Dandy, Elegant und Frauenheld

Camus' Leben am Rande des Absurden

Von Gesa HinrichsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Hinrichsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbst der Tod verlangt nach Originalität. "Camus", schreibt Robert Gernhardt in "Wege zum Ruhm", "der Künder des Absurden, stirbt im Auto, das der Fahrer auf gerader Strecke gegen den einzigen Baum weit und breit gesetzt hat: Kann man noch absurder abtreten?" Hätte er die Wahl gehabt, hätte Camus wahrscheinlich keinen anderen Tod als diesen gewählt. Bestätigt er nicht Camus' Sichtweise das Leben betreffend? Ziellos irrten Meursault in "Der Fremde", Mersault in "Der glückliche Tod" und Clamans in "Der Fall" umher auf der Suche nach dem Sinn, dem Zweck des Daseins. Glücklich nennt sich keiner der Protagonisten, keiner findet eine Antwort auf die unbeantwortete Frage nach dem 'Warum'.

Was war es, das Albert Camus zu einer so kritischen Haltung zum Leben getrieben hat? War er wirklich so voller Leere wie seine Protagonisten? Er selbst formulierte die Warnung, "die Vorstellung, dass jeder Schriftsteller zwangsläufig über sich selbst schreibe und sich in seinen Büchern abbilde, [sei] eine der Kindereien, die uns die Romantik vererbt" habe. "Die Werke eines Menschen widerspiegeln oft die Geschichte seiner Sehnsüchte oder seiner Versuchungen, doch fast nie seine eigene Geschichte." Dieses 'fast' wiegt für seinen Biografen Olivier Todd schwer. Häufig zieht er Parallelen zwischen Werk und Leben des Schriftstellers.

In seinem Arbeitstagebuch zu "Der erste Mensch" beschreibt Camus seine Figur Jacques als einen Mann, der "vier Frauen auf einmal" gehabt und "also ein leeres Leben" geführt habe. Todd nimmt diese Darstellung auf, wenn er Camus als Dandy, Elegant und Frauenheld beschreibt. Nach dem Tod der Witwe Francine Camus im Dezember 1979 bringt er nun 30 Jahre später Licht in dieses Kapitel des Denkers. Keineswegs waren die Frauen, die sich in seiner Nähe befanden stets nur "gute Freundinnen", wie es noch in der Biografie Herbert Lottmanns von 1978 zu lesen war. "Camus hat außergewöhnliches Glück, ihm stehen zwei Frauen zur Seite - Maria [Casarès], die vitale Geliebte, und Francine, die Mutter seiner Kinder" heißt es weniger zweideutig bei Olivier Todd.

Mehr als zweihundert Freunde, Feinde, Zeitgenossen und Angehörige hat der Journalist in akribischer Kleinstarbeit ausfindig gemacht, die sich bereitwillig über das Leben Camus' geäußert haben. In den Archiven Algiers, Washingtons und bei der Komintern in Moskau - überall ist Todd dem Mythos Albert Camus ein Stückchen näher gekommen. Doch bei aller Detailwut, die Olivier Todd in seiner Biografie entfaltet, bleibt Albert Camus, ihr Gegenstand und Geheimnis, seltsam leer. Liegt es daran, dass sich Camus als Denker und Schriftsteller nicht so gut fassen lässt wie zum Beispiel Sartre?

Dokumente und Quellen gibt es genug: Todd zieht neben Augen- und Ohrenzeugenberichten die literarischen Arbeiten ebenso heran wie die Tagebücher, die Essays und den Fragment gebliebenen Roman "Der erste Mensch". Sachlichkeit kann man dem Biografen keineswegs absprechen, auch müsste die Rezeption zu Camus' Werk mit dieser Materialsammlung einige Jahrzehnte lang auskommen. Doch besteht die Kunst, das Objekt einer Biografie nachzuzeichnen, nicht darin, alles Wissen auch preiszugeben. Die Kunst besteht in der pointierten Auswahl, die dem Autor und Menschen Albert Camus noch genug Raum zum Atmen ließe. Todd ist diese Gratwanderung in seiner Monumentalbiografie nicht geglückt: "Wie kann man das Knäuel eines Schicksals entwirren, ohne an jedem Knoten die zartesten Fäden zu zerreißen?", fragt er sich im Vorwort seines Buches zu recht. Einige Knoten hätte er vielleicht lieber ungelöst gelassen und dafür ein größeres Augenmerk auf den Denker Camus lenken sollen.

In 50 Kapiteln erhält der Leser einen umfassenden Einblick in das Leben Albert Camus'. 1913 als Sohn eines Kellereiangestellten und einer spanischstämmigen Putzfrau, die nie wird lesen können, im algerischen Mondovi geboren, wächst er - nach dem Tod seines Vaters 1914 - allein mit seinem Bruder und der Mutter auf. Die enge Bindung zu ihr prägt sein Leben, der abwesende Vater mag Grund für die zerbrechlichen Beziehungen Camus' zu Freunden, Frauen und Gleichgesinnten sein: "Er sprach zu oft vom Glück, als dass er oft glücklich und heiter gewesen sein könnte. [...] Leid, seelischer Schmerz und Trennungen hinterließen ihre Spuren."

Er träumt von einem Leben in menschlicher Freiheit. An Politik und Religion als Maxime der Gesellschaft glaubt Albert Camus nicht. Er beschäftigt sich mit dem Gott, an den er nicht glaubt, und widerwillig mit Politik, weil er, "was [er] eher zu [s]einen Schwächen als zu [s]einen Tugenden zählt[e], nie einer Verpflichtung ausgewichen" sei. Scharf zeichnet Todd die Widersprüchlichkeiten der Zeit und die damit verbundene Zerrissenheit Camus' nach, gegen die er sich mit Hilfe des Schreibens zur Wehr setzt. Camus erkannte die Nöte und Zweifel seiner Generation erschreckend schnell, und doch stand er in dem "von einem unausgegorenen Marxismus beherrschten französischen Intellektuellenmilieu allein da." Zwar schloss sich auch Albert Camus 1935 zunächst der kommunistischen Partei an, wurde aber drei Jahre später wegen Linienuntreue wieder entlassen. Auf diese Zeit und die Arbeit Camus' als Journalist beim "Alger republicain" legt Olivier Todd großes Gewicht.

Stets zwischen den Fronten, bezieht Camus auch während des Algerienkrieges nicht deutlich Position. "Camus kämpft vor allem für die 'Eingeborenen'. Für die Kommunisten kommen sie erst an zweiter Stelle." Nach politischen Auseinandersetzungen mit den Machthabern und Wortführern lässt er sich aus der Partei ausschließen. Der überzeugte Pazifist sucht nach einem Weg, der zwischen politischer Rebellion und existentieller Verzweiflung angesiedelt ist. 1943 wird er Mitglied, später Chefredakteur der Widerstandszeitung Combat. Doch einen eindeutigen ideologischen Weg schlägt Camus nicht ein, er gerät immer wieder zwischen die Fronten.

"Der Mensch in der Revolte", sein kommunismuskritischer Essay, lässt ihn für die Linke als abtrünnigen Reaktionär, für die Rechte als Vertreter von Minderheiten erscheinen. Auch der Bruch der Freundschaft zu seinem Gegenpol Sartre spitzt sich nach Erscheinen des Essays zu. In aller Öffentlichkeit macht Sartre der Beziehung ein Ende. Camus habe sich nicht für das Lager Sartres entschieden, im Gegenteil, "sein starrköpfiger Humanismus [...] führte einen ungewissen Kampf gegen die massiven und difformen Ereignisse dieser Zeit. Doch durch die Hartnäckigkeit seiner Weigerungen behauptete er mitten in unserer Epoche [...] immer wieder die Existenz der Moral." Doch das radikale philosophische Gerüst, das Sartre aufbaute, sagte Camus nicht zu. Für ihn bedeutete das Leben nicht eine Abfolge tragischer Ereignisse, weil das Leben eben elend sei. Die menschliche Zerrissenheit sei es, die die Existenz unerträglich mache. Das Absurde des Daseins bedeutete für Camus nicht die Schlussfolgerung aus der Summe der sinnlosen Komponenten der menschlichen Existenz und somit die ausweglose Situation des Menschen. Es war für ihn Ausgangspunkt seiner philosophischen Schriften, der Punkt an dem der Mensch ansetzen musste, um seinem Leben einen - wenn auch nur individuellen - Sinn zu verleihen. Seine Existenzialphilosophie implizierte die Möglichkeit, die Essenz des absurden Lebens zu verbessern, indem sich der Mensch auf sich berief und nicht blind vorgefertigten Doktrinen folgte.

Philosophisch nicht so "brillant" wie Sartre sah Camus sich selbst eher als Schriftsteller. Auch Todd bezieht diese Position, wobei er hingegen einräumt, selbst ein Schriftsteller, der kein großer Philosoph sei, könne doch ein großer Denker sein, und für Camus gälte eben dieses.

Nach seinem Tod 1960 hatten Camus' Werke noch keine beständige Leserschaft, auch wenn "Der Fremde" die höchsten Auflagenzahlen erreichte, die der Gallimard-Verlag je zu verzeichnen hatte. Inzwischen hat der berühmte pied noir eine Anhängerschaft von etwa einer Million heterogener, immer nachwachsender Leser. Das beweisen auch die Begeisterungsstürme, als 1994 der fragmentarische Roman "Der erste Mensch" postum veröffentlicht wurde. Als hätte es Camus geahnt, schreibt er in "Der Fall": "Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass erst der Tod unsere Gefühle wachrüttelt? Wie innig lieben wir doch die Freunde, die eben von uns gegangen sind". Innig wird auch Camus nach seinem Tod geliebt, geht er doch aus dem Pariser Intellektuellenkrieg zwischen Gide, Sartre, Malraux und Aragon als meistgelesener Denker seiner Zeit als Sieger hervor.

Dieser postume Ruhm war es wohl auch, der Olivier Todd auf die Suche getrieben hat, die Hintergründe des Denksystems eines Mannes zu erfahren, der sich jeglicher Unterordnung entzieht. Doch gelingt es dem Biografen leider nicht, bis in die Tiefen des Gegenstandes seiner Betrachtung vorzudringen. Die von Camus formulierte Absurdität der Existenz, die exakte Beobachtung der Widersprüchlichkeit religiöser und politischer Lehren, die Hoffnung auf die ideale psychische und physische Freiheit des Menschen - kurz: sein Gedankengut kommt hinter der Faktensammlung leider zu kurz.

Titelbild

Olivier Todd: Albert Camus. Ein Leben.
Dieter Bertz Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
921 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3498065165

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