Genitalien im Schubkarren

Dennis DiClaudios Lexikon "Der kleine Hypochonder" ist vergnüglich, sofern man weder eingebildet noch tatsächlich an einer der aufgeführten Krankheiten leidet

Von Stephan SonntagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Sonntag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum hätten Friedrich der Große, Charlie Chaplin, Thomas Mann oder Harald Schmidt vermutlich wenig Freude an Dennis DiClaudios Buch? Wahrscheinlich, weil diesen großen und berühmten Hypochondern der Tonfall des "Kleinen Hypochonders" widernatürlich erscheinen würde. Der salopp-lapidare Umgang des Autors mit den schrecklichsten und heimtückischsten Krankheiten, die den Menschen heimsuchen können, dürfte den oben erwähnten Personen unerträglich sein.

Über die Sklerodomie, einer Krankheit, bei der sich die Haut und die inneren Organe allmählich verhärten, schreibt DiClaudio beispielsweise: "Ihre Gelenke schwellen an, unter Umständen schrumpfen Ihre Muskeln, so dass jede Bewegung extrem erschwert und schmerzhaft wird. Hände und Füße verformen sich zu knotigen Krallen. Die Haut um Mund, Nase und Augen lässt Ihr Gesicht zur Maske erstarren. Die Einladungen zu Szenepartys werden deutlich weniger."

Zum Glück bleibt der Hypochonder jedoch mit dem Krankheitsbild nicht allein gelassen, das "Lexikon der eingebildeten Krankheiten" liefert auch gleich Vorschläge zur Prävention und Behandlung der Symptome. Fataler Weise kann präventives Verhalten aber auch einen erheblichen Einschnitt in das bisherige Sozialverhalten des Hypochonders bedeuten. "Fassen Sie niemanden an. Lassen Sie sich von niemandem anfassen. Schütteln Sie niemandem die Hand. Umarmen Sie niemanden. Küssen sie nicht", so lauten die Vorsichtsmaßnahmen, um der Gefahr einer endemischen Syphilis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu entgehen. Wer sich diesen Kodex noch zu Eigen macht, wird aber spätestens beim Präventionshinweis zur Ascariasis, einem Wurmbefall in Lungen und Luftröhre, Schwierigkeiten bekommen: "Essen Sie nichts."

Von ihrer Gesundheit und körperlichen Widerstandskraft überzeugte Gemüter werden mit Sicherheit Vergnügen an der Lektüre dieses Buchs haben. Es gilt eben nur, die positiven Aspekte der Krankheiten zu entdecken. Im Anfangsstadium einer Filarienlymphangitis "flirten Frauen häufiger mit Ihnen". Dass Penis und Hoden aber derart anwachsen, dass sie in einer Schubkarre herummanövriert werden müssen, dürfte die Erfolgsaussichten beim anderen Geschlecht jedoch wieder erheblich schmälern. Immerhin bleibt die Hoffnung, dass "sich ein paar Kids in Brooklyn mit der Krankheit brüsten und man wieder zu den Trendsettern an der vordersten Modefront" gehört.

Dem mittelhessischen Lokalpatrioten dürfte es zudem mit Stolz erfüllen, dass auch das Marburg-Fieber seine Aufnahme in den illustren Kreis fataler Erkrankungen gefunden hat. In dem durch die Lektüre angeregten Zustand morbider Neugier wird selbiger mit großem Wohlgefallen zur Kenntnis nehmen, dass DiClaudio zwei Mal ausdrücklich vor dieser Krankheit warnt: "Mit Marburg-Fieber ist nicht zu spaßen!" Im Potpourri der grauenhaftesten Erkrankungen liegt das Marburg-Fieber zumindest in der Spitzengruppe und der gemeine Mittelhesse ist mit globalen Spitzenergebnissen schließlich nicht verwöhnt.

Nun sind alle 45 im "Kleinen Hypochonder" aufgeführten Krankheiten aber wissenschaftlich verbürgt, und es mag den einen oder anderen potentiellen Leser geben, der tatsächlich an einem dieser Gebrechen leidet. In seinem Vorwort bedenkt DiClaudio auch diesen - wohl eher kleinen - Teil der Bevölkerung: "Für den Fall allerdings, dass Sie in der Tat an einer auf den folgenden Seiten beschriebenen Krankheiten leiden, sollten Sie wissen, dass es keineswegs in meiner Absicht liegt, mich über Ihre furchtbare Lage lustig zu machen. Sie haben es schon schwer genug." Ob es einem an einer akuten toxischen Epidermolyse leidenden Patienten - bei dem sich die Haut großen Fetzen vom Körper schält - tatsächlich ein Trost ist, um die Anwesenheit Dutzender Rechtsanwälte vor seinem Krankenhauszimmer zu wissen, die nur auf seine Anzeige wegen falscher Medikation warten, bleibe mal dahingestellt.

In jedem Fall dient das hypochondrische Lexikon aber der Selbsterkenntnis. So wagte es der Verfasser dieser Rezension bisher nicht das Kapitel zum Candirú-Befall zu lesen, auf Anraten DiClaudios: "Bitte folgen Sie meinem Rat: Lassen Sie das folgende Kapitel aus. [...] Sie wollen nichts über einen Candirú-Befall hören. Sie können den Rest Ihrer gesunden Tage wunderbar verbringen, ohne je den geringsten Einblick in diese grässliche Krankheit zu haben, und hätten nichts verpasst. Also, bitte, überspringen Sie, was jetzt kommt." Bleibt am Ende eigentlich nur eine Frage offen: Hätte Thomas Mann sich an das Kapitel herangewagt?


Titelbild

Dennis Di Claudio: Der kleine Hypochonder. Lexikon der eingebildeten Krankheiten.
Übersetzt aus dem Englischen von Anne Uhlmann.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
208 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3421059594

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