter im Nachwort zurecht von einem "gemeinsamen Werk" spricht, vermag man nicht zu beurteilen. Jedenfalls liegt das Copyright nicht bei Heller, sondern bei ihm.

Wie viele Memoiren beginnen auch die Hellers mit Kindheits- und Jugenderinnerungen. Meist sind sie belanglos, manchmal etwas sentimental und in der Regel eher uninteressant. Doch gerade diese frühen Erinnerungen enthalten nicht nur die titelstiftende Anekdote, sondern - weit wichtiger - den beeindruckendsten Teil des ganzen Buches. In schlichten und unprätentiösen Worten schildert Heller, wie ihr Vater zahlreiche Juden vor dem KZ bewahrte, bevor er selbst festgenommen wurde und in Auschwitz starb.

Reflexionen und Bewertungen durchziehen die Jugenderinnerungen wie das ganze Buch: Den Judenstern verstand die junge Ungarin mit Stolz zu tragen. Diejenigen hätten sich schämen sollen, die sie zwangen, ihn an die Brust zu heften. "Der Holocaust", sinniert sie, "ist nicht zu verstehen, denn er gehört nicht zu den rationalen historischen Ereignissen". Dessen ungeachtet weiß sie an anderer Stelle eine - allerdings nicht nachvollziehbare - Begründung für die Shoa anzuführen: Hitler wollte Gott besiegen. "Und Gott vermochte er nur zu besiegen, indem er das auserwählte Volk vernichtete." Damit war sein Schicksal aber auch schon so gut wie besiegelt. Denn "Gott war nicht zu besiegen, und so war Hitlers Niederlage abzusehen." Bei alldem bescheinigt sie ihm, ein "ehrlich überzeugter, begeisterter Mensch" gewesen zu sein.

1947 trat Ágnes Heller, gerade mal 18-jährig, in die Kommunistische Partei Ungarns ein. Nach der Niederlage der Revolution von 1956 wurde sie aus der Partei ausgeschlossen, gerade in dem Jahr, in dem sie begann, Marx zu lesen. Als führendes Mitglied der Budapester Schule erhielt sie 1973 schließlich Berufs- und Publikationsverbot.

Die Darstellung der innerparteilichen Fraktions- und Linienkämpfe der KPU ist wenig aufschlussreich und ermüdet schnell, kommt sie doch über den kommunistischen Jargon der Links- und Rechtsabweichler kaum hinaus. Über die Inhalte der Differenzen der verschiedenen Flügel und Fraktionen erfährt man nichts. Denn heute, so die Autorin lapidar, sehe sie "keine Unterschiede" mehr. Allesamt seien sie eben kommunistisch gewesen.

Allerdings beklagte sie damals schon, so erinnert sie sich, dass es sich in Ungarn nicht um eine Diktatur des Proletariats gehandelt habe, sondern um eine der Partei. Sie scheint nicht wissen zu wollen, dass schon Lenin keine Bedenken trug, die Diktatur der Partei zu befürworten. Und sie verschweigt, dass Lukács' Schrift "Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats" (1923), die sie als "das einzige marxistische philosophische Werk, das je geschrieben wurde," lobt, zumindest implizit eine detaillierte ideologische Begründung eben der Diktatur der Partei liefert.

Dabei ist György Lukács beinahe die einzige Person, deren Charakterisierung nicht farb- und konturlos bleibt. Über Lucien Goldmann, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Iring Fetscher und Herbert Marcuse, die sie 1965 während der Sommeruniversität auf Korcula kennen lernte, erfährt man kaum etwas. An Marcuse bemängelt sie kurz, er habe sich aufgeführt wie ein "Fußballstar" und dabei doch nur das philosophische "Niveau eines Neoprimitivismus" erreicht. Und von Bloch, so erzählt sie stolz, erhielt sie ein Küsschen. Bei solch knappen Bemerkungen belässt sie es aber in der Regel auch schon. Anders, wenn sie auf Lukács zu sprechen kommt, ihren ehemaligen Lehrer, mit dem sie später lange Jahre gleichberechtigt zusammenarbeitete. "Er glaubte, der Weltgeist habe sich in seinem Kopf eingenistet", berichtet sie mit leichter Häme. Ein Glaube, den er mit einer ganzen Reihe - nicht nur kommunistischer - Philosophen gemein haben dürfte. Doch erfährt man über ihn sogar Privateres. Etwa dass er Heller und ihrem Gatten öfter mit größeren Beträgen ausgeholfen habe, ohne dazu gebeten worden zu sein. Armut "hingegen interessierte ihn nie", bemerkt Heller en passant und nimmt diese Anmerkung zum Anlass hinzuzufügen, auch Karl Marx habe Armut nie interessiert. In einem kleine Exkurs führt sie als Beleg an, dass ihm die Höhe der Löhne gleichgültig gewesen sei. Auch eine ehemalige Marxistin, die ihrem einstigen Meisterdenker schon längst den Rücken gekehrt hat, sollte eigentlich nicht vergessen haben, dass Marx lehrte, dass es keine gerechten Löhne geben könne. Daraus ableiten zu wollen, ihn habe Armut nicht interessiert, ist wenig plausibel.

Mit Hilfe der "Starparade" von Korcula gelang es Ágnes Heller später im Westen Fuß zu fassen und die Neue Linke zu erleben, als deren Mitglied sie sich eine Zeit lang verstand. Heute hat die Inhaberin des Hannah Arendt-Lehrstuhls an der New School for Social Reserch in New York nur noch Kritik für diese Strömung übrig, bissig, doch wenig sachlich: Die Neue Linke in den USA beschneide die Freiheit. Wer in der Schule, wie sie ironisch formuliert, "Kinder mit Wissen belaste", werde "schnell als terroristische, diktatorische Bestie abgestempelt". Nicht einmal schwulenfeindlich Witze dürfe man erzählen, klagt sie, und berichtet von einem Fernsehmoderator, dem deshalb gekündigt worden sei. Doch "rettete der Geist des Kapitalismus das Opfer". Er sei wieder eingestellt worden, nachdem infolge seiner Entlassung die Einschaltquoten drastisch sanken, wie sie jubelnd kolportiert. Ihre besondere Missachtung finden auch feministische Lehrstühle und gender studies. Hier werde "das große Nichts gelehrt", nur weil Studierende dafür Interesse zeigten. "An meinem Philosophie-Lehrstuhl habe ich das nicht zugelassen. In der Philosophie lehren wir nur Dinge, die Sinn haben".

Titelbild

Agnes Heller: Der Affe auf dem Fahrrad. Eine Lebensgeschichte.
Philo Verlagsgesellschaft, Bodenheim 1999.
508 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3825701395

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