Der Kunstheuler und andere Geschichten

Ein wunderbares Buch von Walter Grasskamp erzählt von Menschen im Museum

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was macht man im Museum? Bilder ansehen. So einfach ist das. Aber manchmal ist es dann doch nicht so einfach. Im Museum passieren nämlich auch ganz andere, ganz spannende Sachen. Natürlich sieht man sich die Bilder an oder die Artefakte oder die Dinosaurier oder was immer da ausgestellt ist. Aber dabei kommt man auch auf ganz andere Gedanken. Dann steht man da und denkt plötzlich über ganz andere Dinge nach, flirtet mit anderen Besuchern, erinnert sich an seine Kindheit, hängt Tagträumen nach, man ärgert sich über sich und den Beruf und manchmal beschließt man sogar, sein Leben zu ändern. Das Museum ist, da es ebenso reich bestückt wie auch eigentlich ziemlich leer ist, ein wunderbarer Ort, um mit sich selbst konfrontiert zu werden.

Der Münchener Kunstkritiker und -historiker Walter Grasskamp hat in einem schön gestalteten Band einige, vor allem literarische Berichte über "sonderbare Museumsbesuche" gesammelt und kommentiert. Da gibt es eine Passage in einem Roman von William Boyd, "Stars und Bars" von 1984. Zwei Männer eines britischen Kunstauktionshauses gehen ins Museum. Der eine assoziiert herum, denkt an seine Frau und eine Affäre: "Irene konnte ihm die Hauptstadt zeigen. Er lächelte bei dieser Vorstellung. In schönen Hotels übernachten [...]. Irene konnte schwimmen und Sonnenbäder nehmen, während er tagsüber bei Gage zu tun hatte. Die Abende mit Irene zusammen verbringen, nur sie beide, Melissa und sein Gewissen in New York zurücklassen."

Auf einem Bild von Gainsborough entdeckt er plötzlich an einer der Frauen eine verblüffende Ähnlichkeit mit seiner Mutter und denkt über sie nach. Aber der andere, Halfacre? Der macht was ganz Verrücktes. "Halfacre schien sich nicht von der Stelle gerührt zu haben. Er stand vor dem Gemälde 'Herrin und Magd' von Vermeer. Henderson sah, dass ihm Tränen übers Gesicht rannen. Brust und Schultern zuckten unter einem leisen Schluchzen." Henderson bekommt Angst, dass er ihn gekränkt hat. Aber es ist nichts von alledem. Warum weint Halfacre? "'Es ist so wahr,' sagt er. 'Es ist so wahr.'"

Eine verrückte Szene. Grasskamp kommentiert: "Dass Kunsthistoriker, abgebrühte Auktionare gar, im Museum vor Gemälden weinen, weil sie 'so wahr' sind, das kann aber doch wohl nicht wahr sein. Die Oper, das 'Museum der Gefühle' ist der hochkulturell vorgesehene Ort der Rührung, schon weil es dort dunkel ist und man alles auf die aufwühlende Musik schieben kann. Im Museum zu weinen ist dagegen "degoutant", denn es ist ein Ort der Distanz, der Gelassenheit, eines gepflegten urbanen Desinteresses, das seinen Rückzug aus der Alltagswelt als Bildungserlebnis tarnt, um die Tagesreste auch außerhalb der nächtlichen Träume verarbeiten zu können. Dass Henderson Dores seinen privaten Assoziationen nachhängt, ist also nur üblich und kein Skandal, aber Halfacre Pruitts feuchte Gefühlsäußerung vor dem Vermeer ist einer: Wer im Museum weint, nimmt sich wichtiger als die Bilder und maßt sich die Privatisierung, ja Intimisierung eines öffentlichen Gebäudes an. In dieser Melodramatik ist Halfacre Pruitt aber offensichtlich keine Ausnahme, wenn man dem Buch 'Pictures and Tears: A History of People Who Have Cried in Front of Paintings' von James Elkins glauben darf; in der freien Wildbahn der Museen ist der Kunstheuler allerdings eher selten zu beobachten." ("Kunstheuler"! Wie wunderbar!)

Viele solcher abstrusen Museumsbesuche kommen in dem Buch vor. Viele solcher "so wahren", überraschenden, manchmal irritierenden Momente der Einsicht hat Grasskamp gesammelt. Viele werden allerdings erst durch seinen Kommentar so richtig deutlich. Wie der Besuch des Sahara-Nomaden Idris in einem Museum, in dem ihm seine eigene Kultur gezeigt wird, die er gerade auf dem Weg nach Paris verlässt (aus dem Roman "Der Goldtropfen" von Michel Tournier).

Für Idris ist das Museum eine Identitätsschleuse: Denn das Paradox eines Sahara-Museums liegt ja darin, dass es sich vor allem um die Kultur von Nomaden handelt, die hier in ruhenden Bildern dargestellt wird [...]. Die Unruhe, die eine nomadische Existenz kennzeichnet und allen Dingen, die dazu gehören, ihre Form gibt, wird in diesen Museen stillgestellt und damit unterschlagen. [...] Ballastkunst dominiert dagegen das Museum, die Apotheose der Sesshaftigkeit. Das Museum ist der finale Triumph jener Lebensweise, die weltgeschichtlich die jüngste ist, aber die ältere und einst weltumspannende nomadische Lebensform selbst dort vergessen lässt, wo sie deren Gebrauchsgegenstände ausstellt."

Und in einem Schlenker zu Chatwin, der eine eindrucksvolle Anthropologie des Nomadentums begründet (hat), die freilich auch Züge der Verklärung hat, kommt er zu Chatwins Roman "Utz": Man muss die Selbstzweifel seiner Sammlerfigur nicht teilen, um in dieser kulturellen Heldenrolle auch Biografien zu wittern, die sich mit ihrem Besitz selbst schachmatt setzen."

An anderer Stelle weitet Grasskamp seine Beobachtungen und Reflexionen aus: "Die Absichten bei der Übergabe der Völkerkundemuseen an die Kinder sind die besten, nämliche pädgagogische, aber ihr Scheitern ermöglich den Kindern andere Erfahrungen zu machen als jene, um derentwillen sie in die Museen geführt werden. Vor den stummen Zeugen untergegangener oder deklassierter Kulturen machen sie eine frühe und grundlegende Erfahrung von Fremdheit. Weil sie selber in der Erwachsenenwelt noch Fremde sind, fühlen sie sich vom Andersartigen angezogen, und in den ethnologischen Abteilungen finden sie Bezugsgrößen aus Kulturen, die ihnen authentischer erscheinen als jene, in die sie hineinwachsen. Gerade dadurch erfahren sie sich aber als Hineinwachsende. Während im Zoo der Gattungsunterschied erlernt wird, zeigt ihnen das Museum die Zufälligkeit der Kultur, in die sie geboren wurden und zu der sie, wie erst später merken, verurteilt sind."

Das Buch versammelt Besuche in utopischen Museen, wie jenes, das der Zeitreisende in Wells' Roman findet, er lässt Geister und Mumien wieder auferstehen, lässt Agenten sich im Museum treffen, weil man beim Beobachten der Bilder so schön unbeobachtet sind. Er erzählt vom Vermeer-Fälscher und dem Mona-Lisa-Dieb, lässt Peter Rühmkorf über die "besinnungslos vollgebunkerte[n] Zeughäuser, Imponierfluchten, Beutestrecken" motzen, Arno Schmidt sich an Otto Müller delektieren, den berühmten Museumsleiter Klaus Gallwitz sich aus Versehen selbst einsperren und Julian Barnes pubertär mit einem Fernglas herumspielen.

Am Schluss erzählt Grasskamp noch, wie es ihm selbst erging, als er in Köln den umgewidmeten Bau von Rudolf Schwarz, das Wallraff-Richartz-Museum, wiedersah, vollgestellt und völlig seiner Funktion und Würde beraubt: "Als ich meine Verwunderung darüber formulierte, wie man in die Peilachse entlang der Fensterreihe und der Kojenarchitektur Schränke und Vitrinen so in die Engführung hatte setzen können, dass sie sich wie Hindernisse und nicht wie Exponate ausnahmen", kam der Museumswärter dazu: "Kommen Se mit, ich zeich Ihnen noch'n paar schlimmere Ecken!" Nämlich ehemals wichtige Räume, die jetzt als Depot oder Sitzungsräume fungierten. Warum erzählt Grasskamp das? "Weil ich endlich Abschied nehmen wollte von einem Museum, das nie richtig verabschiedet worden ist."

Eine Sammlung von Geschichten, die im Museum spielen, das ist nicht gerade neu. Grasskamp weist im Nachwort auf einige Vorbilder hin. Was dieses Buch von den anderen unterscheidet, ist sein glasklarer Kommentar. Der ist stets hell, durchsichtig, präzise und verständlich, dabei sehr sanft, sehr genau, sensibel und menschenfreundlich. Als er von seinem Abschied vom Schwarz-Bau erzählt, schreibt er beispielsweise von seiner privaten Geschichte mit den Museen in Köln. Und dann: "Um diese persönliche Erfahrung geht es hier, aber nicht, weil ich mich als Museumsbesucher für besonders wichtig hielte, sondern als unvermeidlicher Umweg, damit man am Schluss eine Museumsanekdote versteht, die ich vor allem erzählen möchte."

Es ist ein kleines Wunder, dass ein Kunsthistoriker nicht nur so präzise ist, sondern sich auch noch ausdrücken kann, dass er einen so menschlichen, englischen plauderigen Stil beherrscht, dass man meint, mit ihm an einem Kamin zu sitzen und er erzählt einem diese Sachen gerade, an den Füßen wärmt das Feuer, im Glas funkelt der Whisky. Dass man so etwas erleben darf, das ist schon ein Ausnahmeereignis ersten Ranges. Kann man das besser beobachten? Besser analysieren? Besser sagen? Nee, kann man nicht. Chapeau, Herr Grasskamp.


Titelbild

Walter Grasskamp (Hg.): Sonderbare Museumsbesuche. Von Goethe bis Gernhardt.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
302 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406550339

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