Ethnophantastik, apokalyptisch

Gianni Celatis Dystopie "Fata Morgana" zerfasert in Hirngespinste

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leicht kann man sich täuschen. Titel, farbenfrohes Umschlagsfoto und Inhaltsverzeichnis des neuen Romans von Gianni Celati suggerieren einen Reisebericht, vielleicht gar einen Abenteuerroman aus der afrikanischen Wüste. Seine 16 Kapitel sind mit Monatsnamen überschrieben, samt wissenschaftlich anmutenden, ethnografischen Untertiteln wie "Die Sprache der Gamuna", "Kinder und Erwachsene" oder "Das alltägliche Leben in Gamuna". Die 16 Monate sind jedoch die Schreibzeit des in der Normandie am Schreibtisch sitzenden Erzählers, der aus drei eher unzuverlässigen Quellen versucht, die untergegangene Gesellschaft der Stadt Gamuna Valley zu rekonstruieren. Das kleine Volk der Gamuna stellt sich als Hirngespinst einer fantastischen, verkehrten Welt heraus - als dystopische Gegenwelt zu unserer hyperproduktiven, fortschrittsseligen Zivilisation.

In einem durch Gebirgsmassive und Wüsten von der Umwelt isolierten Städtchen haben sich nach dem Exodus der vormaligen Bewohner die Gamuna einquartiert. Der Ort fällt langsam in Ruinen, weil ihnen Reparaturen wie überhaupt jede Veränderung als traurig machender Irrtum vorkommen. Woher sie kommen und wer sie sind, das interessiert die Gamuna nicht. Statt an die langweilige Illusion der Identität glauben sie, ihre Vorfahren seien aus Luftspiegelungen entstanden. Bei Bestattungsfeiern erfinden sie ihre Genealogien immer wieder neu. Fata-Morgana-Visionen und Träume prägen das träge und gewalttätige Leben dieses imaginären Stammes.

Die Wirtschaft dieser Gesellschaft findet hauptsächlich als geträumte Gabenzirkulation im Schlaf statt. Reichtum erwirbt man, indem man Geschichten von der Besitznahme seiner Ahnen erfindet und erzählt. Entgegen unserer Ökonomie, die der Endlichkeit des Lebens ein Weiterleben in Ruhm- oder Kapitalform entgegensetzen will, versuchen in Celatis Gegenwelt die Alten, der Versuchung des Ruhms zu entkommen. Sie zerstreuen die Früchte jahrelanger Arbeit. Durch einen Zaubertrank werden Reichtum und Ehre schlagartig in nichts verwandelt. Das Generationenverhältnis ist auch Gegenstand eines Kapitels. Dem Jugendlichen wird beim Initiationsritus der Kopf in Exkremente gedrückt und dazu eindringlich erklärt: "Das bist Du!" Die Erwachsenen, besonders die Männer mit ihren ovalen Köpfen und fadenförmigen Körpern, sind dann auch überaus ängstlich und kläglich. Zum merkwürdigen Bild der Frauen kommen wir noch.

Rätselhaft ist auch die sich allen Erforschungs- und Übersetzungsversuchen entziehende Sprache dieses Volks: ihre Aussprache hängt extrem vom Gemütszustand und von der Tageszeit ab. Zwischen den Schutthaufen ihrer Stadt treffen sich die Gamuna in abendlicher Dunkelheit für ihre "heilsamen Plaudereien" mittels langsamer Reden mit geschlossenem Mund. Am Ende geht Gamuna Valley unter. Es wird von auswärtigen Invasionsarmeen eingenommen. Angeblich bleibe ein Stimmengemurmel zurück, das von der "immer zerstörten Form, die sich da draußen breitmache" erzählt. Diese Apokalypse klingt amorph, schwammig. Dies liegt jedoch keineswegs an der präzisen Übersetzung Marianne Schneiders, denn im Original wird genauso geraunt vom Verderben der Dinge und dem Untergang der Worte. Die befremdlichen Formen und Riten des Sprechens dieses Fantasievolks sind wie die Rolle von Visionen, Träumen und Fiktionen gewiss zu lesen als Allegorien für eine (vermeintlich bedrohte?) Kunst der Fiktion und der Fantasie.

Der Erzähler dieser Parodie eines ethnografischen Berichts erhält die, immer wieder als unzuverlässig diskreditierte Kunde von den Sitten und Geschichten Gamuna Valleys durch seinen Studienfreund Astafali, einen lebensfrohen Abenteurer. Daneben kennt er die vielen Aufsätze des einst in Gamuna abgestürzten argentinischen Piloten Bonetti, der sich zum Erforscher dieses Völkchens entwickelte. Seine Theorie, wonach die epistemologische Auffassung der Gamuna über die Fata Morgana mit den physikalischen Theorien über Molekularbewegungen übereinstimme, wird freilich von anderen Wissenschaftlern als verrückt verworfen. Die dritte Quelle und Fokusfigur dieser in meist einseitigen Unterkapitelchen mäandernden Berichte ist die vietnamesische Nonne Tran. Sie wurde vermutlich von gewalttätigen Gamuna vergewaltigt und lebt mittlerweile in Südengland, wo der Erzähler sie besucht.

Neben den titelgebenden Spielereien um Fiktion, Schein und Illusion als Leitthemen dieser verkehrten Welt, sind Szenarien der Gewalt und des Krieges beziehungsweise die mal komischen, mal aggressiven Geschlechterverhältnisse andere Leitmotive im labyrinthischen Narrativ. Die Männer träumen von vergangenen Kolonialkriegen. Blutige nächtliche Fehden zwischen den Gamuna und dem Nachbarvolk der Traumuna werden von alten Legenden angeheizt. Ein ganzes Kapitel widmet sich den gewalttätigen Studien über die Gamuna, die sich nicht erforschen lassen wollen und deshalb wiederholt von Ethnologen in Begleitung von Fallschirmjägern heimgesucht oder gar verschleppt wurden. Im Labor sollten ihnen mit eingepflanzten Elektroden ihre Geheimnisse entrissen werden. Auch der in Gamuna herrschende genetische Rassismus, wegen dem kein Politiker im Rufe stehen darf, minderwertige Herkunftsgene zu tragen, offenbart Gelatis Fantasiestadt als eine eher dystopisch schreckende, denn eine utopisch lockende.

Der Autor Gianni Celati ist berühmt geworden mit Erzählungen von Reisen durch die Poebene, in denen er mit ethnographischem Blick aufs eigene Volk schaute ("Der Erzähler der Ebenen"). Er hatte über Joyce promoviert und eine Anglistik-Professur in Bologna innegehabt, die er nach fünf Jahren aufgab, um in Brighton zu leben, zu schreiben, zu übersetzen und zu reisen. Celati hat Dokumentarfilme über Afrika gedreht, Fotobände zu italienischen Landschaften mit Texten bestückt, und neben Céline, Stendhal, Barthes, Melville, Conrad und Twain auch "Gullivers Reisen" von Swift übersetzt. Italo Calvino hatte ihn einst als Autor gefördert. Dessen fantastische Erzählungen "Die unsichtbaren Städte" dürften neben Swift einer der literarischen Bezugspunkte seiner Dystopie sein. Freilich erfindet Calvino in seinen kurzen Stadtfantasien insgesamt 55 imaginäre Orte, von denen sein Erzähler Marco Polo sagte: "Städte wie Träume sind aus Wünschen und Ängsten gebaut." In Calvinos kurzen Episoden wird diese Vielzahl fantastischer Städte pointiert und allegorisch porträtiert. Bei Celati hingegen zerfasert die nicht unbedingt kohärente oder gar fesselnde Pseudo-Dokumentation von der einen seltsamen Stadt. Ein spannendes Buch kann man Celatis Ethnofiktion leider nicht nennen. Und im Gegensatz zu Swifts Satire, in deren grotesken Gegenwelten der kritische Rückbezug zur realen Welt nachvollziehbar ist, gelingt einem eine solche Deutung bei Celati kaum. Seine Parabeln haben allzu viele offene, fantastische Enden.

Man könnte einwenden, Celati gehe es gerade um die vorsätzliche Enttäuschung von Plot- und Abenteuererwartungen des Lesers. Von den wunderlichen Erzählungen der Gamuna heißt es, diese seien übersetzt in unsere Sprache sehr langweilig; sie haben keine Handlung, keine Tatsachen. Und sie drehen sich nur um Wege ohne Ereignisse, die in der Fata Morgana erlebt werden. Auch herrsche dort eine andere Topologie: die Himmelsrichtung bestimme sich nach den Füßen und es gebe gänzlich andere Landkarten. Doch macht auch der explizit in der Ontologie dieser verkehrten Welt begründete Mangel an Entwicklung, Handlung und Orientierung die Lektüre nicht lustiger.

Als Exempel der irritierend referenzlosen, als konkrete Satire schwer deutbaren Gegenwelt wollen wir noch einige Bruchstücke der Geschlechterverhältnisse erwähnen. Bei den Gamuna reizen die mit ihren vollen Brüsten wackelnden Frauen erst die Männer, um sie dann mit Liedern über die "dümmliche männliche Erektion" zu verspotten. Abenteurer kommen mit Hubschraubern in die Stadt, leiden schnell unter Liebesanfällen samt Eifersucht, Verlangen und Zweifeln und werden von den Frauen "in eine Falle gelockt". Ehemals gab es hier bei Bestattungen archaische Kopulationsriten zu Ehren der Verstorbenen. Doch nun blieb nur das weibliche Busenwackeln nebst Spottlied auf die männliche Rute davon übrig.

Die als schwach und unterlegen präsentierten Männer fühlen sich von den Frauen gefangen und stoßen gelegentlich Verwünschungen gegen diese aus. Ein Ehepaar, bei dem der Gatte zwanzig Jahre jünger als seine Frau ist, tauscht rituell erst Beleidigungen, dann Fausthiebe, "dann fielen sie aufs Bett und begatteten einander in krampfhaften Zuckungen." In England gibt es einen infamen Preis für "bad sex writing"; mindestens auf die Longlist dürfte es Celatis "Fata Morgana" schaffen. Aus alter Zeit gebe es die Legende von einem Diktator, dem Frauen und Töchter als Teppiche geschenkt wurden. Einschlägig sei bei den Gamuna auch die inzestuöse Liebe zwischen Tanten und ihren jungen Neffen; andererseits wird festgestellt, dass dort nur die Liebe zwischen Frauen existiere. Mit Ende Dreißig verkommen viele Frauen bei den Gamuna; sie rauchen stinkenden Tabak und verlachen ihre Männer, die sich nun jüngere Frauen suchen müssen.

Das vermutlich zivilisationskritisch intendierte - von der Kritik jedenfalls vielfach so gedeutete - Buch versteht sich wohl als ein Lob des Fingierens, der Fantasie und des Fabulierens. Es fehlen diesem Episodenkatalog jedoch der rote Faden und der Schwung. Auch das mag gewollt sein, denn schon zu Beginn wird notiert, dass die das Land besuchenden Abenteurer von der Melancholie des Reisens heimgesucht werden, die sich hier bis zur Geisteskrankheit steigern kann. Der "bleischwere Zauber der Erde", dem ein Kapitel gewidmet ist, zieht in Gamuna Valley alles nach unten, macht alles dumm und öd. Geisteskrank ist der Rezensent hoffentlich nicht geworden; ermüdend war der Besuch in Celatis Fantasiestadt aber schon.


Titelbild

Gianni Celati: Fata Morgana. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2006.
221 Seiten, 19,50 EUR.
ISBN-10: 3803132053

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