Lügengeschichten und Gauklerlegenden

Die Trobadora singt wieder: Irmtraud Morgners Prosa erscheint in gleich zwei Neuauflagen

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie begegnen dem eigenen Gesicht und wechseln danach das Geschlecht. Sie bringen die Leute zum Fliegen und nebenbei erschaffen sie die Welt neu. Sie verkehren bei den Hexen im Hugenottendom und lernen, wie man Leute entrückt. Oder sie gehen durch die Luft, um durch die gewonnene Zeitersparnis Kind und Wissenschaft unter einen Hut bringen zu können. Irmtraud Morgners Protagonistinnen benötigen alle Fantasie, die sie aufbieten können, um ihren Alltag im "gelobten Land" einer per Gesetz verordneten Gleichberechtigung der Geschlechter bewältigen zu können. Sie benötigen alle Fantasie und so viel Humor, dass es manchmal weh tut.

Gleich zwei Bücher der Autorin, die "heutzutage nahezu vergessen ist" (so Herausgeber Jörg Sundermeier), hat der Berliner Verbrecher Verlag herausgebracht: Ein Lesebuch mit Erzählungen und eine Neuauflage des 1972 erstmals erschienenen Romans "Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers". Damit gewährt der Verlag Einblick in zwei der wichtigsten Themen der 1990 verstorbenen Autorin: Die Frage, wie Männer und Frauen als gleichberechtigte Menschen miteinander leben können, und die Aneignung der Geschichte durch diejenigen, die in der offiziellen Überlieferung nicht vorkommen - Motive, die die Autorin spielerisch, frech, mit viel Witz und schwarzem Humor immer wieder aufgreift, variiert und persifliert.

"Umständehalber legendär" und auf fantastisch-paradoxe Weise begegnet Bele H. in den "wundersamen Reisen" der Geschichte, nämlich in Gestalt ihres toten Großvaters, zu Lebzeiten Lokomotivführer und damit wie viele der Morgner'schen Heldinnen und Helden ein Angehöriger des "fahrenden Volkes", das heißt der Vaganten, Gaukler und Spielleute.

Wie Sindbad der Seefahrer erzählt Gustav der Weltfahrer der "Verfasserin" Bele H. in sieben Kapiteln die Geschichten seiner sieben Weltreisen, die er mit seiner rollenden, schwimmenden und fliegenden Lokomotive Hulda unternimmt. Unmittelbarer Zuhörer ist sein Namensbruder Gustav, der Schrofelfahrer (ein Müllkutscher), eine analoge Figur zu Sindbad, dem Lastträger in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Märchenhaft und in grotesker Verfremdung erzählt Gustav von bizarren gesellschaftlichen Auswüchsen und pragmatischen Vereinseitigungen. Da er nicht teilhat an der Geschichte, die nur "Sieger" verzeichnet, muss Gustav sich seinen Teil erlügen und tut dieses in einer fantastischen Form von Weltaneignung. Wie beflügelnd ein solch respektloser Umgang mit der Historie wirkt, zeigt sich in den kurzen Textpassagen zwischen den Reisegeschichten: Der anfangs nüchtern skeptische Schrofelfahrer wird "am Sehnsuchtsfaden" hineingezogen in die skurrilen Welten, gegen seinen Willen fasziniert beginnt er zu träumen, seine Arbeit macht ihm mehr Spaß und sein Liebesleben gestaltet er weitaus ideenreicher als je zuvor. Am Ende verlegt er sich sogar selbst auf das Geschichtenerzählen.

Der Roman veranschaulicht ein Konzept des Schreibens in mehreren Schichten, auf verschiedenen fiktionalen und metafiktionalen Ebenen, die sich zum Teil spiegeln und ergänzen, oder aber sich gegenseitig untergraben. Auch der Erzähler ist mehrdimensional angelegt: Es gibt die Verfasserin im Vorwort, den Erzähler der Geschichten, die Erzählerin der Zwischenpassagen, zu denen sich im Nachwort noch eine Herausgeberin gesellt. Morgner hat einen ensembleartigen Erzählstil entwickelt, den sie im nachfolgenden Beatriz-Roman mit seiner Montage-Struktur perfektioniert hat und in dem sie das Spiel mit den Erzählebenen und -haltungen auf die Spitze treibt. Auch der Weltfahrer-Roman weist einen hohen Grad an Metafiktionalität auf. Vorwort, Nachwort und eingeschobene Kommentare legen den Vorgang der Textproduktion selbst offen, etwa wenn es im "Nachwort" der fiktiven Herausgeberin heißt, dass der Text in der ersten Fassung nicht veröffentlichbar sei und durch Kommentare ergänzt werden solle - ein Seitenhieb auf die Zensur in der DDR, mit der Morgner selbst unliebsame Erfahrungen gemacht hat und die vermutlich auch dazu beigetragen hat, dass sie sich (neben anderen Autorinnen und Autoren) verstärkt dem Fantastisch-Skurrilen und der Mythologie zugewandt hat. Stellenweise werden Interpretationen der Texte gleich mitgeliefert und im Nachwort wird sogar - schön ironisch - eine genreartige Einordnung vorgenommen.

Morgners Art zu erzählen gleicht einem Blick durchs Kaleidoskop - und ein solches führt Wanda aus der "Gauklerlegende" im Erzählband auch immer mit sich. Das Ergebnis sind Bruchstücke, Fragmente, die sich spiegeln, die verzerren und relativieren. "Lügner arbeiten nicht mit doppeltem Boden, sondern bodenlos", heißt es im Gustav-Roman. Das bedeutet auch, Widersprüche auszuhalten. Morgner tut das mit sehr viel Humor. "Die schönsten Aussichten vom Meer gewinnt man in der Waschschüssel", beginnt zum Beispiel die Erinnerungsskizze "Reichsbahnbad". In der "Gauklerlegende" endet Wandas Beschreibung des "gelobten Landes" DDR mit den Worten: "55,2 Prozent der Bevölkerung sind Frauen. Sie regieren das Land. Meine Mutter ist Kreistagsabgeordnete."

Irmtraud Morgner fordert wache Leserinnen und Leser, solche, die ihre eigenen Schlüsse ziehen, die unter und hinter der vordergründig angeboten Programmatik die Brüche im Blick haben. Die "gute Botschaft der Valeska in 73 Strophen" endet nur deshalb in "idealen eheähnlichen Zuständen", weil die "Prophetin" trickst. Und ihre "Regentschaft" bezahlt Wandas Mutter mit einer 90-Stunden-Woche - drei volle Schichten, eine bezahlt, die zweite und dritte gratis, wie es an anderer Stelle heißt.

Die Autorin fordert wache Leser und sie bedient nicht das Lese-Bedürfnis nach Einfühlung, liefert keine direkten Innenansichten oder subjektive Gefühlslagen - ein Grund vielleicht, weshalb die Thesen und Romane der Autorin, wie es im Nachwort zum Lesebuch heißt, vielen als überholt gelten. Das Morgner'sche "epische Ich" spricht sich nicht direkt aus, beispielsweise durch ein Individuum und seine (psychische) Entwicklung, innere Konflikte oder Reflexionen. Es vermittelt sich indirekt über die Erzählstruktur, wie beim 1974 erschienenen Roman "Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz", in den die meisten der im Lesebuch enthaltenen Erzählungen eingearbeitet wurden und der in seiner offenen collagehaften Form seinen Inhalt und die Bedingungen seiner Entstehung reflektiert. Genau dieser Aspekt macht das originär Innovative der Morgner'schen Schreibweise aus. Vielleicht bringt der Verbrecher Verlag auch diesen Roman wieder heraus, auf den zutrifft, was die Protagonistin in "Bis man zum Kerne zu gelangen das Glück hat" über Wilhelm Meister sagt: "Goethe hat in dem Buch viele Lebensgeschichten versammelt, wodurch auf natürliche Weise das Zeitgemälde erwächst. Die Spannungsfelder zwischen den Charakterbildern sind Räume, in denen die Fantasie des Lesenden das Wunderbare einer Epoche ahnungsweise finden kann."


Titelbild

Irmtraud Morgner: Die wundersamen Reisen Gustavs des Weltfahrers. Roman mit Kommentaren.
Verbrecher Verlag, Berlin 2006.
153 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3935843739

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Irmtraud Morgner: Erzählungen. Ein Lesebuch.
Verbrecher Verlag, Berlin 2006.
164 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3935843747

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