Vom Spielen mit den Schmuddelkindern

Gerhard Henschel analysiert die offensichtlichen Geheimnisse der "Bild"-Zeitung

Von Nikolai WojtkoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolai Wojtko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Mann kennt sich mit Obszönitäten aus, veröffentlichte er doch im Jahrtausendbindejahr 2000 zusammen mit Eckhard Henscheid die grundlegenden Reflexionen über das "Jahrhundert der Obszönität". Jetzt, sechs Jahre später, nimmt sich das monumentale Standardwerk wie eine kleine Fingerübung aus, um sich endlich dem Obszönen schlechthin zuwenden zu können. Dieses Obszöne braucht zu seiner vollständigen Entfaltung nicht nur eine moralische Verkleidung, sondern auch ein über die Leserschar hinausgehendes' weit verzweigtes Netzwerk von Sympathisanten.

"Stellen wir uns einmal mal ganz dumm." Der erste Satz von Gerhard Henschels Gossenreport ist der einzige, mit dem er uns scheinbar auf das Niveau der "Bild"-Zeitung ziehen möchte. Allerdings ist dieser Satz, wie sich unmittelbar herausstellt, ambivalenter als wir gedacht haben. Henschel begibt sich nicht auf das Niveau dessen herab, was er analytisch sezieren möchte, er zitiert im Folgenden keinen Ausschnitt des Boulevardblattes, sondern den ersten Artikel des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen, heißt es da, sei unantastbar. Also, lauschen wir dem Artikel und stellen uns dumm. Denn natürlich wissen wir, wie die "Bild"-Zeitung funktioniert und selbstredend zerrt dieses Boulevardblatt private Details von Menschen ungefragt an die Öffentlichkeit, wenn sich mit einer schlüpfrigen Überschrift die Quote erhöhen lässt.

Natürlich haben wir von Günter Wallraff gehört, dem Mann, der bei "Bild" Hans Esser war, und selbstredend unterstützen wir Springer nicht dadurch, dass wir jetzt gleich die "Bild"-Zeitung kaufen würden. Aber würden wir nicht Kai Diekmann zustimmen, wenn er behauptet, dass das Privatleben eines Menschen auch für "Bild" privat bliebe, wenn es denn privat ausgelebt würde?

Was Henschel sich in seinem Buch vornimmt, ist ein erfrischend schlichter Mechanismus, mit dem er, ohne moralinsauer zu werden und ohne zu langweilen, seiner Entrüstung darüber Ausdruck verleihen kann, wie es dem System "Bild" gelingt, immer wieder Personen des öffentlichen Lebens - Talkmaster, Schauspieler, Politiker und selbst den Papst für die eigene Sache - die Steigerung der Quote - zu gewinnen. Henschel geht dabei medientheoretisch, nämlich an Marshall McLuhan geschult vor. Er führt noch einmal deutlich vor Augen, was die "Bild"-Zeitung möchte: ihre Anzeigenplätze teuer verkaufen. Dabei handelt es sich, wie Henschel wiederholt ins Bild setzt, vor allem um Anzeigen für Telefonsexdienstleistungen. Meist zitiert er diese Texte, wenn auf der selben Seite ein konservativer Politiker oder ein Beauftragter des Vatikans eine Erklärung abgibt und dem gewerblichen Treiben, auf dem auch ein Großteil der "Bild"-Reportagen basieren, dadurch stillschweigend seine Absolution erteilt.

So zeigt Henschel en passant auf, wie "Bild" längst das Image des Gossenblattes abgelegt hat und in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Auch ein Medienkanzler musste dies erfahren, als plötzlich gestandene Journalisten seriöser Print- und Fernsehmedien die Pressefreiheit in Gefahr sahen, nur weil Schröder der Bildzeitung kein Interview mehr gewähren wollte.

Die Leistung des Bandes besteht darin, eindringlich vor Augen zu führen, wie sehr wir uns sowohl an das Bestehen der "Bild"-Zeitung und ihrer Arbeitsweise als auch ihrer zunehmenden Verankerung innerhalb der Mitte der Medienlandschaft gewöhnt haben. Schließlich würde doch niemand Anstoß daran nehmen, dass ein Prominenter aus Sport, Show oder Politik der "Bild"-Zeitung Rede und Antwort steht. Henschel versteht es, ohne moralische Ansprachen, die "Bild"-Zeitung stets mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, indem er schlicht die moralischen Entrüstungen ihrer Kommentatoren mit den Recherchemethoden dieser Zeitung kurzschließt.

Am 9. Februar 2006 titelte Kai Diekmann, "Bild"-Chefredakteur zusammen mit Ertugrul Özkök, Chefredakteur des türkischen "Hürriyet" in "Bild": "Wir sind Freunde!". Mit dieser Aktion wollten sie den Kampf der Kulturen eindämmen, der angeblich durch die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen entfacht worden war. Diekmann erreichte was er wollte, denn prompt lobte Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, diese "Bild"-Aktion und auch sein Kollege, der CDU-Abgeordnete Reinhard Grindel, stieß in dasselbe Horn: "Das ist für mich ein Beispiel für verantwortlichen Journalismus [...]. In unruhigen Zeiten brauchen wir Aktionen wie die von "Bild" und "Hürriyet", die beruhigend wirken. Ich finde, wir sollten das loben." Bild konnte eine neue Titelzeile drucken: "Bundestag lobt Bild."

Henschel verweist auf die Rolle der Privatsender, die oftmals als Stichwortgeber für Schlagzeilen der "Bild"-Zeitung fungieren. Dass diese Schlagzeilen dann in Nachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zuweilen sogar durch Abbildung der entsprechenden Seite der Bildzeitung auftauchen, erwähnt der Autor lediglich indirekt. Immerhin kann man nach der Lektüre sogar Sympathie zu einem Mann entwickeln, den man nicht kennen würde, wenn seine angeblichen Skandalgeschichten nicht ihren Weg über die "Bild"-Zeitung in die Nachrichtensendungen finden würden. Denn schließlich kennt man auch Ernst August Prinz von Hannover lediglich aus den Fernsehnachrichten, die ihn - darin der "Bild"-Zeitung folgend - nicht gerade als Sympathieträger beschreiben.

Dass es sich bei der Bild-Zeitung nicht einfach nur um ein gossenhaftes Ärgernis handelt, ist nicht das geringste Verdienst dieses analytisch klugen Buches, das sich selbst den Anschein gibt, lediglich kleine Geschichten und "Skandälchen" nachzuerzählen.


Titelbild

Gerhard Henschel: Gossenreport. Betriebsgeheimnisse der Bild-Zeitung. Mit einen Gastbeitrag von Hermann L. Gremliza.
edition TIAMAT, Berlin 2006.
192 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3893201017

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch