Das Patchwork-Subjekt - und wie es dazu geworden ist

Andreas Reckwitz hat ein ebenso komplexes wie grundlegendes Buch über die neuzeitliche Entwicklung des Menschen in der Gesellschaft geschrieben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Thema! Was ist der Mensch? Diese Frage treibt die Philosophie, die Religionen und zahlreiche andere Wissenschaften um. Wie hat er sich entwickelt? Welche Rolle spielen dabei die Familie, die Gesellschaft und andere soziale Gruppen? Mit Untersuchungen, die solchen und ähnlichen Fragen nachgehen, kann man Bibliotheken füllen. Nun hat ein Konstanzer Professor für Kultursoziologie nichts weniger versucht als eine bündige Antwort auf die zentralen Fragen der menschlichen Existenz, zumindest für die letzten 300 Jahre. Dass er dafür rund 700 Seiten benötigt, kann nicht verwundern, eher schon, dass er mit diesem knappen Raum auskommt.

Um es vorweg zu nehmen: Auch wenn Reckwitz nicht alle Rätsel der Menschheitsgeschichte löst, so bietet seine "Theorie der Subjektkulturen" doch zentrale Einsichten und Anregungen, gespeist aus umfangreichem Quellenmaterial und in einer einerseits sehr komplexen, andererseits aber außerordentlich präzisen Sprache, wie sie in der deutschsprachigen Forschungslandschaft eher selten ist. Reckwitz gibt selbst zu, von Michel Foucault beeinflusst worden zu sein, auch wenn er mit ihm immer wieder kritisch ins Gericht geht. Sieht man ihn (unangemessen verkürzt) als Schüler, dann hat er seinen Meister zweifellos eingeholt.

Der Dezentrierung des Subjekts in der Postmoderne stellt Reckwitz eine Theorie gegenüber, die das Subjekt zumindest in der Wissenschaft wieder ins Zentrum des Interesses rückt. Zunächst erläutert der Autor sein wissenschaftles Vorverständnis, das vor allem der Soziologie verpflichtet ist. Das Subjekt ist für ihn ein "Dispositionsbündel", das sich durch "sozial-kulturelle Praktiken" konstituiert, wobei es dem unterworfen ist und das modifizieren kann, was es in seiner Umwelt vorfindet. Es strebt nach Identität, um Teil von Gruppen zu werden, und nach Differenz, um sich als Individuum innerhalb dieser Gruppen zu behaupten. In Anlehnung an Foucault sieht Reckwitz das Subjekt als Teil verschiedenster, ineinander verschränkter Diskurse, die sich historisch entwickelt haben.

In drei Schritten erläutert Reckwitz die Entwicklung des neuzeitlichen Subjekts. Zuerst kommt die "bürgerliche Moderne" des 18. und 19. Jahrhunderts, sie wird abgelöst von der "organisierten Moderne" um 1900 und verändert sich schließlich zur "counter culture" der Postmoderne. Das vergleichsweise homogene bürgerliche Subjekt spaltet sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Avantgarde- und Angestelltensubjekt. In der Postmoderne stehen sich schließlich gegenkulturelles und konsumtorisches Subjekt gegenüber. Natürlich handelt es sich um idealtypische Kategorien - die in der jeweiligen zeitgenössischen Realität in allen denkbaren Mischungsverhältnissen vorkommen. Den Begriff der Postmoderne übernimmt Reckwitz nicht einfach, sondern er stellt klar, dass er für ihn "keinen totalen Bruch zu weitergehenden Formationen der Moderne" darstellt; "das Präfix 'post-' ist nicht im Sinne einer Nach-Moderne zu verstehen." Damit stellt sich Reckwitz - zumindest im grundsätzlichen Verständnis der Epoche - in eine Linie mit Soziologen wie Ulrich Beck und Anthony Giddens.

Soweit der allergröbste Überblick. Die Argumentation folgt der im ersten Kapitel aufgestellten These: "Die Moderne produziert keine eindeutige, homogene Subjektstruktur, sie liefert vielmehr ein Feld der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen bezüglich dessen, was das Subjekt ist und wie es sich formen kann. Kennzeichnend für die Moderne ist gerade, dass sie dem Subjekt keine definitive Form gibt, sondern diese sich als ein Kontingenzproblem, eine offene Frage auftut, auf die unterschiedliche, immer wieder neue und andere kulturelle Antworten geliefert und in die Tat umgesetzt werden."

Das Aufbrechen zunächst des religiösen, dann des wissenschaftlichen Weltbildes (auch wenn man angesichts des heutigen Wissenschaftsdiskurses manchmal den Eindruck hat, dass sich letzteres gerade erneuert) führt zu einem Verlust an Transzendenz, der das Subjekt (je nach Sichtweise) nötigt oder ihm die Freiheit gewährt, sich seine eigene Identität zu 'basteln'. Seine Umwelt macht ihm hierzu zahlreiche Angebote, aus denen es sich bedienen kann, sofern es Zugang dazu bekommt. Mit Reckwitz gesprochen: Subjekte folgen "statt einer kulturellen Logik der Einheit einer kulturellen Logik der Hybridität".

Und weiter: "'Hybridität' bezeichnet dabei die - nicht exzeptionelle, sondern verbreitete, ja regelmäßige - Kopplung und Kombination unterschiedlicher Codes verschiedener kultureller Herkunft in einer Ordnung des Subjekts." Auch die "Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität".

Das Problem der heutigen Existenz ist, dass "Subjektformen vom einzelnen Subjekt in jedem Moment seiner temporalen Existenz in seinen Akten erneut hervorgebracht werden" müssen, "was einen Moment der Unberechenbarkeit einschließt". Diese Formulierung könnte man freilich, angesichts der täglich individuell in den Medien wie von Subjekten zu verhandelnden Probleme, als vornehmes Understatement bezeichnen. Die "Kühle und Makellosigkeit der Erscheinung" ist eben nur "kalkuliert", sie ist Ergebnis des Versuchs, Heterogenes zu einer Einheit zu verschmelzen, und sei es auch nur im Auftreten. Darin gleicht sich das Subjekt seiner Umwelt an, denn: "Die Wirklichkeit erscheint als visuelle Oberfläche strukturiert."

Reckwitz macht "drei primäre Subjektivationsorte" aus: "Arbeit, Intimität, Technologien des Selbst", wobei die vom Subjekt entwickelten Strategien der Bereiche miteinander verknüpft sind, man denke an das Verhältnis von Kleidung und Beruf, die aufeinander verweisen. Die Medien liefern heute die "technischen Voraussetzungen", damit "das moderne Subjekt ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst herstellt". Aufgewertet worden sind vor allem die "Technologien des Selbst"; das Subjekt definiert sich mehr als zuvor über Aussehen, Freizeitgestaltung und andere selbstbezügliche Aktivitäten. "Der Körper erscheint in der postmodernen Körperkultur nicht als ein objektives Faktum, sondern als ein Gegenstand kultureller Modellierung."

Die Medien liefern hierfür Entwürfe, ebenso reagieren sie auf die entsprechenden Strategien der Subjekte. Sie dienen der "Kontingenzbewältigung". Angesichts der Vielfalt der Möglichkeiten kommt es zu "Friktionen" zwischen Subjekten wie innerhalb des Subjekts, das danach trachtet, seine hybride Existenz mit einigermaßen kohärentem Sinn aufzuladen. Diese Vielfalt der Möglichkeiten beschreibt Reckwitz aus unterschiedlichen Perspektiven, vor allem aber als "Geflecht der Intertextualität". Das (post)moderne Subjekt bedient sich bei früheren kulturellen Codes, um seinen eigenen, mit seiner Umwelt mehr oder weniger kongruenten Existenz-Code zu bilden. Solche Wahlmöglichkeiten werden besonders im Feld der Kunst sichtbar: "In der postmodernen Kunst kann alles zum Gegenstand ästhetischen Vergnügens werden - das Erleben hängt in keiner Weise vom Gegenstand, sondern von der sensibilisierten Wahrnehmung des Rezipienten ab."

Reckwitz geht bis ins 18. Jahrhundert zurück, um die Muster kultureller Codes zu identifizieren, die zur Verfügung stehen. Er beschreibt die Formierung eines bürgerlichen Subjektcodes in Abgrenzung vom Adel, der allerdings die gleichzeitige Orientierung am Adel einschließt. Identität entsteht eben nicht nur durch Differenz, sondern durch eine Wechselwirkung von Identität und Differenz, die in der Summe etwas Neues hervorbringt. Nur so lässt sich "Autonomie und Selbsterhaltung" produzieren. In der Romantik sieht Reckwitz die Begründung des modernen Subjekts, weil hier "eine subjektive Authentizität" entsteht. Auch dieser Entwicklung liegt ein Wechselspiel von Identität und Differenz zugrunde: Die Romantiker wenden "eine bürgerliche Abgrenzungsform auf deren Urheber an". Individuelle Strategien der Glücksfindung nehmen hier ihren Anfang und werden bis zur Postmoderne radikalisiert.

Nur gegen wenige Passagen dieses großartigen Buches lässt sich Einspruch einlegen; dies betrifft etwa jene Stelle, an der Reckwitz zu E.T.A. Hoffmanns Novelle "Der Sandmann" feststellt, es werde gezeigt, "dass es auf die 'tatsächlichen' Eigenschaften der Geliebten gar nicht ankommt, sondern allein auf die subjektive Vorstellung, in der sie durch das Ego imaginiert wird". Dabei entgeht Reckwitz, dass die Novelle ein solches Verhalten gerade kritisch reflektiert. Mit dem Verlust der Außenwahrnehmung ist das Scheitern der Hauptfigur vorprogrammiert, Nathanaels Identitätsfindung endet mit dem Sturz von einem Turm.

Wolfgang Welsch hat in seinem bekannten Buch über "unsere postmoderne Moderne" den Gegensatz oder das Paradoxon der heutigen Subjekt-Existenz auf das Begriffspaar Pluralismus und Pluralität gebracht. Pluralismus wäre das willkürliche Nebeneinander, dem das Subjekt ausgesetzt ist; Pluralität bezeichnet die Möglichkeiten des Subjekts, seine eigene Identität frei von früheren Zwängen auszubilden. Andreas Reckwitz enthält sich solcher Bewertungen, er bleibt streng auf der Meta-Ebene der Wissenschaft, für die moralische Kategorien nicht viel mehr als kulturelle Zuschreibungen sind. Den Schritt von der Diagnose zur Anwendung muss die Leserin oder der Leser tun. Insofern hat Reckwitz nicht nur ein Buch über, sondern auch eines für das postmoderne Subjekt geschrieben. Es bleibt zu wünschen, dass möglichst viele Arbeiten die vorgelegte Theorie weiter ausdifferenzieren und sich dabei auch ein Diskurs über die Konsequenzen entwickelt, wie das Subjekt mit seiner neugewonnenen Freiheit umgehen kann, ohne gleich wieder in partikulare, punktuelle oder größer dimensionierte Abhängigkeiten zu verfallen. So lässt sich folgende Feststellung von Reckwitz kaum ohne Gänsehaut lesen: "Innerhalb des postmodernen Praxis-/Diskurskomplexes der Arbeit, der Intimbeziehungen und der Selbstpraktiken wird das konsumtorische Kreativsubjekt als 'universal' deklariert."

Dem Erbe der Aufklärung wird auch die Wissenschaft nicht entkommen können, wie sich dies an Teildiskursen ablesen lässt, etwa (darauf geht Reckwitz näher ein) an der Kopplung der "Subjekthaftigkeit an Arbeitsleistung" und an der Kinderlosigkeit des modernen Ehesubjekts, aber auch an kontroversen öffentlichen Diskursen, wie sie die Armut immer größerer Bevölkerungsschichten oder den Klimawandel betreffen.


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Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2006.
704 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3938808071

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