Der Mensch und die Texte

Paul Auster ärgert das kritische Gewerbe

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch", heißt es in Adornos "Minima Moralia". Der Schriftsteller (im Sartre'schen Sinne seinem Wesen nach ein Intellektueller, dem es um die Mitteilung des Nicht-Mitteilbaren "unter Ausnutzung des Anteils an Desinformation, den die Gemeinsprache enthält", geht) kann es kaum jemandem Recht machen - weder dem lesenden Publikum noch den Kritikern.

Gelang einem Autor einst der Große Wurf, wird er forthin immer daran gemessen und soll mit den Folgeprodukten dem Erfolgsrezept gerecht werden. Woody Allen etwa ist noch immer der "Stadtneurotiker", über den Kritiker und Publikum gleichermaßen herfallen, wenn er den Erwartungen nicht entspricht. Paul Auster reüssierte nach Jahren einer literarischen Schattenexistenz vor fast zwanzig Jahren mit der "New York Trilogy" und gilt seither als postmoderner Trickster. Als er sich mit seinem letzten Buch, "The Brooklyn Follies", auf das Gebiet des eher konventionellen Geschichtenerzählens ohne postmoderne Taschenspielertricks begab, zeigte sich eine Phalanx professioneller Literaturkritiker ob des "flachen Realismus" enttäuscht. Mit seinem neuen Buch "Travels in the Scriptorium" kehrt Auster auf das mysteriöse, textuell ineinander verschränkte Terrain früherer Jahre zurück, und auch diesmal fühlt sich das kritische Gewerbe literarisch nicht befriedigt.

In Austers Kurzroman, der dem Andenken seines im Jahre 2004 gestorbenen Schwiegervaters Lloyd Hustvedt, eines in akademischen Kreisen bekannten Professors für Skandinavistik, gewidmet ist, sieht sich ein alter Mann - der Einfachheit halber "Mr. Blank" genannt - in einen Raum ohne eine Möglichkeit des Entkommens gesperrt und ist sich im Unklaren, wie er dort hingeraten sein könnte. Das Zimmer ähnelt einem Gefängnis mit Alltagsgegenständen, die zur Identifizierung Etiketten ihrer Objektbeschreibung tragen, während "Mr. Blank" mit den Verfallserscheinungen und temporären Aufwallungen seiner hinfälligen Existenz wie mit dem Eingesperrtsein kämpft. Im Prozess des kulturellen und sozialen Alterns wird der Mensch - wie Jean Améry bemerkte - "zum Weltfremdling und Kauz", der aus seiner Zeit heraus tritt, aber plötzlich mit Anschuldigungen (die von der Verleumdung bis zum Mord reichen) sich konfrontiert sieht, die er nicht versteht, die jedoch offenbar ihre Ursache in seinem Verhalten in seiner zurückliegenden Existenz haben. Auf dem Schreibtisch findet Austers Protagonist ein fragmentarisches Manuskript eines gewissen John Trause [sic], in dem der Protagonist, Sigmund Graf, als Spielfigur im Machtspiel eines imaginären Konföderationsstaates fungiert, der sich in den "fremden Territorien" als Erfüllungsgehilfe wider Willen missbrauchen lässt, erfolgreich seine "Mission" beendet und sich den finalen Rettungsschuss gibt, nachdem er die Ränkespiele und seine naive Willfährigkeit durchschaut hat.

In einer klassischen Auster-Situation ist der Protagonist einer Vielzahl disparater wie ambiger Texte, deren Ursprung einerseits in der politischen und sozialen Realität des aktuellen Amerikas und andererseits im literarischen Kanon Austers liegt. Natürlich sind die Anspielungen auf Samuel Beckett (als dessen Herausgeber Auster bei den "Grove Centenary Editions of Samuel Beckett" fungiert) und Franz Kafka augenfällig, doch ist "Mr. Blank" nicht lediglich ein postmoderner Wiedergänger des Namenlosen oder der Figur K.

Auch wenn manches an die Konstellation in "Schlagschatten" (dem zweiten Teil der "New York Trilogy") mit seinen auf denomalisierten Figuren ("Blue", "White", "Brown" & "Black") erinnert, ist Mr. Blank keineswegs eine leere Chiffre. Wie in "The Brooklyn Follies" beschäftigt sich Auster mit dem physischen und psychischen Verfall im Laufe des fortgeschrittenen Alters. Mit der Figur des Mr. Blank reflektiert Auster selbst sein Älterwerden als Schriftsteller, der vom Markt als Vermittler zwischen Avantgarde und Entertainment in Beschlag genommen wurde und den Betrieb mit Produkten belieferte, die nun in der Bestandsaufnahme oder im existenziellen Kassensturz auf den Urheber zuweilen brachial einwirken. Die Figuren aus früheren Romanen suchen den von "John Trause" mit seinem Text malträtierten "Mr. Blank" heim: Der Polizist James P. Flood, die Krankenschwester Anna Blume und Samuel Farr kommen aus dem Roman "Im Land der letzten Dinge", Peter Stillman und Daniel Quinn (der Ankläger) tauchen erstmals in "Stadt aus Glas" auf; Marco Fogg und David Zimmer gehören zum Ensemble von "Mond über Manhattan" und aus dem "Buch der Illusionen"; und schließlich wabert der Auster'sche Grundtypus des Menschen aus Texten, Fanshawe (der seinen Ursprung in Nathanael Hawthornes gleichnamigem Roman hat), aus dem literarischen Urgrund und steht in fataler Beziehung zur Figur des Benjamin Sachs in "Leviathan".

Eine misslaunige Literaturkritik nimmt Auster freilich die Indienstnahme alter Protagonisten übel. Für den Kritiker des "Guardian" ist Austers neues Buch nach dem ökonomisch erfolgreichen Roman "The Brooklyn Follies" aus dem letzten Jahr lediglich ein Rückschritt in obskure Territorien, während sein Kollege von der "Financial Times" das Buch eher als Bonbon für die Auster-Aficianodos sieht, die sich beim Lesen der eigenen Cleverness vergewissern können. Enttäuscht sind auch die Amateurkritiker aus dem Amazon-Universum. So kann sich beispielsweise ein Amazonaut nicht des Eindrucks erwehren, "dass hier nur altbekannte Elemente recycelt werden, um auf die Schnelle ein paar Extradollar zu verdienen."

Hierbei schwingt aber lediglich ein altes Ressentiment gegen die vorgeblich mangelnde Originalität der modernen Literatur mit, deren Verwebung mit der kapitalistischen Warengesellschaft ihr angelastet wird. Bereits den Dadaisten warfen ihre kritischen Zeitgenossen vor, sich an der Kunst zu vergehen, und später wurde William S. Burroughs, der in seinem voluminösen "work in progress" eigenen Stoff mit diversen anderen literarischen Materialien vermengte, regelmäßig des Plagiierens geziehen. Der Amateurkritiker kann nicht verstehen, dass ein Autor wie Auster nicht vom Schreiben lassen kann, jedoch kein der Welt entrückter und über den Dingen stehender Literat ist, wie ihn Honoré de Balzac mit der Figur des Daniel d'Arthez in den "Verlorenen Illusionen" entgegen den gesellschaftlichen und ökonomischen Realitäten imaginierte.

Die Frage bleibt, inwieweit der Autor - mittlerweile selbst zum Produkt im literarischen Warenumschlagplatz der Spät- oder Postmoderne geworden - sich der "Korrisionskraft der Ware" (Lothar Baier) entziehen kann. Noch mehr aber bleibt zweifelhaft, wo eine Kritik der Literaturkritik überdauern kann, die über das bloße Konsumentenbewusstsein der herrschenden Charaktermasken des Literaturbetriebes hinausreicht, während feiste Vertreter des Gewerbes über die medialen und ökonomischen Umschagplätze des Betriebes ziehen und mit ihrer allenthalben beschworenen "Service-Mentalität" hausieren gehen, um noch die Reste einer halbwegs integeren Literaturkritik zu verhökern. Daher sind Ärgernisse, wie sie Auster dann und wann anbietet, überaus notwendig. Sie sind ein Affront gegen die geschwätzige Mitteilbarkeit, wie sie aus den Feuilletons und Literatursendungen plärrt.


Titelbild

Paul Auster: Travels in the scriptorium.
Faber and Faber, London 2006.
130 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 0571232558

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