Die alltägliche Trostlosigkeit

Jürgen Cleffmanns "Wilder Mann" im Hamsterrad

Von Dorothea GildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Gilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leise und ohne die Begleitung üblicher Werbetrommeln erschien in diesem Frühling ein Erzählband. Sein Autor ist Jürgen Cleffmann und es wirkt, als wollte er nicht als, sondern mit "Wilder Mann" ins Rampenlicht treten. Eine Metapher, die auf das berufliche Umfeld des Autors hinweist. Hat er sich die Kunst der kleinen Form, der Kurzgeschichte zur Aufgabe gemacht, weil sie an Szenen aus einem Theaterstück erinnert? Oder war es innerer Zwang, der den Inhalten die Form vorschrieb?

Wie auch immer, eines wird schnell klar. Dosierung ist unumgänglich, denn der Leser stößt bald an Grenzen der Belastbarkeit. Da sitzt er vielleicht in seiner Reihenhausidylle und möchte zur Entspannung eine Geschichte lesen. Eine trügerische Idylle. Der Bissen bleibt im Hals stecken und der Buchdeckel klappt zu. Wenigstens für den Moment.

Denn es geht in den Kleinstudien nicht um das Vordergründige, ob etwa U-Bahnfahren in "Sturzgeburt", einen Geburtstag in "Die Umarmung", oder die Müllabfuhr in "Glück und Glas". Es ist offensichtlich auch nicht Absicht des Autors, den Leser zu hofieren, ihn sich in den Stories einrichten zu lassen. Manche der Episoden geben den zerrissenen Zustand der Figuren wieder. Alle sind sie Sinnsuchende, die umherirren, vernichten, wegwerfen, klären oder von vorne anfangen. Das Hamsterrad quietscht und sein immergleicher Lauf entmutigt - auch den Leser. Irgendwann stellt er sich die Frage: Warum weiterlesen? Gibt es einen Hoffnungsschimmer? Entlässt Cleffmann vielleicht den Hamster aus seinem Rad? Leider nicht. Nur an wenigen Stellen werfen Tagträume einen gnädigen Schleier über die alltägliche Trostlosigkeit. Deshalb auch die Notwendigkeit der Dosierung. Und genau darin liegt der Impetus, das Buch am nächsten Tag wieder aufzuschlagen, weiter zu suchen nach dem einen Sonnenstrahl, der das Elend durchbricht.

In einer Sprache, die mit minimalen Mitteln auskommt, gelingt es Jürgen Cleffmann, seine Ohnmacht begreifbar zu machen und sich von den Gespenstern zu befreien, die ihn jagen. Er muss sie loswerden, um atmen zu können. Dass dafür der Leser in Atemnot gerät, spricht für diesen Autor, den die Süddeutsche Zeitung "eine Entdeckung" nennt und sich fragt, warum man von ihm bisher so wenig gelesen hat. Baudelaire mag einem einfallen, der in einem seiner "Petits Poèmes en Prose" sein Herz befragte, wo es leben möchte, wenn es frei wäre, sich einen Ort zu wünschen. Und das Herz antwortete nach langem Schweigen: Anywhere out of the world.


Titelbild

Jürgen Cleffmann: Wilder Mann. Erzählungen.
Lyrikedition 2000, München 2006.
79 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3865201709

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