Blitzlichter auf ein Leben

Stefan Moses hat Fotos von Ilse Aichinger zusammengefasst

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie kann herzhaft lachen, dann wirft sie den Kopf zurück und hält die Augen geschlossen. Oder sie schmunzelt vor sich hin und hält den Zeigefinger wie ein Schulmädchen vor den Mund. Sie liest selbstvergessen, eingewühlt ins Sofa, die Beine angezogen. Im neutralen Ambiente des Caféhauses "Dehmel" sitzt sie, den linken Arm aufgestützt, mit der rechten Hand unaufhörlich schreibend, während ein verschmitztes Lächeln über ihr Gesicht huscht. Sie glaubt sich unbeobachtet auf dem einsamen Waldweg und legt übermütig einen Tanzschritt ein. Müde, abgespannt hat sie sich im Korbsessel zurückgelehnt, die Lider verhangen, den Mund bitter zusammengepresst.

So fotografiert Stefan Moses Ilse Aichinger. Seit den 1970er Jahren hat er in zusammenhanglosen Folgen ihr Leben begleitet - "fließende Fotografien" sind so entstanden, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft der Autorin miteinander verbinden. Der Fotoband enthält zudem 10 Texte aus den 6 Prosabüchern Aichingers und 15 Gedichte aus ihrem Gedichtband "Verschenkter Rat". Eingeleitet wird er durch einen nachdenklich machenden Essay "Ilse Aichinger 2006" von Michael Krüger. Ilse Aichinger bleibe die "Dichterin des Unerledigten", schreibt er. Eine Hommage für die 85jährige Schriftstellerin, "Kultautorin" hat man sie in den Geburtstagsartikeln genannt, aber dieses Modewort hätte sie sich wohl ironisch verbeten, wenn sie es gekonnt hätte.

"Dichterin des Unerledigten"? Wie in den Fotos von Stefan Moses reihen sich auch in Aichingers Geschichten Szenen oder Bilder aneinander, ohne dass eine Logik darin erkennbar wäre. Zudem steht oft der Rahmen einer Geschichte in keinem Verhältnis zu den Größenordnungen unserer Welt.

Die eigenwillige Stimme Ilse Aichingers hat immer einen tieferen Begriff von Wirklichkeit zu vermitteln gesucht. "Die größere Hoffnung" (1948), das war der Nachkriegs-Roman der poetischen Bewältigung der jüngsten Vergangenheit. Die Bedrängnis, in der sich hier die halbjüdische Heldin und ihre Freunde befinden, wird mythisiert, es kommt zu einer umfassenden Betrachtung des Seins und Werdens, die Aichingers nächstes Werk, die Erzählungen des Bandes "Der Gefesselte" (1952) ankündigt. Auch hier verzichtet die Autorin auf das Epische, entscheidet sie sich für Ausnahmesituationen. Das bekräftigt den parabelhaften Eindruck, den schon "Die größere Hoffnung" hinterließ.

In den 1960er Jahren treten dann keine Kausalzusammenhänge mehr in Erscheinung. Die Szenen in den Bänden "Nachricht vom Tag" (1954), "Wo ich wohne" (1963) und "Eliza, Eliza" (1965) heben sich ohne Symbolbezug aus der Selbstverständlichkeit des irdischen Lebens. Die in "Schlechte Wörter" (1976) erschienenen Texte bezeugen eine erneute Radikalisierung der Autorin. Der Leser muss sich mit aneinander gereihten Situationen, Gefühlen und Überlegungen begnügen. Metaphorisch werden Grenzsituationen in Bildern von Orten dargestellt, wie Inseln (Sylt in "Besuch im Pfarrhaus"), Ufern ("Nachmittag in Ostende", "Die Schwestern Jouet"), Häfen ("Die größere Hoffnung", "Gare Maritime"). Dann fallen Ort und Zeit zusammen, um eine Erscheinung der "Welt hinter der Welt" zu ermöglichen. In keinem ihrer Werke wird übrigens der Ort des Geschehens beschrieben, er wird "vergeistlicht".

Alle Bücher Aichingers haben stark autobiografische Züge, und da stellt sich wieder der Zusammenhang mit den Fotografien von Stefan Moses her. In ihrem Werk lassen sich enge Zusammenhänge mit der Biografie der Autorin nachweisen und tatsächliche Vorkommnisse sind oft Anstoß zum Schreiben. Dennoch ist sie keine biografische Schriftstellerin. Bei ihr entfalten sich die schöpferischen Möglichkeiten des Spiels, die Grenzen der Wirklichkeiten zu überschreiten. Die Verfasserin erblickt die Welt aus der Ameisen- wie der Vogelperspektive. Wie ein Gewebe durch die abwechselnde Überkreuzung seiner Längs- und Querfäden gebildet wird, so verdankt sich die Struktur etwa der "Unglaubwürdigen Geschichten" (2005) der gegenseitigen Durchkreuzung der über-, unter- und nebenordnenden Prinzipien von Steigerung und kreisender Wiederholung. Bremst die Wiederholung die Hierarchie der Steigerung, so dynamisiert die Steigerung die Monotonie der Wiederholung. Gewinnt die Wiederholung der Steigerung immer neue Bedeutungsdimensionen ab, so ermöglicht die Steigerung den Zusammenhang der einzelnen Variationen.

Hoffnung ist mit dem Motiv der Grenzsituation ein Leitgedanke in ihren Werken. Ihr Mann Günter Eich, den sie in der Gruppe 47 kennen lernte und der 1972 starb, wusste das zu theoretisieren, zu formulieren, was Aichinger intuitiv zur Sprache brachte, was sie poetisierte.

Über die üblichen Kategorien der Wirklichkeit und Fiktion setzte sich Aichinger hinweg. Für sie ist das Augenscheinliche nur eine Erscheinungsform der vielschichtigen Realität. Alles bei ihr, scheint es noch so "absurd" zu sein, ist ein Versuch, der Wirklichkeit näher zu kommen, sie heraufzubeschwören. Seit den 1960er Jahren verzichtet sie auf Umschreibungen, Vergleiche, Superlative und bevorzugt einfache, "lautlose" Wörter, die sie rehabilitiert, indem sie sie für sich allein stehen und die ganze Aussage auf sie beruhen lässt. In "Schlechte Wörter" verabschiedet sie ihre knappe, aber bedeutungsvolle Ausdrucksweise und greift verzweifelt auf das Gegenteil zurück, auf klischeehafte, verflachte Redensarten. Um dennoch eine fruchtbare Stille zu erreichen, die ihre "genauen Ahnungen" übermitteln sollen, lässt sie ihre Texte in Gedanken- und Sprachfetzen verfallen.

"Wo ich wohne" - der Erzähler findet seine Wohnung nicht mehr am üblichen Platz. Da niemandem etwas aufgefallen ist, kann er annehmen, dass es die "Verwandlung" gar nicht gibt. Da die Wohnungsverlagerung stets eine Abwärtsbewegung darstellt, ist sie vielleicht eine Chiffre für die zunehmende Introvertiertheit des Mannes, für die totale Vereinsamung.

In den Erzählungen von "Schlechte Wörter" fehlt meist die Handlung. Das Gewicht liegt auf der Reflexion und der emotionalen und intellektuellen Reaktion auf angedeutete Phänomene. Die Perspektive wird häufig gewechselt, die Geschichten schließen sich nicht, verändern sich während des Erzählens in andere Geschichten, werden austauschbar.

In alle Himmelsrichtungen, Länder und Orte können die "Unglaubwürdigen Reisen" führen. Vor die Haustür, in den nächsten Wiener Bezirk oder bis in den Kaukasus und nach Shanghai. England ist das eigentliche Sehnsuchtsziel. Hier lebt die Zwillingsschwester Helga, seit sie 1939 mit einem der letzten Kindertransporte aus Österreich ausreisen konnte. Jeweils donnerstags hat Ilse Aichinger innerhalb von drei Jahren am Kaffeetisch des k. und k. Hofzuckerbäckers Demel für die Wiener Tageszeitung "Der Standard" ein Reisefeuilleton verfasst. Reisen heißt für die Autorin im alltäglich Gewohnten zu bleiben - Reisen in die Geschichte, Begegnungen durch die Zeiten hindurch, Erinnerung also. Ihre Texte führen oft bis an den Rand des Verstummens. Die reale Basis kann mitunter nur noch indirekt erschlossen und erraten werden, auch wenn in den Geschichten wieder mehr Detail aus der Außenwelt - der eigenen Familiengeschichte, von Zeitgenossen, Vorbildern und Schreckensbildern - eingebracht wird. Sie kreisen um Erinnerungen und Begegnungen, Verfolgung, Ausreise, Flucht, Leben - Leben hier und Leben da -, Reisen - realen und imaginären, glaubwürdigen und unglaubwürdigen -, Sterben und Tod. "Der Tod ist der Tod, ein Zustand, kein Prozess wie das Sterben", betont die Schriftstellerin in einem Gespräch, das den Schlussteil des Bandes bildet. Deshalb spricht sie auch von "Sterbensarten", nicht - wie das Ingeborg Bachmann getan hat - von "Todesarten". Nicht der Tod mache ihr Angst, sondern das Sterben. Schreiben heiße deshalb für sie: Sterben lernen.

Dieses so anrührende, bezwingende Bilderbuch hilft uns, nicht nur die "Dichterin des Unerledigten" und ihre "Lebensreise" besser kennen und verstehen zu lernen, sondern auch tiefer in die Geheimnisse ihrer Prosa und Lyrik einzudringen.


Titelbild

Ilse Aichinger: Ilse Aichinger. Ein Bilderbuch von Stefan Moses.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
160 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3100005287

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