Wechselbad der Gefühle

Edgar Hilsenraths "Berlin … Endstation" führt den Leser zurück zu Hilsenraths Kaddisch für die Armenier, seinem "Märchen vom letzten Gedanken"

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Zu viele Menschen in muffigen Räumen bedrücken mich. Ich bin von Natur aus ein Einzelgänger und singe nicht gern im Chor", notiert Lesche, der Erzähler in Edgar Hilsenraths Spätwerk "Berlin ... Endstation". Lesche schreibt das in seinem Beitrag für eine Anthologie mit dem vielsagenden Titel "Woran ich glaube".

Nach Jahrzehnten im US-Exil ins Land seiner ehemaligen Verfolger und noch dazu in die deutsche Hauptstadt zurückgekehrt, glaubt der Holocaust-Überlebende höchstens noch an sich selbst: "Als Schriftsteller mache ich überhaupt keine Kompromisse, und ich habe auch in keinem meiner Bücher irgendwelche Zugeständnisse an Dritte gemacht, weder aus finanziellen, ideologischen noch politischen Gründen."

"Armes Deutschland", sagt Lesche an anderer Stelle, "Du hast viel verdrängt und hast Probleme mit deiner Verdauung. Man ist besorgt und fürchtet deine Blähungen. Kein Wunder. Aus deiner Verstopfung krabbelt schon wieder der alte Ungeist, salonfähig verpackt, und wittert Morgenlicht." Das mag ulkig formuliert sein. Aber am Ende des neuen Hilsenrath-Romans steht - als grausige Erfüllung dieser Prophezeihung - der Mord, den junge Neonazis an Lesche begehen: "Schließlich haben die Enkel der alten Nazis vollbracht", bemerkt seine trauernde Ex-Geliebte auf der letzten Seite des Buchs, "was den alten Nazis nie gelungen ist."

Sehnsucht nach dem verlorenen Sprachraum

Hilsenrath ist nicht Lesche - auch wenn die genannten Schauplätze, Personen und Bücher im Roman leicht mit der Biografie des Autors in Verbindung zu bringen sind. Eine Aufzählung dieser Konvergenzen ist müßig. Nur soviel: Auch Hilsenrath entschied sich 1975, nach Deutschland zu re-immigrieren, weil er als Schriftsteller die deutsche Sprache brauchte: "Ich muß sie hören, immer und überall", sagt seine Figur. "Ich hätte schon viel früher gehen sollen. Ich vermisste die deutsche Sprache", kommentierte Edgar Hilsenrath seine Rückkehr selbst einmal.

Der Protagonist seines neuen Romans wandert in ein längst untergegangenes West-Berlin vor dem Mauerfall ein, in dem sich Literaten, Künstler und Verleger noch in 68er-Kneipen wie dem "Zwiebelfisch" am Savignyplatz treffen. Und trotzdem hat Lesche schon vorher in New York davon gelesen, "daß die Deutschen in der Hauptstadt ein Holocaust-Mahnmal errichten wollen". Sein Gesprächspartner im Emigrantencafé in der 86. Straße, Ecke Broadway, ergänzt: "Das ist ein schlechter Witz". Denn: "Wozu brauchen die Deutschen ein Mahnmal? Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal."

Hier vermischen sich die Zeiten, denn in der Gegenwart von Hilsenraths Rückkehr aus Amerika war noch lange nicht von dem 2005 in Berlin eröffneten "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" die Rede. In gewohnt lakonischer Manier, die man schon aus Romanen wie "Nacht" (1964), "Der Nazi & der Friseur" (1977) oder auch "Bronskys Geständnis" (1981, neuerdings publiziert unter dem Titel "Fuck America") kennt, erzählt uns Hilsenrath eine West-Berliner Heimatstory der besonderen Art - ein vollkommen uneindeutig datiertes Zeitbild, irgendwo zwischen den 70er-, 80er- und 90er-Jahren changierend, bis hinein ins neue Jahrtausend.

Freude an der Provokation

Auch an der für Hilsenrath typischen Prise Sexismus fehlt es dabei nicht. Lesche vögelt munter in der Gegend herum, schwängert zwischendurch eine Minderjährige, obwohl er zur gleichen Zeit eine Affäre mit der Mutter hat, peitscht in New York eine masochistische Ex-Freundin ordentlich aus, damit sie endlich einmal einen Orgasmus bekommt und verliebt sich schließlich in eine junge, schöne Armenierin. "Ein Leben lang waren Frauen nur Sexobjekte für ihn", heißt es an der Stelle beiläufig. "Anahid war die erste, für die er etwas empfand."

Bevor Lesche drei beinahe tödliche Schlaganfälle erleidet, gibt er sich erst einmal viril, bestellt Bier und Buletten und witzelt nach dem Fall der Mauer etwas altbacken über die "Ossis", die den Westen für eine "Bananenrepublik" hielten. Den unverwechselbaren Sound, in dem Hilsenrath seine Alltagsdialoge präsentiert, hat der Literaturwissenschaftler Martin A. Hainz einmal so charakterisiert: "Das Moralische dieser Ästhetik ist ihre Akribie, mit der der Autor aneckt, unschicklich ist, doch all diese pseudomoralischen Einwände auch sofort widerlegt und als ihrerseits nicht nur unbedarft, sondern auch ethisch degoutant demaskiert."

Der neue, laut editorischer Notiz zwischen 2001 und 2002 geschriebene und 2006 mit Hilfe des Lektorats für die Endfassung überarbeitete Roman führt dieses Programm fort. Zunächst präsentiert er sich dem Leser als eine Aneinanderreihung burlesker Einfälle und knapper, launiger Dialoge. Sie kommen dem Leser allerdings vor wie gute alte Bekannte: Vieles von dem, was Hilsenrath hier kompiliert hat, ist uns nämlich so oder so ähnlich auch schon aus den früheren Büchern, vor allem aber "Zibulsky oder Antenne im Bauch" (1983) bestens vertraut.

Doch auch der literaturkritische Vorwurf, der sich daran knüpfen ließe, wird bereits im ersten Drittel des Buchs vorweggenommen und reflektiert: "Lesche hatte über seine Texte nachgedacht. Du hast sie Anfang der achtziger Jahre geschrieben, sagte er zu sich selbst. Vieles ist nicht mehr aktuell. Vor allem die reinen Dialogtexte werden auf wenig Verständnis bei den Kritikern stoßen." Und er fügt spottend hinzu: "Kurze Dialoge, das ist amerikanische Literatur. Deutsche können damit wenig anfangen."

Zwischen Lust und Qual: Ästhetische Transformationen des Traumas

Was uns Hilsenrath in seinem Roman präsentiert, ist aber dann doch mehr als eine bloße Neuanordnung altbekannter Einfälle. "Die Medien versuchen sich gegenseitig zu übertrumpfen mit endlosen Berichten über den Naziterror und den Massenmord", beobachtet etwa Lesche ein Phänomen, das zweifelsohne in unsere Tage gehört. "Es ist so, als wollten die Deutschen durch diese Erinnerungen und Bekenntnisse die Schuldlosigkeit ihrer Generation unter Beweis stellen", meint er. Und als er seiner Armenierin im Flugzeug nach San Francisco die eigene Überlebensgeschichte erzählt, bemerkt er selbst fast schon launig: "Ich könnte noch stundenlang vom Holocaust erzählen", um sich dann aber lieber doch kurz zu fassen: "Wir überlebten diese höllische Zeit." Mit großem Understatement erinnert der Autor des realistischen Ghetto-Romans "Nacht" hier daran, dass es darauf ankommt, wer von der Shoah erzählt und wie - und nicht auf die auftrumpfende Quantität emsig wiederholter Fakten.

Viele (autobiografische) Elemente früherer Bücher findet man in Hilsenraths Spätwerk außerdem noch einmal ganz neu gewendet. Der Text erscheint als kaleidoskopisch arrangiertes Spiegelkabinett, in dem allerlei Episoden früherer Bücher als teils verzerrte, teils schärfer gestellte Bilder wiederkehren. In einer Rückblende, in der sich Lesche an seine Flucht durch die von der SS durchkämmten Wälder Polens erinnert, wird der Junge von einer alten Bäuerin sexuell missbraucht - eine verstörende Szene, die unter anderem wie eine Verkehrung der Episode in "Der Nazi & der Friseur" wirkt, wo dem NS-Massenmörder Max Schulz bei der "Hexe" Veronja Ähnliches wiederfährt.

Helmut Brauns durch Hilsenrath autorisierter Biografie "Ich bin nicht Ranek. Annäherung an Edgar Hilsenrath" (2006) entnehmen wir nun, dass der 16-jährige Edgar auf der Flucht vor seinen rumänischen Häschern, die ihn im Rahmen einer Ghetto-Razzia aufgegriffen und mit einigen hundert Männern und Frauen in Richtung Osten verschleppt hatten, wie durch ein Wunder entkam und überlebte, weil ihn eine junge Frau aufnahm: "Sie versteckte ihn vor den Nachbarn, verpflegte ihn und nahm ihn in ihr Bett. Nach einer Woche verließ er sie und schlug sich wieder ins Ghetto Moghilev durch", schreibt Braun. Hier scheint der Ursprung eines Traumas erkennbar zu werden, der im Werk verschiedene Stadien der Wiederholung und (literarischen) Durcharbeitung erfahren hat - wobei Braun in seinem Nachwort zu "Berlin ... Endstation" eine irritierende Vermischung von "Lust und Qual" konstatiert, die Hilsenraths ästhetische Adaptionen des Erlebnisses kennzeichnen.

Rachewünsche

Verschiedene solcher bemerkenswerter Motivwiederholungen oder auch -verschiebungen kann der Leser nun bis in Hilsenraths letzten Roman hinein nachvollziehen: Als Lesche für einen Zeitungsartikel über Berliner Obdachlose recherchiert, erlebt er Szenen, die wie deja vus aus dem Ghetto-Roman "Nacht" lesbar sind. Und seine Erinnerung an die Verprügelungen und Misshandlungen durch Mitschüler, die er ähnlich wie Hilsenrath an der Schule in Halle an der Saale erlitt, führt schließlich zu einer viermaligen Evokation einer Racheszene, die dieses Modell fiktiver Mehrfachbelichtungen einer Lebensgeschichte ins Hypothetische weiterführt: Lesche malt sich zunächst dreimal aus, wir er seinen ehemaligen Mitschüler Fritz Tischler aufsucht und kaltblütig ersticht, um ihm heimzuzahlen, wie er ihn damals als "Saujud" und "Itzig" beschimpfte und täglich quälte, ohne dass die nationalsozialistischen Lehrer einschritten.

Die Geschichte ist zudem nicht nur autobiografisch bedeutsam, sondern verweist vor allem auf jenen Roman, der Hilsenraths initiierendes Leseerlebnis auf dem Weg zum eigenen Schreiben war: Erich Maria Remarques Roman "Arc de Triomphe" (1945). Braun berichtet in seiner Biografie von dem großen Eindruck, den das Werk auf den jungen Hilsenrath machte, der verzweifelt nach einer geeigneten literarischen Form suchte, in der er seine Ghetto-Erlebnisse verarbeiten konnte. So soll selbst der Name des Protagonisten in Hilsenraths "Nacht", Ranek, nur eine leichte Verfremdung von Remarques Helden in "Arc de Triomphe", Dr. Ravic, sein. Hinzu kommt nun jedoch noch eine weitere intertextuelle Anleihe: die auffällige Übereinstimmung nämlich, die Hilsenraths neuer Roman in seinen Racheepisoden zum Buch Remarques aufweist. Auch Remarques Dr. Ravic trifft einen ehemaligen Gestapotäter in einem Pariser Café wieder und bringt ihn tatsächlich um, um Rache zu üben - ganz wie Hilsenraths Lesche in einer der ausfantasierten Fritz-Tischler-Episoden. "Lesche las noch einmal den Roman Arc de Triomphe von Remarque", lautet denn auch die deutliche intertextuelle Markierung an dieser Stelle im Text, die der Rachevision vorausgeht: "Er wollte sich den Mord im Bois de Boulogne tief einprägen."

In der vierten Variation dieser Revancheepisode aber - und damit schreibt Hilsenrath die Literaturgeschichte augenzwinkernd fort - sucht Lesche den ehemaligen Nazischüler und nunmehr braven Friseur (sic!) Tischler tatsächlich auf, hat am Ende aber gar keine Lust mehr, ihn umzubringen. Sein ehemaliger Peiniger zeigt nämlich Reue: "Ich fasse mich an den Kopf", beteuert er, "wenn ich daran denke, wie blind ich damals war. Die Nazis waren Verbrecher, und ich habe viel wiedergutzumachen". "Warst Du bei der SS?" fragt ihn Lesche. "Ich war viel zu jung, um irgendwo mitgemacht zu haben", antwortet Tischler. "Als der Krieg aus war, war ich sechzehn. War zuletzt noch Flakhelfer." Und am Ende fügt er hinzu: "Ich bin heute Mitglied der SPD und unterstütze Amnesty International."

Das Modell Günter Grass lässt auch schön grüßen: Hilsenrath zieht mit solchen Szenen die so genannte "Flakhelfergeneration" von Martin Walser bis Joachim C. Fest, die in den letzten Jahren immer wieder von sich Reden machte, spitzbübisch durch den Kakao. Gleichzeitig nimmt sein Roman die mörderischen Taten der rechtsextremen Täter-Enkelgeneration, die heute vor allem ostdeutsche Straßen unsicher macht, schärfer in den Blick, als es auch nur irgendein umjubelter deutscher Autor der jüngeren Altersklasse oder älterer Schriftsteller-Generationen seit 1990 getan hat. "Berlin ... Endstation" ist zwar ein unscheinbares Buch - aber auch ein satirisches Testament voller Tiefschläge gegen das 'unverkrampfte' neue Nationalgefühl der Deutschen.

Empathie und Identifikation

Gleichzeitig ist Hilsenraths Spätwerk voller Rückblicke auf die Entstehung seines großen Werks über den Genozid an den Armeniern, "Das Märchen vom letzten Gedanken" (1988), für das ihm 1989 der Alfred-Döblin-Preis verliehen wurde. Wiederholt spricht Lesche von Franz Werfels großem Vorbildroman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" (1933) und seinen eigenen Recherchen zur "Schilderung des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts". "Der Holocaust und die Vernichtung der europäischen Juden galt als einmalig in der Geschichte", heißt es in "Berlin ... Endstation". "Aber war er es wirklich? War die Ermordung der Armenier nicht auch ein Holocaust, zwar zahlenmäßig der kleinere, aber doch?"

Nimmt man diese Hinweise zum Anlass, sich Hilsenraths "poetischstes Buch", wie er "Das Märchen vom letzten Gedanken" selbst in Gesprächen immer wieder gerne nennt, in der Werkausgabe des Dittrich Verlags zu lesen, so findet man die erstaunlich dezidierte Antwort auf diese rhetorische Frage - eine Feststellung, die historisch Widerspruch provozieren muss: Der geisterhafte Erzähler "Meddah", dessen Dialog mit dem letzten Gedanken des sterbenden Armeniers Thovma Khatisian den Roman im Stile eines orientalischen Märchens ausmacht, nennt das große türkische Massaker von 1915, bei dem ca. 1, 5 bis 2 Millionen Armenier ermordet wurden, kurzerhand einen "Holocaust". "Holocaust?", fragt der letzte Gedanke noch einmal unsicher nach. "Holocaust", bekräftigt der "Meddah".

Helmut Braun berichtet im Nachwort, Hilsenrath sei während der Verfassung des Buchs, für das er in Armenien, der Berliner Staatsbibliothek und San Franciso recherchierte und Material sammelte, phasenweise kaum ansprechbar gewesen. Es habe den Anschein gehabt, "als lebe er mit seinen Figuren in Armenien, erlebe ihr Leid als Wiederholung seines Leidens". 18 Jahre vergingen seit der ersten, noch in den USA durchgespielten Entwurfs-Idee für das Werk im Jahre 1970, bis es 1988 fertig wurde und im Piper Verlag erscheinen konnte. Hilsenrath erreichte damit den späten Zenit seiner öffentlichen Anerkennung als Schriftsteller in Deutschland: Die Kritik wunderte sich über die Wandlungsfähigkeit dieses Autors, der sich der Geschichte des Holocausts mal mit hartem Realismus ("Nacht"), mal mit schonungsloser und rabenschwarzer Satire ("Der Nazi & der Friseur") und nun, voller Empathie und Interesse für die Geschichte der Armenier, im Stil eines Märchens näherte.

Bemerkenswert ist jedoch auch die Detailtreue, die Hilsenrath in diesem historischen Roman anstrebte. Trotz der dialogischen Verfremdung und erzähltechnischen Entrückung des Plots im Stil nacherzählter Legenden liest man ein Buch, das in seiner panoramatischen Breite seinesgleichen sucht: Biblische Anleihen, armenische Sagen, das orientalische Dorfleben im 19. Jahrhundert, typische Sitten und Gebräuche, Riten, die Unterdrückung der Frauen, Sexualität, Aberglauben, haus- und landwirtschaftliche Details, die Entwicklungs des Handwerks und die soziale Struktur des türkischen Staats in ihrer Entwicklung über Jahrzehnte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Zeitpunkt des Völkermords - all dies und vieles mehr verquirlt Hilsenrath zu einer Schilderung prallen kulturellen Lebens, das seiner grausamen Vernichtung entgegensieht.

Die zeitweise Schein-Idylle innerhalb eines autoritär regierten Vielvölkerstaats, die Konflikte zwischen Türken, Kurden und Armeniern, bei denen Letztere stets von allen Seiten diskriminiert werden, steuert auf die Auslöschung einer christlichen Minderheit zu. Womit auch klarer und zugleich verwunderlicher wird, dass das "Märchen vom letzten Gedanken" wie eine Vorstudie zum erzähltechnisch ähnlich strukturierten Bukowina-Roman "Jossel Wassermanns Heimkehr" (1993) wirkt: Dort ist es das jüdische Refugium im ehemaligen k.u.k.-Gebiet, eine reiche, schöne Welt voller kultureller und menschlicher Schätze, die der totalen Vernichtung durch die Deutschen und ihre rumänischen Handlanger zum Opfer fällt.

Auch im "Märchen vom letzten Gedanken" führt die Erzählung am Schluss zu den Krematorien von Auschwitz, wo Hilsenrath seine Figur Thovma Khatisian in einer erzählerischen Todesvariation zusammen mit deportierten Juden sterben lässt: So verbinden sich Genozide, die zu verschiedenen Zeiten, an anderen Orten und an unterschiedlichen religiösen Minderheiten begangen wurden, literarisch zu einem gemeinsam erlittenen Schicksal.

Dass der Protagonist und Vater Thovmas, Wartan Kathisian, nach einem zehnjährigen sicheren Exil in den USA zurück in die Türkei kommt, um dort zu heiraten und sich zurück in die 'Höhle des Löwen' der Türken zu begeben, mag man auch als autobiografische Anspielung Hilsenraths lesen: Alles in allem ist hier also eine bemerkenswerte Opfer-Identifikation zu beobachten, die unter anderem auch in der am Ende tödlich endenden Re-Immigration Lesches in "Berlin ...Endstation" eine motivische Parallele findet. In seiner Liebe zu dem armenischen Mädchen, von der wir in Hilsenraths neuestem Roman lesen, findet diese literarische Identifikation vielleicht sogar ihren pointierteste Verklärung - oder auch symbolische Übersetzung. Zumal diese weibliche Wunschfigur wohl nicht ganz zufällig genauso heißt wie die Frau Wartan Khatisians im "Märchen vom letzten Gedanken": Anahid. Es ist, als habe Hilsenrath so etwas wie Trost gefunden in der literarischen Ausformung einer tiefen Empathie für Menschen, deren Ermordung von der Welt vergessen worden ist, die Ähnliches mitmachten wie er und seine jüdischen Leidensgenossen.

Vielleicht ist dieser Werkkomplex bei Hilsenrath daher auch als eine Suche nach Vereinigung lesbar, nach stillschweigendem Verständnis und Liebe unter denjenigen, die (mit-)erlebten, was literarisch letztgültig nicht mehr darstellbar ist - eventuell sogar auch der Versuch des Traumatisierten, das möglicherweise als Schuld empfundene 'Glück' des eigenen Überlebens indirekt wieder gut zu machen, in dem er den Toten eine Stimme und eine Form bleibender Erinnerung wiedergibt. Anahid in "Berlin ... Endstation" fungiert aus diesem Blickwinkel zudem als fiktive Kontaktperson zu der glücklicheren, unbeschwerteren Welt der Opferenkel, mit der Lesche zum ersten mal so etwas wie Liebe erlebt.

Evokation schockierender historischer Tatsachen

Hilsenrath entwickelt in seinem über 600-seitigen "Märchen vom letzten Gedanken", für das er 2006 vom Präsident der Republik Armeniens ausgezeichnet und mit der Ehrendoktorwürde der Universität Erewan belohnt wurde, darüber hinaus eine ganz erstaunliche, faktengrundierte Fantasie.

Dabei frappiert vor allem die unumwundene Gleichsetzung des armenischen Schicksals mit dem vom Autor selbst miterlebten der europäischen Juden - ist sie doch nicht nur bei revisionistischen Historikern, die neuerdings Vertreibungen unterschiedlichster Völker inklusive der nationalsozialistischen Täter im Sinne einer Depotenzierung deutscher Schuld auf eine Stufe zu stellen bestrebt sind, problematisch.

In Hilsenraths Roman ist auf Seiten türkischer Verschwörungstheoretiker die Rede von der "endgültigen Lösung" der 'Armenierfrage' und dem an Leni Riefenstahls Olympiafilm gemahnenden "Triumph des Willens" der Türken, die sich diese monströse Aufgabe stellen. Die Armenier werden von ihren Feinden als "Ratten" imaginiert, und die Jungtürken nehmen sich in ihrer wahngesteuerten Rassenideologie die Europäer und besonders die Deutschen zum Vorbild.

Deren militärische und nachrichtendienstliche Beiträge zum Genozid an den Armeniern sind zwar historisch verbürgt, doch Hilsenrath spitzt die Holocaust-Parallelen immer weiter zu, überblendet jüdische Shoah-Erinnerungen beinahe rückhaltlos mit dem Schicksal des christlichen Volks der Armenier. Das geht sogar so weit, dass der Autor Adolf Hitlers berüchtigte Reichstagsrede vom 30. Januar 1939, in der der nationalsozialistische Diktator im Fall eines Kriegs die "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" prophezeihte, wortwörtlich einer seiner türkischen Figuren in den Mund legt: "Sollte es dem internationalen Armeniertum gelingen, eines Tages die ganze Welt gegen uns aufzuhetzen, dann wird das die Vernichtung dieser Rasse bedeuten."

Mag diese erzählerische Gleichsetzung in Hilsenraths Buch auch in vielerei Hinsicht kritisierbar sein, so war es doch Hitler, der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs seine Offiziere auf den Vernichtungsfeldzug gegen Polen mit den beschwichtigenden Worten anfeuerte: "Wer redet heute schon noch von der Vernichtung der Armenier". Dass man davon nicht mehr redete, dafür hatte man in Deutschland übrigens unter anderem schon im Februar 1934 dadurch gesorgt, dass man Franz Werfels großen Roman über den Genozid aufgrund § 7 der "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz des Deutschen Volkes" wegen "Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung" verboten und den jüdischen Autor bereits im Entstehungsjahr des Romans "Die vierzig Tage des Musa Dagh" aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen hatte.

Der bis heute vollkommen ungesühnte, lange international verschwiegene und von der Türkei nach wie vor offiziell geleugnete Genozid habe als "Präzendenzfall für die Shoah" gedient, schreibt auch Vahakn N. Dadrian in der Einleitung zu Wolfgang Gusts Dokumentarband "Der Völkermord an den Armeniern 1915/16", "es gibt sogar eine direkte Linie vom Völkermord an den Armeniern zur Massenvernichtung der Juden". Wolfgang Gusts Band erlaubt es mithin, Hilsenraths ganz und gar nicht märchenhaft anmutende Gräuelberichte aus der Zeit der türkischen Folterungen, Deportationen und Massenliquidierungen der Armenier auf ihre Faktentreue hin zu überprüfen.

Was beim Lesen des Romans noch stark stilisiert oder als Ausgeburt der Horrorvisionen des "Meddahs", vielleicht sogar wie unrealistische Schockeffekte erscheinen mag, entpuppt sich beim vergleichsweise Studieren der Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, die Gust, der ehemalige Auslandskorrespondet des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", herausgegeben hat, als literarischer Widerhall präziser historischer Recherchen Hilsenraths.

Die Dichter sind die Erinnerung

"Die Märchen, die ich erzähle, sind keine Märchen. Es sind wahre Geschichten", beteuert der "Meddah". Und richtig: Die von deutschen Offizieren angeregten und der deutschen Regierung gedeckten Massendeportationen und Todesmärsche, türkische Folterpraktiken wie Bastonadenschläge auf die Fußsohlen oder 'Behufungen' menschlicher Füße mit Nägeln, auf offener Straße gebärende Frauen, die vergewaltigt und mit Bajonetten aufgeschlitzt wurden - all dies liest man in Hilsenraths Roman und findet es ebenso in Gusts bestürzenden Berichten und Quellen wieder. Es hagele "Berichte der deutschen Konsulate und kaiserlichen Botschaften an das Ministerium in Berlin", heißt es bei Hilsenrath, "Berichte über die Massaker." Doch die Deutschen "wagen keine drastischen Schritte und haben beschlossen, sich nicht direkt in innertürkische Angelegenheiten einzumischen". Und in der Tat entnehmen wir auch Gusts Band die Haltung des deutschen Kaisers Wilhelm II., die da besagte: "Die Armenier gehen uns nichts an" - eine Maxime, die Bismarcks berühmter Ermahnung folgte, wonach keines der Völker des Osmanischen Reichs "die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert" sei. Gleichzeitig jedoch gaben deutsche Offiziere den Jungtürken wichtige Tipps und maßgebliche Anregungen zur Durchführung der Deportationen.

Hier findet Hilsenrath - über die dokumentarische Rekapitulation bloßer Fakten weit hinausgehend - immer wieder auch eigene literarische Bilder für die bezeichnende Komplizenschaft jenes Landes, das später selbst mit der Durchführung des größten Genozids aller Zeiten in die Geschichte eingehen sollte: Es sei ein "merkwürdiges Kulturvolk", lässt der Schriftsteller einen amerikanischen Konsul in seinem Roman sagen: "Manchmal hat es den Anschein, als hätte sich das Gewissen ihrer Dichter und Denker hinter die Monokel der Generäle geflüchtet, um irgendwann in den Stiefelschäften der Soldaten zu verschwinden. Dort wird es dann unbekümmert zertreten."

Hilsenrath integriert in seinen Text zudem verschiedenste Redeweisen, die sich seit 1915 auf den Genozid an den Armeniern bezogen haben, wie die Literaturwissenschaftlerin Bettina Hey'l herausgearbeitet hat. Demnach nimmt Hilsenrath "die verzerrende Darstellung der Machthaber, die halbherzige Objektivität des Journalismus, den Habitus der Diplomatie" und die "Sachlichkeit der Historiker" in den Fundus der Stimmen auf, die er in seinem Roman collagiert: "Diese allgegenwärtigen Formeln, die das Märchenerzählen begleiten, werden in den Händen Hilsenraths zum Instrument kritischer Überprüfung jeder Methode historischer Darstellung", ja wiesen "den Erzähler als souveränen Historiker aus".

Zumindest überflügelt Hilsenraths historischer Roman den Referenztext Franz Werfels damit weit, gerade auch in seiner dekonstruierenden Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Diskurse des Erinnerns und Verdrängens: "Im Gegensatz zu Werfels Roman kann Hilsenraths Buch kein Nationalepos der Armenier werden, als das 'Die vierzig Tage des Musa Dagh' gelten", stellt der Philologe Ulrich Dittmann fest. "Statt eines Denkmals für die Figuren, konstruiert es deren Zertrümmerung durch die Geschichte."

"Die Dichter sind unsere Erinnerung", heißt es einmal im "Märchen vom letzten Gedanken". Was genau das heißen könnte, lässt sich in Hilsenraths Büchern insgesamt immer wieder neu nachvollziehen. Sie stellen künstlerische Verpuppungen historischer Gedächtnisse dar, die hoffentlich einmal mehr Menschen erreichen werden, als jene Dokumente, die die Täter-Staaten versteckt, vergessen oder frühzeitig vernichtet haben. Hilsenraths Bücher sind Erinnerung, in einem noch längst nicht vollkommen erforschten und erlesenen Umfang - vor allem auch deshalb, weil sie dem Leid, das sich hinter bloßen Archivakten oder Karteikartennotizen verbirgt, die sonst höchstens noch Historiker zu Gesicht bekommen, nachfühlen.

Weiterführende Literatur:

Thomas Kraft (Hrsg.): Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen, München/Zürich 1996.

Helmut Braun (Hrsg.): Verliebt in die deutsche Sprache. Die Odyssee des Edgar Hilsenrath, Köln 2006.

Titelbild

Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken. Roman.
Dittrich Verlag, Köln 2005.
642 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3937717048

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes.
zu Klampen Verlag, Springe 2005.
675 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3934920594

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Edgar Hilsenrath: Berlin ... Endstation. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2006.
243 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3937717080

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Titelbild

Helmut Braun: Ich bin nicht Ranek. Annäherung an Edgar Hilsenrath.
Dittrich Verlag, Berlin 2006.
288 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3937717099

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