Psychoanalyse als Methode oder als Gegenstand?

Rainer J. Kaus' Monografie zu Kafkas Erzählung "Eine kleine Frau"

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch den kürzesten Erzählungen Franz Kafkas werden längst ganze Bücher gewidmet. Der 1923/24 entstandene Text "Eine kleine Frau", eine der letzten literarischen Arbeiten Kafkas überhaupt, bildet darin keine Ausnahme mehr. Der in der psychoanalytischen Kafka-Deutung seit einem Büchlein zum "Urteil" ausgewiesene Literaturwissenschaftler Rainer J. Kaus bietet auf knapp 100 Seiten eine ausgiebige Lektüre einer der rätselhafteren, kaum zehn Druckseiten umfassenden Erzählungen des späten Kafka, deren auffälligstes Kennzeichen ein Verzicht auf Handlung ist - jedenfalls das Ausbleiben schlimmstmöglicher Wendungen, die den frühen Kafka von "Das Urteil", "Die Verwandlung" oder "In der Strafkolonie" auszeichnen. Auf wenigen Seiten äußert sich ein ungreifbarer männlicher Ich-Erzähler über eine Frau, der er durch seine bloße Existenz das Leben schwer zu machen glaubt und die ihm ihrerseits zur existenziellen Bedrohung geworden ist, obgleich keine Gründe für das angeblich auf Gegenseitigkeit beruhende Misstrauen erkennbar werden.

Kaus' Unternehmen einer psychoanalytischen Lektüre führt zum Ziel, wenn man darunter 'Enträtselung' verstehen will: Schritt für Schritt decodiert er die scheinbar so harmlose Rede des Erzählers, dessen Paranoia er klar diagnostiziert. "Es ist nur eine kleine Frau" übersetzt Kaus in die verschobene, verdrängte Einsicht, die dem Erzähler angemessener wäre: "Ich habe ein riesengroßes Problem mit Frauen." Die Hermetik und Eigenwilligkeit der Erzählerrede wird also, ihres ästhetischen Gehalts entkleidet, zum Symptom einer paranoiden Konstellation. Wo man auch Ironie sehen könnte, sieht Kaus nur Verdrängungsarbeit.

Problematisch wird die in einem zweiten Schritt vorgenommene Analogisierung von Erzähler und Autor, die auf Kafkas Angst vor dem Weiblichen hinausläuft. Auch Kaus weiß, dass "Eine kleine Frau" entstand, als der todkranke Kafka ausgerechnet einmal eine glückliche Beziehung mit einer Frau ausleben durfte, nämlich mit Dora Diamant während der gemeinsamen Zeit in Berlin, weitab von der gefährlichen Heimatstadt. Dennoch habe Kafka, so Kaus, die 'böse' Weiblichkeit abwehren müssen, durch die er sich bedroht gefühlt habe.

Es gilt nun den epistemischen Stellenwert der Psychoanalyse für Kaus' Buch zu beschreiben: Ist sie vom Autor Kafka 'eingebauter' Gegenstand des Textes, der Ich-Erzähler ein auf der Kenntnis von Sigmund Freuds Werk basierendes Aktantenkonstrukt, und geht es um die Dekuvrierung eines Spiels mit dem kulturellen Wissen der Entstehungszeit? Oder bietet sich die Psychoanalyse als Methode der Interpretation an, geht es also darum, den Text zu verstehen, indem man dem Ich-Erzähler quasimenschliche Gestalt verleiht und ihm die Diagnose stellt? Den letzteren Weg schlägt Kaus ein, und er überbietet seine Lektüre, indem er auch noch den Autor ins Spiel bringt. Doch Kafka wusste sehr wohl um die Psychoanalyse und hielt sie, wie wir wissen, für eine von vielen Mythen, die nicht alles zu erklären vermöge und die insbesondere keinen therapeutischen Wert habe. Dies spricht dafür, eher die Freud-Rezeption in Kafkas Texten zu untersuchen als von Anamnese zu Diagnose fortzuschreiten. Zudem verbietet der ästhetische Charakter eines Kafka-Textes eine 1:1-Lektüre als unfreiwillige Krankengeschichte. Doch Kaus hat immerhin die Genugtuung, eine in sich stimmige Deutung der Erzählung geliefert zu haben.


Titelbild

Rainer J. Kaus: Eine kleine Frau. Kafkas Erzählung in literaturpsychologischer Sicht.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2002.
97 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3825313832

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