Die Warte des Zuschauers

Peter Handkes "Spuren der Verirrten"

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man hat Handkes Stücke oft als undramatisch eingestuft, die frühen Sprechstücke ebenso wie das spätere Dramatische Gedicht "Über die Dörfer" (1981) oder "Das Spiel vom Fragen" (1989). Undramatisch, weil dramatische Konflikte, ja überhaupt eine dramatische Handlungsführung darin nicht zu finden sei. Handke selbst sieht seine Stücke als "episches Theater", wie er einmal gesagt hat, und dabei ist an Brecht freilich nicht zu denken. Keine didaktischen Impulse, kein Thesen-Theater und schon gar kein Agitprop.

All diese stationär wirkenden Dramen seit "Über die Dörfer" kreisen um Figuren, die in einer Lebenskrise stecken, Verzagte, die von sich erzählen und solche, die zuversichtlich den Untröstlichen einen Schub geben, sie auf den Weg bringen. Unterwegs sind sie alle mehr oder weniger, Pilger im Dienst eines anderen Lebens. Pilgernde gibt es auch in "Spuren der Verirrten", jedenfalls eine Menge Menschen, die mal in der einen, mal in der anderen Richtung auf der Bühne in Bewegung sind, als kennten sie sich nicht recht aus und wüssten nicht, wohin sie der Aufbruch führen soll. Solcherlei zeigt sich als eine gleichsam dramatische Grundsituation, die einem auch aus Handkes Romanen vertraut ist. Jemand fällt aus seinem gewohnheitsstarren Lebenszusammenhang heraus, er wird auf eine Reise geschickt oder schickt sich selbst, ein Wandel ereignet sich mit ihm, und am Ende steht vielleicht gar eine Verwandlung, eine Anleitung hin zum richtigen Leben und Tun.

Dieser Grundzug durchweht auch "Spuren der Verirrten", so dass man, verstimmt ob solcher Wiederholungslitanei, das Büchlein nach flüchtigem Durchblättern rasch beiseite legt. Man kann aber auch, einmal ungeachtet jener konstant bleibenden Grundtendenz Handke'scher Prägung, Differenzen ausmachen zu früheren Stücken und den schmalen Text, nach anfänglichem Missmut über den getretenen Quark, wieder hervorholen und im bedächtigen Lesen schätzen lernen. "Spuren der Verirrten" dürfte das erzählerischste Stück sein, das Handke bislang verfasst hat. Es gibt keine dramatis personae im strengen Sinn, wenn auch manche der namenlosen Figuren aus der vorbeiziehenden Menge noch daran erinnern, wie der "Dritte", eine Art Mentor oder geistiger Leiter der Gruppe, und der "Möchtegern-Held". Erzählt wird das Ganze von einem Ich, erklärtermaßen dem Zuschauer des Geschehens, der gleich zu Beginn von sich sagt: "Seit jeher habe ich nichts getan als zuschauen. Und inzwischen ist das meine Rolle geworden."

Das ist nicht neu bei Handke und könnte auch für die eine oder andere Figur aus seinen Romanen gelten. "Das Zuschauen" - hat Handke in einem Gespräch mit Peter Hamm bekräftigt - "ist etwas, das wir alle brauchen [...], daß uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise, wie man sich vielleicht das von Gott vorstellt, [...]." Kein Voyeurismus also. Das Zuschauen ist die bevorzugte Tätigkeit, die einer Handke-Figur angedichtet werden kann. Im vorliegenden Fall lässt der Zuschauer die aus Paaren gefügte Menge an sich vorüberziehen. Dass sie zu einer neuerlichen Arche unterwegs wären, um vor einer neuerlichen Sintflut gerettet zu werden, wird nicht gesagt, aber auch nicht bestritten. Aus der Menge, die zunächst ohne Sprache daherzieht, werden dem Zuschauer allmählich Gesprächsausschnitte vernehmbar, wie früher schon den beiden Engeln die Selbstgespräche im Film "Himmel über Berlin". Was da geredet wird, manchmal wie ein Schlagabtausch, kommt zuweilen vor, als sei es montiert aus Übrigbleibseln, die in die Prosaarbeiten nicht hineinpassen wollten, Schlacken der Prosa.

Die lange Rede dann des "Dritten", der als Leitfigur für die anderen gegolten hatte, führt zu einer Wende in dem Stück. Also doch ein dramatischer Kunstgriff, eine Weise der Peripetie. Hatte sich bis dahin eine allgemeine Trostlosigkeit breit gemacht, so kündet jetzt dieser lange Monolog vom Ende der Zeit, einer kurz bevorstehenden Menschheitsdämmerung. Solch apokalyptische Stimmung löst eine heillose, letztlich aber doch heilsame Verwirrung aus, die selbst auf den Sprachakzent abfärbt. Nicht die Vermessenheit, sondern die Hoffnungslosigkeit der Menschen ist es hier, welche die Sprache verwirrt. Erst als der "Möchtegern-Held" über die "gemeinsame [...] Tragödie des gemeinsam zum Schattendasein Verurteiltseins" lamentiert, schreitet der Zuschauer ein. Da sollen freundlichere Töne angestimmt werden. "Schluß also mit dem tragischen Gehabe. Tragödien, solche oder solche, gibt es nach dem neuesten Stand der Forschung nicht mehr."

Er hätte auch sagen können: Ihr müsst nicht noch Theater machen, wenn sowieso schon alles Theater ist. Die Ansprache des Zuschauers revidiert den Glauben an ein Ende der Zeit zugunsten der "Spielzeit". Und dann spricht er schließlich jenen Kernsatz aus, der als Motto für das ganze Stück zu lesen wäre: "Könnte nicht ein jeder von euch noch und noch Geschichten erzählen, wie sich das Blatt gewendet hat - und nicht immer zum Bösen - dadurch, daß er als Zuschauer wirkte, als Zuschauer tätig war?"

Das Drama soll zur Erzählung werden. Die Worte scheinen bei denen auf der Bühne zu fruchten, fangen manche doch tatsächlich an, von sich zu erzählen. Die Zuversicht, das uneingeschränkte Ja zum Weitergehen und Sichverirren hält aber nicht lange vor. Die beständige Verirrung ist doch nur Trug, das Gehen bloß ein Trott, auch wenn Handke das so ausdrücklich nicht bestätigt haben möchte. Handkes Stück lebt gewiss nicht von der Botschaft seiner Zuschauer-Figur, sich im Spiel zu ergehen und nicht so schwarz zu sehen. Einmal lässt er eine Frau ausrufen, als sei sie eine Komparsin des Zuschauers: "Schluß mit den Dramen. Das Leben soll erscheinen."

Das klingt banal und pathetisch zugleich. Es zeigt sich nachgerade in den vielen kleinen Dialogauszügen, dass das Dramatische unweigerlich im Alltäglichen steckt wie der Wurm, man muss nur einen Blick dafür gewinnen. Der Zuschauer verkörpert den Idealtypus des sammelnden Erzählers, und wenn die Erzählbarkeit zu verschwinden droht, ist es seine Aufgabe, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ohne die Funktion einer bündelnden Aufmerksamkeit des Zuschauers gäbe es keine Berechtigung für die knappen, mal lakonisch heiteren, mal in fast heilig zu nennendem Ernst daherkommenden Dialog- und Monologszenen, die den eigentlichen Wert und die Qualität des Stücks ausmachen. Mancher Leser mag sich erfreuen an den Anspielungen, die nicht selten darin aufgehoben sind. Etwa wenn der "Möchtegern-Held" von sich selbst sagt: "Was mich überleben wird: mein dummes Gesicht über der Kante zum Abgrund. Und die Scham, daß mein Fall auch noch Zuschauer hat." Da wird Kafkas Josef K. eine tragikomische Referenz erwiesen. Alles ist Spiel, Theater, das in den namenlosen Figuren aufgefächerte Alltägliche nimmt in der Sprache, einer Sprache, die stets den Keim zum Erzählen in sich trägt, Gestalt an und seinen Lauf.

"Spuren der Verirrten" ist kein Sprechstück, wie auch immer es auf der Bühne gelingen mag, die Figuren und ihre Sprache tatsächlich zu verkörpern. Ein Lesestück ist es durch seinen Erzählgestus allemal.


Titelbild

Peter Handke: Spuren der Verirrten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
88 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3518418548

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch