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Bertolt Brechts Keuner-Geschichten als Vademekum für den modernen Skeptiker

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo die Esoterikerin von Welt ihre "Weisheiten des Ostens" für jeden Tag des Jahres im Flur aufgeschlagen liegen hat, um hin und wieder einen Blick hineinzuwerfen und sich von den Unbilden des täglichen Lebens distanzieren zu können, holt sich der moderne Skeptiker der Gegenwart (dem man ja nichts vormachen kann) seine tägliche Aufmunterungsdosis in Texten wie Bertolt Brechts "Geschichten vom Herrn Keuner".

Dass sie nicht für jeden Kalendertag reichen, ist bedauerlich, aber nötigenfalls ließen sich ja noch ein paar Sprüche und Reflexionen aus dem "Buch der Wendungen" oder Zitierfähiges aus der Lyrik und sonst woher nehmen, um die 365 voll zu machen. Immerhin sind es seit dem Fund von 15 neuen Geschichten in Zürich und deren Veröffentlichung 121 jener Prosa-Miniaturen, deren Stärke in der außergewöhnlichen Wendung und in der betont gegenkonventionellen Denkform liegt.

Suhrkamp hat nun eine Sammlung aller Keuner-Geschichten vorgelegt, die in grobes grünes Leinen gebunden ist und in meinem Regal wohl irgendwann die alte orange Taschenbuchausgabe mit der Zeichnung vom rauchenden Brecht verdrängen wird. Die neuen Keuner-Geschichten folgen nicht mehr der Werkausgabe (der alten von Elisabeth Hauptmann betreuten oder der neuen, der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe), sondern versammeln alle Geschichten in der Chronologie ihrer Entstehung (soweit diese eruierbar ist), zwischen 1929 und 1956.

Dass diese Publikation - wie ja schon die früheren Sammlungen - mehr dem Erkenntnis- und Leseinteresse des Publikums als den Vorgaben Brechts entspricht, ist dabei freilich kaum zu beanstanden. Brecht selbst hat seine Keuner-Geschichten nicht gesammelt vorgelegt, sondern sie in kleineren Dosen verabreicht, in den "Versuchen" und in den "Kalendergeschichten", die wohl zu den erfolgreichsten Sammlungen aus der Produktion Brechts gehören. Dabei mag neben strategischen Überlegungen, die die einzelnen Geschichten davor bewahren sollten, sich abzunutzen, indem sie nur dosiert publiziert wurden, auch eine Rolle gespielt haben, dass die Denk- und Argumentationsform Brechts von enormer Provokationskraft ist.

Dass Brecht ein ungewöhnlicher Denker und vor allem Autor war, ist keine wirklich neue Erkenntnis. Die Keuner-Geschichten, die in jeder Schulkarriere ihren zweifelhaften Stellenwert haben, bestätigen das. Daran wird auch diese neue, hier vorläufig "erste vollständige" Ausgabe genannte Publikation nichts ändern (was passiert eigentlich, wenn es weitere Funde geben sollte? Gibt es dann zweite und dritte vollständige Ausgaben?). Allerdings zeigen einige der Sentenzen und Argumentationssaltos doch Gebrauchspuren (die sich auch gegen das hier Geschriebene wenden lassen: "Damals als ich es schrieb, stimmte es. Es wird also immer noch stimmen."). Denn so wenig der Überlegung entgegen zu setzen ist, die vom Überleben in der kleinsten Größe spricht (eine Idee, die auch in den zeitgleich entstandenen Gedichten des "Lesebuchs für Städtebewohner" oder in der "Hauspostille" zu finden ist), dem Umstand, dass dieser Satz einem mittlerweile in den verschiedensten Situationen begegnet ist, nimmt ihm doch etwas von seiner Frische.

Außerdem sind wir daran gewöhnt, so zu denken. Auch anderes, was uns Brecht zu bedenken gegeben hat, ist in den allgemeinen Gebrauch übergegangen. So ließe sich etwa die Begegnung zwischen dem Philosophieprofessor und Herrn Keuner (geschildert in "Weise am Weisen ist die Haltung") als Motto der viel gescholtenen Toskana-Fraktion verstehen: Nur wer bequem sitzt, bequem redet und bequem denkt, wird ein guter, das heißt gebrauchsfähiger Denker sein (sehr wahr geschrieben). Auch dass die Notwendigkeiten so geordnet werden müssen, damit die Haltung bequem und damit die Gedanken hilfreich sein können, ist immer noch ein guter Gedanke. Aber wo ist der Unterschied zu den Sentenzen eines Mahatma Gandhi oder anderen asiatischen Denkern oder Politikern?

Im Gebrauch würde Brecht vielleicht sagen (denken wir uns jetzt aus): Aber in der Tat liegt darin gerade das zugleich Besondere und Allgemeine dieser Texte. Brechts Keuner-Geschichten bringen ihre Leserinnen und Leser genauso auf Distanz zu ihrer eigenen Welt, wie dies auch Gandhi kann. Beide haben den Appell, dass Leben und Welt sich ändern müssen und dass daran etwas getan werden kann. Dass jemand die Gespräche mit einem Gegenüber abbrechen kann, weil ihm selbst in dessen Gegenwart nichts Gescheites mehr einfällt und ihm das unerträglich wird, ist zumindest eine hilfreiche Anleitung bei der Suche angemessener Gesprächspartner: Geschichten dieser Art dienen einem dazu, besser zu denken, zu lernen und nicht, vor sich herzuschwatzen. Deshalb schätze ich übrigens - nebenbei gesagt - die oben erwähnte Esoterikerin des Tages ganz besonders. Ob freilich Bankiers, die, sagen wir, in der Schadensabteilung ihres Hauses arbeiten und sich auch für fernöstliches Gedankengut interessieren, den intelligenten Schüler dieser ungewöhnlichen und praktischen Denkformen, Bertolt Brecht, ebenso ungebrochen in ihren Alltag integrieren können, ist am Ende doch hoffentlich zweifelhaft. Sie sollen sich trotzdem etwas Mühe geben, die richtige bequeme Haltung zu finden, um auf bessere und vor allem angemessene Gedanken zu kommen. So etwas kann nicht einmal den Agenten des Finanzkapitalismus schaden.


Titelbild

Bertolt Brecht: Geschichten vom Herrn Keuner. Erste vollständige Ausgabe aller 121 Geschichten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
146 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3518458469

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