Zielführende Abschweifungen

Wie François Weyergans mit einer witzigen Autofiktion über Schreibhemmungen den "Prix Goncourt" gewann

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die an Aufschüben und Umwegen reiche Entstehungsgeschichte dieses kurzen Romans gäbe selbst den Stoff für einen Roman ab. Und der wäre wohl kaum weniger tragisch-komisch als das vorliegende Buch. Seit dem Jahr 2000 hatte François Weyergans ein Buch mit dem Titel "Drei Tage bei meiner Mutter" öffentlich angekündigt. Einen Vertrag und (längst verzehrte) Vorschüsse für das Buch besaß der ehemalige Filmemacher, Filmkritiker und Autor von zwölf Romanen bereits seit 1992. Die Idee dazu hatte er schon 1974.

In Interviews mit den Magazinen "Lire" und "L'Express" gestand der Autor, dass der unzeitig frühe Verrat des Titels - und die dadurch erzeugten Erwartungen eines biografischen Portraits seiner Mutter - ihn in Schreibkrisen und Umarbeitungsorgien gestürzt haben. Wollte er doch ursprünglich einen Roman über vermischte Erinnerungen schreiben, die während eines Kurzbesuchs beim Stöbern im Hause der Mutter ausgelöst werden. Zu Abschluss und Publikation des Manuskripts durchringen konnte sich Weyergans erst, als er von seinem zweiten Verleger das Angebot bekam, sein unveröffentlichtes Frühwerk "Salomé", 1968 vom damals 27-Jährigen geschrieben und eine Art Quellcode seiner folgenden Romane, zu publizieren. Aus vertraglichen Gründen musste er dazu erst seinen, dem Verlag Grasset zugesagten, neuen Roman publizieren.

2003 hatte der Verlag schon mit der Werbung für das Buch begonnen, das der Autor aber nicht lieferte. 2004 kündigte der Autor sein Buch in der "Revue littéraire" für den gleichen Herbst an. Wieder nichts. Zwischenzeitlich begann er schon, selbstironische Statements über enttäuschte Verlegererwartungen und eigene Produktionsschwierigkeiten zu publizieren. 2005, acht Jahre nach dem von Kritik und Weyergans-Fans bewunderten Buch über seinen ehemals berühmten Vater, den katholisch engagierten Schriftsteller Franz Weyergans, und über den eigenen Weg zum Schreiben (deutsch: "Franz und François", 1999), erscheint endlich ein Kurzroman unter dem angekündigten Titel. Er wird zum literarischen Ereignis der Saison. Denn er, und nicht der durch massive Verlagswerbung und riesigen Medienwirbel gehypte Roman "Möglichkeit einer Insel" von Michel Houellebecq, gewinnt den wichtigsten französischen Literaturpreis, den "Prix Goncourt".

Schon zuvor hatte Weyergans Preise und eine kleine Leserschar gesammelt. Für den Erstling "Le pitre", eine sarkastische Bilanz (s)einer Analyse beim Psychoanalyse-Star Jacques Lacan erhielt er 1973 den Prix Nimier. 1992 bekam er den "Prix Renaudot" für "Der Boxer-Wahnsinn" (deutsch 1994). Und für den großen Roman über die schwierige Beziehung zum Vater, der auch schon von den Schreibschwierigkeiten und Niedergeschlagenheiten seines Alter Egos, dem Erzählerprotagonisten Weyergraf, erzählt, erhielt er den "Grand Prix de la langue française". Das sind alles schöne und ehrenwerte Preise. Doch nicht vergleichbar mit dem "Goncourt", der allein höchste Auflagen und - mindestens saisonal - Ruhm garantiert. Der Preis ist zwar materiell nur noch minimal dotiert, nachdem das im 19. Jahrhundert erhebliche Stiftungsvermögen der Brüder Goncourt durch Inflationen und Wirtschaftskrisen im 20. Jahrhundert wegschmolz. Doch kaum ein mit dem "Prix Goncourt" gekrönter Roman findet weniger als eine halbe Millionen Käufer. Und so macht er den Preisträger gewöhnlich wohlhabend.

Das freut einen für Weyergans, der nicht nur den Erzähler seines neuen Romans die Bekanntschaft mit einem (hier sehr umgänglichen und generösen) Gerichtsvollzieher machen lässt, sondern in Interviews Gleiches für sich reklamiert. Aus einem ewig angekündigten und verschobenen Roman, der in seiner Handlung mehrfach verschachtelt von einem Schriftsteller erzählt, der deprimiert und eskapistisch dahinlebend ein nie vollendbares, ja kaum begonnenes Buch mit dem Titel "Drei Tage bei meiner Mutter" schreiben will, resultiert der Bücher-Hit der Saison. Eine romanhafte Volte nach dem Chiasmus-Inversions-Muster Qui perd gagne. Das ist Scheitern (freilich: ein höchst kunstvoll montiertes!) als Chance. Aus der Schreibkrise taucht der Autor nach acht Jahren mit den Publikationen seines ausgezeichneten neuen Buchs und seines Frühwerks wieder auf, das manche Kritiker gar für das noch bessere Werk halten. Es exponiert schon Weyergans Themen der späteren Bücher: Frauen, Sex und Psychoanalyse, schweifendes Begehren, Literatur, Musik und Kunst, Reisen und komplex ambivalente Familienbeziehungen. "Salomé" ist freilich noch nicht ins Deutsche übersetzt. Und zugleich kündigt der Autor zwei neue Bücher an, die bald fertig sein sollen - seien wir gespannt...

Worum aber geht es im neuen Roman? Wie ist er gemacht und was ist davon zu halten?

Der Protagonist und Erzähler François Weyergraf macht sich und seinem Umfeld Angst, weil er kein Werk mehr zustande zu bringen scheint. Statt dessen flüchtet er sich in Liebesaffären, abschweifende Lektüren, Erinnerungen an frühere Geliebte und an seine durch einen begeisternden Pädagogen geweckte Liebe zu den Worten und ihrer Etymologie. Oder er sitzt einfach die Nächte am Schreibtisch, ohne ein Wort zu schreiben, und überlegt sich Änderungen seiner Ess- und Trinkgewohnheiten. Der titelgebende Besuch bei der Mutter soll (auch auf ihren Wunsch hin) erst stattfinden, wenn der neue, lange angekündigte Roman endlich fertig sein wird. Aber das passiert nicht. Es sei hier nicht verraten, unter welchen dramatischen Umständen der Protagonist schließlich doch seine Mutter wieder sieht und wie die Begegnung ausgeht.

Wie in einem Spiegelkabinett arbeitet der Autor im Buch, Weyergraf, an einem Buch mit gleichem Titel, in dem wiederum ein Autor, Graffenberg, einen Autor, Weyerstein, erfindet - die alle an ähnlichen Schreib-, Lebens- und Fluchtproblemen laborieren. Zwar hat der Protagonist Weyergraf drei Kapitel geschrieben, in denen freilich die Mutter und ihr Besuch erst angekündigt werden. Doch macht er sich schon präzise Gedanken über die Typografie des Titelblatts. Ungefähr in der Mitte von Weyergans' Roman werden dieses Titelblatt und die drei Anfangskapitel Weyergrafs' dann auch abgedruckt. Sie handeln hauptsächlich von der leidenschaftlichen sexuellen Beziehung zu einer halb so alten Frau in Grenoble, die mit deren Selbstmordversuch und Vorwürfen an den Autor endet.

Weyergraf verknüpft das Begehren aufs Engste mit der Sprache und ihrer medialen Übertragung: es sind pornografische SMS auf dem extra für die neue Liebe angeschafften Mobiltelefon, die zur amour fou führen. Auf der Rückfahrt nach Paris liest Weyergraf im Manuskript seines gleichnamigen Romans, aus dem wiederum das erste Romankapitel seines Protagonisten Weyerstein eingerückt ist. Es handelt von einem allseits bewunderten Walzer mit der Mutter auf der eigenen Hochzeit in einem Palais bei Stuttgart. Die frühe Ehe mit dieser Industriellentochter zerbrach, wie uns eine wunderbar semi-kitschige, filmisch-bildhaft erzählte Venedig-Episode berichtet. Der jungvermählte Autor treibt (es) während der Filmfestspiele in der Lagunenstadt durch eine Nacht mit einer finnischen Schauspielerin.

Nach diesem Muster der Mise en abyme, der Verschachtelung, schreitet der Roman nach dem - von Lawrence Sterne und Jean Paul her lange bekannten - Prinzip des Schubladenromans auf immer neuen Umwegen mehr zurück oder zur Seite als voran. Die narrativen Abschweifungen der Autordoppelgänger sind keineswegs nur erotische. Weyergans beglückt den Leser auch mit Tiraden über nächtliche Lärmbelästigungen, die ihn auf seinen Hausmeister und seinen verstorbenen Papagei bringen, was Gelegenheit für Erinnerungen an eigene Haustiere bietet. Dies alles, wie auch die essayistischen Bemerkungen zur Filmkunst oder zu Koroliovs und Goulds Aufnahmen der "Goldberg Variationen" Bachs sind Miniaturen voll Esprit und sprachlich pointiertem Feinschliff.

Plot- und handlungshungrige Leser werden dies als eine Zettelkasten-Poetik kritisieren, die aus der Not der Schreibhemmung Bildungssplitter und szenische Mini-Notate zu einem Kaleidoskop verkettet. Doch übersehe man nicht das dichte Netz der leitmotivischen Bezüge zwischen den Episoden und den oft aphoristisch verdichteten Reflexionen - und zum vorigen Roman, den der neue variierend zu zitieren und fortzuspinnen scheint. Man vergleiche nur einmal die Anfänge der beiden Bücher. Das Schweifen des Begehrens, die Melancholie seiner (vermeintlichen) Befriedigung, das schmerzliche Vergehen der Zeit, die Liebe zur Kunst und zur gespenstisch immer wieder auftauchenden oder angespielten Mutterfigur verbinden die kunstvoll montierten Digressionen. Abschweifungen, die auch noch von der touristischen Vermarktung von Alpenregionen, Donizettis Opernfiguren oder Stendhals und Flauberts sexuellen Bilanzen in ihren Reisebriefen handeln können.

Weyergans besitzt einen Humor, besonders in erotischen Dingen, der oft zu Vergleichen mit Woody Allen führte. Ein Beispiel hierfür wäre die Szene mit der Steuerbeamtin, die den von ihrer Attraktivität hingerissenen Protagonisten und Steuerschuldner seinen Scheck an "triumphierende Brüste" statt an die Finanzverwaltung adressieren lässt. Näher liegen vielleicht noch Parallelen zu Philip Roth. Wie Weyergans ließ der seine Schriftstellerfigur Zuckerman familiäre und erotische Abenteuer erleben. Und Roth kreist neuerdings gleichfalls um Krankheit, Altern und Tod. Über das gelungene Begräbnis seines Vaters, bei dem die Kinder erstmals wieder alle vereint sind, und das diesem gewiss sehr gefallen hätte, lesen wir bei Weyergans: "Warum muß das Leben ganz kurz vor dem Begräbnis enden, einem der seltenen Momente des garantierten Erfolgs? Meines habe ich mir schon öfter ausgemalt. Den Sarg bestelle ich bei einer jungen Designerin, mit der ich selbstredend eine kurze Affaire habe. Die Zeremonie findet auf einem Flughafen oder einem Theater statt, manchmal in einer oberbayrischen Barockkirche." Lakonisch, ja geradezu epigrammatisch pointiert sind Formulierungen wie: "Alle Familien sind Risikofamilien. Woher der nächste Ausrutscher kommt, steht nie fest. Wären wir nicht zusammen aufgewachsen, hätten wir sicher kaum etwas gemeinsam. Wir wären uns schlicht niemals begegnet."

Vielleicht handelt es sich beim vorliegenden Text eher um eine Autofiktion als um einen Roman mit starkem Erzählbogen. Doch vergesse man dabei nicht Weyergans' Warnung vor allzu simplen biografischen Fehlschlüssen, die naive Leser dazu führten, noch ein Buch über Steine, das er schreiben könnte, für autobiografische Bekenntnisprosa zu halten. Jedenfalls ist es ein Buch über Glanz und Elend des Schreibens, der Erinnerung und der Einbildungskraft - und über fantasiertes oder ausgelebtes Begehren. Doch fehlt es dem Buch in seinen mehr angerissenen als ausgeführten Erzählepisoden keineswegs an lebenssatten Themen und starken Gefühlen: Liebe, Sex, Tod, Krankheit, Familienbande.

Weyergans offeriert uns eine prickelnde kleine Wundertüte voll geistreicher Beobachtungen, erotischer Intermezzi und delikat zurückhaltender Skizzen einer Familie. Zwar gewinnen neben dem narzisstisch melancholischen Autor, der trotz seiner vielleicht nur eingebildeten Depressionen kein anderes Leben führen möchte, weder Mutter noch Vater, weder Frau noch Töchter als Charaktere ein scharfes Profil. Und doch evozieren manche Episoden die unzertrennliche familiäre Bindung des Erzählers, besonders an die Mutter. Deren Besuch wird zwar ewig aufgeschoben, doch ersetzen Telefon- und Faxkabel die Nabelschnur. Und man wird eingeladen, noch in den vielen Geliebten des promisken Erzählers, in psychoanalytischer Ersetzungslogik (ungenügende) Stellvertreterinnen der einen, ersten, unendlich begehrten Frau zu sehen: der eigenen Mutter.

Ein Buch für Liebhaber(innen) der Psychoanalyse, für Freunde geschliffener Formulierungen und abgründiger Pointen. Kein Buch für Leser, die ihre Erzählung gerne zielstrebig geradeaus mögen, vielmehr ein präzise geformter Kosmos von beziehungsreich überdeterminierten Erinnerungsfetzen und geistreich essayistischen Anspielungen. Das narzisstische Spiegelkabinett des Autors und seiner Doubles erscheint bei Weyergans immer auch als eine sprachliche Echokammer, die Bernd Schwibs (bekannt als Übersetzer Deleuzes und Bourdieus, Bretons und Toussaints) in ein ebenso elegantes wie lakonisches Deutsch übersetzte. Dass Weyergans das Schreiben als harte Arbeit versteht, als mindestens fünfmaliges Umarbeiten und Polieren, sieht man seinen Texten kaum an. Aber gerade das macht gute Literatur aus.


Titelbild

Francois Weyergans: Drei Tage bei meiner Mutter. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernd Schwibs.
DuMont Buchverlag, Köln 2006.
168 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3832179860

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