Krisenszenarien

Wie Marlene Streeruwitz vom Terror erzählt, ohne einen 'Terror-Roman' zu schreiben

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Globalisierungskritik, Kritik des Neoliberalismus, Ende einer fröhlichen Postmoderne, und nicht zuletzt: Terror. Diese Schlagworte scheinen sich aufzudrängen, wenn von "Entfernung.", dem jüngsten Roman von Marlene Streeruwitz, die Rede ist. Dass darin die Lebenslügen eines globalisierten neoliberalen Lifestyles zur Sprache kommen, verwundert nicht. Schließlich seziert Streeruwitz seit ihrem Roman "Verführungen." die großen und kleinen Mittelstandsleiden mit kühlem Blick. Und auch Tote hat es nicht nur in den Dramen, sondern auch in der Prosa der Autorin schon öfters gegeben. Ein terroristischer Anschlag, der an die Attentate auf Londoner U-Bahn und Busse vom 7. Juli 2005 erinnert, bricht aber dann doch etwas überraschend in ein Werk ein, in dem sich für gewöhnlich Frauenfiguren in Kämpfen mit der sozialen Nahwelt und den eigenen Innenwelten aufreiben.

Vom Chef entlassen und durch eine Jüngere ersetzt, verlassen von ihrem Lebensgefährten, der mit seiner Geliebten nun Kleinfamilienträume verwirklicht - und zurück in der Wohnung des Vaters: Das ist die niederschmetternde Bilanz der ehemaligen Kulturmanagerin Dr. Selma Brechthold, als sie nach London aufbricht, um dort mit einer neuen Projektidee Fuß zu fassen und damit gegen ihre endgültige berufliche Vernichtung anzukämpfen. Schwankend zwischen Selbstmitleid und Selbstverachtung stellt Selma fest, dass sich das früher gefeierte 'postmoderne Leben' als bloßes Stückwerk erwiesen hat und auch ihre Emanzipationsidee gescheitert scheint: "Sie bekam die Rechnung für ihre törichte Vorstellung vom Leben. Von den Männern. Und weil sie sich zu fein gewesen war, sich auf so ein Frauenleben einzulassen. [...] Sie hatte alles falsch gemacht. Sie war selber schuld." Minutiös schildert der Roman Selmas schon ritualisierte Selbstzerfleischungen, in dem jeder Schritt, ja Atemzug einen Kampf um Haltung darstellt: Selma will eine souveräne, weltgewandte Person verkörpern, und sie hasst sich mindestens ebenso sehr dafür, dabei zu versagen wie dafür, sich nichts anderes wünschen zu können als weiter zu funktionieren. Gepeinigt von Panikattacken und Selbstmordgedanken wähnt sie sich für alle anderen als Opfer erkennbar, weshalb sie misstrauisch von ihrer Umwelt nur das Schlimmste erwartet - und, wie sollte es anders sein, nicht wenige Male bestätigt wird.

Neben der typisch Streeruwitz'schen Schreibweise, die das Postulat 'Einfühlung verboten' vermitteln will, wirkt an "Entfernung." vertraut, dass eine Protagonistin in die Ferne reist und sich dabei aber vor allem ihren eigenen Zuständen widmet. Durch Zufall gerät Selma mehrfach in skurrile Situationen, die auf überraschende Weise auch auf Spuren ihrer eigenen Familiengeschichte führen. Im ständigen Nachdenken über sich selbst setzt sie sich mit ihren als Zumutung empfundenen familialen, sozialen und nationalen Prägungen auseinander. Dabei kommen echte Verluste zur Sprache, unmenschlich als "Abtrennung." bezeichnete Tragödien, über die sie nie Trauer zugelassen hatte. Die schonungslose Selbstdiagnose und das Misstrauen gegenüber den eigenen Bewertungen ihrer Situation bilden jedoch einen Zirkel, der unentrinnbar scheint: "Unverortet und aus der Zeit gekippt. Sie hätte es auch so sagen können. Aber das sah gleich zu schön aus. Das sagte sich so als Formel. Als bedeute ein solcher Satz etwas. Als gäbe es noch etwas zu beschreiben. Mit so einem Satz. Mit einem 'Unverortet und aus der Zeit gekippt.'"

Wie in Vorgänger-Romanen darf man sich als Leser/in wieder dabei beobachten, wie die eigene Frustrationstoleranz auf die Probe gestellt wird: Echte Schicksalsschläge und vollkommen paranoid erscheinende Ängste scheinen für diese Person ununterscheidbar zu sein. Kalkuliert nervenaufreibend sind auch die Gesten des 'Widerstandes', die Selma ihrem Leiden an den Umständen wie an sich selbst entgegensetzt, und die verzweifelt, lächerlich oder abstoßend wirken: In ihrer emotionalen Achterbahnfahrt zwischen Selbstmitleid, Panik, kurzen Phasen des Hochgefühls und Mitleid mit anderen ist es immer wieder Hass auf die 'Anpassung' der 'Anderen', die sie antreibt. Dass er die Kehrseite eines Selbsthasses auf die eigenen mädchenhaft-kindlichen Sehnsüchte ist, die sie sich so gründlich ausgetrieben zu haben glaubte, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Verachtung des Kulturbetriebs, dessen wichtigste Kennzeichen in "Entfernung." Oberflächlichkeit und Ausbeutung sind. Er verschwendet auf seiner ständigen Suche nach dem neuesten Kick gezielt menschliche Ressourcen, huldigt der Idee vom Leben als Projekt und bringt darüber hinaus dem Bürgertum bei, wie man für das Aussitzen von Provokationen Gratifikationen erhält: "Blut auf der Theaterbühne. Echtes Blut. Schlachtblut. Schlachttag. Und sie war dafür gewesen. Weil man nichts unterdrücken sollte. Weil mit dem Nichts-Unterdrücken die Macht so schön fest wurde. So selbstgerecht. Weil die Macht dann Freiheit rufen konnte. Und sie hatte keine Zweifel gehabt. Erst jetzt. Als Vernichtete." Diese Verwertungsmaschinerie hatte Selma bis vor kurzem hervorragend bedient - bis sie schließlich selbst aussortiert wurde. Nun ekelt es sie an, dass sie Teil eines Gewalt-Flirts in der Kunst war - eine Diagnose, die an Streeruwitz' eigene Theater-Erfahrungen denken lässt.

Gewalt und Kunst - es scheint, als ob das konkrete Erlebnis des Terror-Aktes in "Entfernung." eine untergeordnete Rolle spielt, zumal der Anteil am Plot sehr gering ist. Darüber hinaus weigert sich nicht nur das Opfer konsequent, nach dem Anschlag irgendwelche Nachrichten darüber zur Kenntnis zu nehmen. Dem Roman geht es nicht um Täter und die Hintergründe, nicht um die Art des Anschlages oder die späteren Ermittlungen, kurzum: Es wird keine einzige W-Frage gestellt oder beantwortet. Streeruwitz ist weder mit einer Fallgeschichte den Ursachen für den islamistischen Terrorismus auf der Spur wie John Updikes Roman "Terrorist" noch hat sie über die Londoner Anschläge eine Opfer-Geschichte geschrieben, wie sie Oliver Stones Film "World Trade Center" vom Überleben der jüngsten amerikanischen Katastrophe und ihren Helden erzählt. Ist der Terror dann aber nur eine Kulisse, um psychische Krise darzustellen?

Selma verabscheut nicht nur die Gewaltfaszination des Kunstbetriebs, sie ist auch äußerst empfindlich gegenüber Medienbildern und Texten, in denen Menschen zum Opfer gemacht oder aber Opfer-Geschichten in Helden-Geschichten umgedeutet werden. Daher setzt sie alles daran, nach den Anschlägen nicht als Opfer behandelt zu werden - auch dies wieder eine vertraute Grundfigur aus Streeruwitz'schen Texten, die zugleich für die Unfähigkeit Hilfe anzunehmen und für das Beharren auf der Würde der eigenen Person steht. Gefangen in ihren Ängsten, denkt Selma schon vor dem Anschlag immer wieder an reale Bedrohungsszenarien: An die IRA und ihre Anschläge in London, aber auch an 9/11. Aus einem Zeitungstext hat sie darüber erfahren: "Der Artikel ganz genau beschrieben hatte, wie die Leichen sich da in Luft aufgelöst. [...] Dass die DNS im ganz normalen Stadtstaub gefunden worden war. Gefunden wurde. [...] Der Leichenstaub hatte sich in den Lungen gesetzt. Abgesetzt. Die Leichen waren in den Lungen der Atmenden aufbewahrt." Dass sich Selma vor der Luft in Klimaanlagen ekelt, ja ängstigt, trägt im Roman zunächst übersteigerte bis klassisch paranoide Züge. Ihre diffusen Ängste sind aber ebenso Zeichen für eine gefühlte Gefährdungssituation, der man als Dauerzustand gar nicht gewachsen sein kann.

Die psychopathischen Züge der Figur lassen sich also auch als zeittypische Phänomene lesen. Überzeugend ist der Roman aber gerade darin, dass er diese Deutung zwar anbietet, in ihr aber nicht aufgeht: Denn für die Paranoia als Reaktion auf die neue terroristische Bedrohung gilt in "Entfernung." dasselbe wie für die Darstellung des Neoliberalismus: Die Kritik am globalisierten Kapitalismus ist durchaus ernst zu nehmen. Eine totalisierende Perspektive wird aber gleichzeitig unter Verdacht gestellt, da dies schließlich das Weltbild einer zwischen Helfersyndrom und Rassismus schwankenden Figur spiegelt. Der Terror ist also kein effekthascherisches Setting in "Entfernung.", umgekehrt aber beglaubigt das Erlebnis des Terrors auch nicht einfach die vielfältigen psychischen Krisenszenarien der Figur. Gleichzeitig widersteht Streeruwitz der Versuchung, die inneren Krisen gegen die äußere Bedrohung auszuspielen und damit eine Art Leidenskonkurrenz zu inszenieren: Selma wird also nicht etwa schlagartig klar, dass ihre bisherigen Probleme keinesfalls mit 'echten' Katastrophen wie 9/11 oder eben den Anschlägen von London vergleichbar seien.

Obwohl die Lebenskrise, die Selma im Gepäck hat, in London also nicht kleiner wird, scheint sie am Ende doch leichter zu schultern zu sein. "Entfernung." schließt ähnlich ambivalent wie der 'Fortsetzungsroman' "Lisa's Liebe.", der mit einem kitschigen Postkartenfoto endet: "Es war um den Sternenhimmel gegangen. Was sonst." Selma erlebt in einer überraschenden Begegnung ein kleines Augenblicksglück. Und vielleicht hat die frühere Kunstmanagerin ausgerechnet über den Mut zum Kitsch zu einer Form von Lebenskunst gefunden. Dies lässt der Roman jedoch offen. Sicher aber ist: Wer "Entfernung." als einen enttäuschenden Terror-Roman liest, wird vor allem von seinen eigenen Erwartungen getäuscht.


Titelbild

Marlene Streeruwitz: Entfernung. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
480 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100744322

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