Das Erbe von Borges' Erbe

Ein kleiner Band mit großer Literatur von Roberto Bolaño

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1986 starb Borges. Ungefähr zu gleichen Zeit begann der Aufstieg Roberto Bolaños zum vermutlich interessantesten Autor der jüngeren spanischsprachigen Literatur. Mit Borges teilt er die unerschöpfliche Einbildungskraft, die ihn immer wieder neue, überraschende, hyperreale oder absurde Textwelten erfinden lässt. Der Abwechslungsreichtum der Orte, Handlungen und Töne in den fünf Erzählungen von "Der unerträgliche Gaucho" ist beeindruckend. Er macht die Lektüre zu einem vielfältigen Vergnügen. Mit Borges verbindet Bolaño auch seine erstaunliche Belesenheit. Im vorliegenden Band kann man diese in zwei glänzenden literaturtheoretischen Essays bewundern - aber auch in den geistreichen intertextuellen Anspielungen der Erzählungen. Von Borges unterscheidet Bolaño, dass er neben den Leitmotiven des Reisens, des Schreibens und der Gewalt (besonders in seinen Anleihen beim Thrillergenre) auch ein Autor erotischer Obsessionen ist.

Von Borges unterscheiden ihn auch sein Lebenslauf und seine politische Einstellung. Während Borges zumindest zu Beginn die argentinische Militärdiktatur begrüßte, floh der 1953 in Santiago geborene Bolaño 1973 nach dem chilenischen Militärputsch nach Spanien. Zuvor hatte er viele Jahre seiner Jugend in Mexiko verbracht. Er war gerade erst nach Chile zurückgekehrt, als die Armee putschte und ihn umgehend für eine Woche inhaftierte. In Spanien, dem Land seiner Großeltern, schlug er sich dann als Hafenarbeiter und Nachtwächter durch und begann in den 1980er Jahren zu publizieren.

Sein Werk umfasst über ein Dutzend Bücher; von 1997 bis zum Jahr seines Todes, 2003, schrieb er jedes Jahr eines. Etwa zwei Drittel davon sind Romane, der Rest Sammlungen von Erzählungen. Auf deutsch liegt erst die Hälfte seiner Werke vor. Darunter die Erzählungssammlung "Telefongespräche", deren Protagonist eine ehemalige Pornodarstellerin sein kann, die sich in der Klinik an ihren AIDSkranken Geliebten erinnert - oder ein talentloser Autor, den alles zur Kollaboration zu bewegen scheint, und der doch von der Deportation bedrohte Schriftsteller rettet.

Und die Sammlung der gut 30 Porträts von Autoren aus den beiden Amerikas, "Die Naziliteratur in Amerika", die im Modus eines fantastischen Hyperrealismus ein genial fiktives Handbuch rechtslastiger Schriftsteller erfindet. Diese Parodie ist ein abgründig literarisches Spiel, das mit seinen vielen allzu glaubwürdigen Details zugleich eine beißende Kritik vornehmlich südamerikanischer Realitäten ist. Von den Romanen sind Die wilden Detektive übersetzt. Von der Kritik wurde dieser kunstvoll polyphone Roman mit Pynchon und Cortazar verglichen. Daneben der düstere Roman über das Böse, Die finsteren Sterne, sowie Amulett - ein Roman über Erinnerungen und Hoffnungen einer Literaturliebhaberin, die sich im Kontext politischer Gewalt 13 Tage auf einer Universitätstoilette versteckt. Gespannt sein dürfen wir auf Bolaños großen Roman aus dem Nachlass, 2666, der wohl nur beinahe fertig wurde und hoffentlich bald auch auf deutsch erscheint.

Das Manuskript des anzuzeigenden ebenso kurzen wie kurzweiligen Bändchens übergab der kranke Autor seinem Verleger unmittelbar bevor er sich ins Hospital begab, um auf eine Lebertransplantation zu warten, die er nicht mehr erlebte. Reflexionen über Krankheit und Literatur stellt der enthaltene Essay Literatur + Krankheit = Krankheit an. Der Vortrag widmet sich mit schwarzem Humor dem Verhältnis von Krankheit, Reisen und Schreiben. Er verknüpft eigene Beobachtungen aus dem Krankenhaus mit pointierten Bemerkungen zu Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé und Kafka. Von dem stammt auch das (womöglich prophetisch dem eigenen Tod ins Auge sehende) Motto des Bandes: "Vielleicht werden wir also gar nicht so viel entbehren".

So ergreifend wie komisch ist sein verzweifeltes Bekenntnis: "Vögeln ist das einzige, was sich die Insassen von Gefängnissen und Krankenhäusern wünschen. Das einzige, was sich Impotente wünschen, ist vögeln. Schwerverletzte, Selbstmörder, unerlöste Heidegger-Schüler. Selbst Wittgenstein, der größte Philosoph des 20. Jahrhunderts, wollte nichts anderes als vögeln. Sogar die Toten, habe ich irgendwo gelesen, wollen einzig und allein vögeln." Diese konvulsivischen Interjektionen führen freilich zum melancholischen Nachsatz: "Diese ganze Samenexplosion, all diese Kumulus- und Zirruswolken, die unsere imaginäre Geographie bevölkern, lassen einen letzten Endes traurig zurück. Vögeln, wenn man gar nicht die Kraft dazu hat, kann schön sein, ja geradezu erhaben. Aber es kann auch zum Alptraum werden."

Der zweite literaturkritische Text dieser gemischten Sammlung, ist eine zornige und dabei doch elegante und witzige Abrechnung mit den Regeln des Literaturbetriebs. Der mache Poeten zu erfolgsgierigen Funktionären, die statt Dichtung mediengerechte, global vermarktbare Folklore produzieren. Von den fünf Erzählungen handelt die kürzeste von Jim, einem amerikanischen Vietnamveteranen, der zum todtraurigen Autor wurde. Er reist in Peru und Mexiko und lässt sich lieber ausrauben als immer noch zu kämpfen. Denn er sucht nun "das Außergewöhnliche, um es in gängige, geläufige Worte zu fassen." Der Erzähler bewahrt Jim vorm Verbrennen in den Flammen eines Feuerschluckers, verliert den Lebensmüden jedoch gleich darauf für immer.

Die Titelerzählung "Der unerträgliche Gaucho" berichtet von Manuel Pereda, einem tadellosen Rechtsanwalt und Familienvater, von dem es eingangs heißt: "Nicht glücklich zu sein, meinte er, sei schwierig in Buenos Aires, eine, wie er fand, perfekte Mischung aus Paris und Berlin, obgleich es, wenn man ganz genau hinsehe, eher eine perfekte Mischung aus Lyon und Prag sei." Während der argentinischen Wirtschaftskrise zerbröselt das Glück. Pereda zieht sich aufs Land, in die mythische Pampa zurück. Dort hüten freilich die Gauchos keine Kühe mehr. Feige gehen sie nun auch den rituellen Messerstechereien aus dem Weg. Sie ernähren sich von Kaninchen, die zu gefährlich blutrünstigen Angreifern mutiert sind. Die Begegnung des alten Mannes mit einer Psychaterin ist ebenso befremdlich wie der Besuch seines Sohnes, einem Schriftsteller, der mit anderen Autoren und seinem Verleger aufs Land kommt. Der alte Mann fährt noch einmal in seinen ehemaligen, bürgerlichen Wirkungskreis in die Stadt, zieht sich dann aber endgültig auf das wüste Land zurück. Seine irreale Existenzform als 'unerträglicher Gaucho' kann man lesen als eine Parabel auf die Entwurzelung der argentinischen Gesellschaft. Sowohl die Stadt als auch das von einer langen literarischen Tradition beschworene Landleben werden bei Bolaño in Chiffren der Enteignung surrealistisch verformt. Unklar bleibt, wer deliranter ist: der alte Mann oder die Welt.

Zwei katholische Erzählungen ist ein Text überschrieben, der von religiösen Opferfantasmen irritierend eindringlich in der Ich-Form erzählt. Gleichfalls um blutige Gewalt dreht sich die Erzählung von "José, dem Rattenpolizist". Er ist der Neffe der Sängerin Josefine. Bolaños Hommage an Kafka entfaltet in dessen nüchtern präzisen Tonfall den Kosmos eines sympathischen, in unterirdischen Gängen lebenden Volks der Ratten, das sich gegen Marder und andere Feinde verteidigen muss. José, der tapfere Polizist, wird zum einsamen Helden, der opferwillig den Gefahren und unangenehmen Wahrheiten ins Auge blickt. Gegen die Verdrängung seiner Kollegen, die das nicht wahrhaben wollen, erkennt er, dass einige tote Ratten offenbar Opfer einer Killerratte und nicht artfremder Feinde sind. Die Entdeckung, dass Ratten Ratten töten, kommt einem Sturz aus der Unschuld gleich.

"Die Reise des Alvaro Rousselot" ist eine herrliche Parodie auf die lateinamerikanisch-europäischen Literaturbeziehungen. Der erfundene argentinische Autor Rousselot sucht in Paris nach dem Filmemacher, der als Plagiator (und zugleich offenbar treuester Leser) zwei seiner Romane verfilmte. Die Lakonie, mit der Bolaño die diversen Bücher des imaginären Autors und ihr Marktschicksal erzählt, ist ebenso fesselnd wie dessen amouröse und detektivische Erlebnisse in der französischen Kapitale. Wie die Begegnung des vom braven Ehemann in Paris zum Latin Lover mutierenden Autors mit seinem ge(hass)liebten Plagiator ausfällt, sei hier nicht verraten.

Verraten sei hingegen, dass das kleine Buch einen rundum empfehlenswerten Einstieg ins Œuvre Bolaños bietet, dessen Ruhm seit seinem Tod 2003 noch stetig zu steigen scheint. Diese Geschichten sind hinreißend plastisch fantasiert und in einer edel geschliffenen Prosa formuliert. Der Kunstmann Verlag hat sie in eine wohlklingende Übersetzung und einen hübsch anzuschauenden Umschlag gekleidet - auf dem freilich ein in seiner Ironie leicht missverständliches Zitat aus Bolaños Philippika gegen den Literaturbetrieb prangt. Statt der Pampa des titelgebenden Gauchos erstreckt sich der Raum dieser Literatur rund um die Welt und erschließt eindringlich imaginierte Parallelwelten. Die Unerträglichkeit die im Titel anklingt, verweist wohl auch auf Milan Kunderas Meisterwerk. Mit ihm teilt der chilenisch-spanische Autor die Melancholie als Nebenwirkung der Erotik wie der Politik. Und, zum Glück des Lesers: die Eleganz der Form.


Titelbild

Roberto Bolaño: Der unerträgliche Gaucho.
Übersetzt aus dem Spanischen von Hanna Grzimek und Peter Kultzen.
Verlag Antje Kunstmann, München 2006.
192 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3888974461

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