Gegen die Zeit und aus der Form

Zu Swen Friedels Gedichtband "Draußen ist die Sonne"

Von Ole PetrasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ole Petras

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1977 in Leipzig geborene Dichter Swen Friedel legt mit "Draußen ist die Sonne" seinen ersten Gedichtband vor und macht sogleich deutlich, dass a) Klappentexten nicht zu trauen ist, b) die Zeit nicht immer gegen uns arbeitet und c) dieses Land viel mehr Lyrik-Editionen braucht. Swen Friedel hat Glück, sein Debüt erscheint in einer der seltenen Lyrik-Reihen, namentlich in der von Heinz Ludwig Arnold begründeten und derzeit von Norbert Hummelt herausgegebenen "Lyrikedition 2000". Harald Hartungs hinreißender "Traum im Deutschen Museum" ist hier neu aufgelegt worden, desgleichen Helmut Heißenbüttels Nachkriegsmontagen "Kombinationen" und "Topographien". Neben Walter Höllerer und Günter Kunert steht die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek im Programm der Edition. Neuere DichterInnen, etwa Ulrike Draesner und Björn Kuhligk, führen den Leser in die Gegenwart. Eine derart verdiente Gesellschaft verpflichtet, und es ist nicht hoch genug zu bewerten, dass weiterhin jungen Autoren die Möglichkeit eines Anfangens geboten wird. Entsprechend kritisch muss jedoch die Annotation gelesen werden, bei Swen Friedels "eigensinnig ernsthaften Gedichten" handele es sich um eine "Entdeckung".

Formal überzeugt der Autor vor allem dadurch, dass er vieles auslässt, was die Lektüre von Gedichtbänden oft zu einem literarischen Elchtest macht. Weder sprengen, um im Bild zu bleiben, Satzfragmente und herrenlose Worte aus dem Dickicht des Textes, noch verbauen freie Interpunktion und Tabulatoren die wie immer regennasse Fahrbahn. Verzichtet wird zudem auf Reim und Metrum, die Verse sind zumeist in Strophen gefasst, mitunter zu wenigen Versgruppen verdichtet. Friedel montiert wenig, er legt die Worte in langen Bögen auf das Papier. Welche Schlaglöcher hier klaffen, merkt der Leser oft erst auf den zweiten Blick: Eine weitgehende Aussparung formaler Traditionslinien beinhaltet bindend die Bereitstellung eines alternativen Konzepts. Meister der Form, wie etwa der oben genannte Harald Hartung, vermögen einen Prosasatz einzig mithilfe des Zeilenumbruchs in einen poetischen Text zu verwandeln. Das damit korrelierte Verfahren, das stete Reiben an der Form, entfällt jedoch im vorliegenden Band zugunsten eines bisweilen chiffrenhaften Parlandos. Die Frage aber, ob ein formal assoziativer Text noch als Gedicht zu bezeichnen ist, wurde in anderen Kontexten vielversprechender und zudem lange vorher gestellt. Eine schlichte Verweigerung als ernsthafte Auseinandersetzung mit der Gattung "Gedicht" zu verstehen, bedarf viel guten Willens von Seiten des Rezipienten.

Darüber hinaus, das wäre die Gegenprobe, verleugnen die Texte an keiner Stelle ihr Selbstverständnis als herkömmliche Poesie. Die eigene Gedichthaftigkeit bringt Metaphern hervor, oder vielleicht ist es umgekehrt. Das im Klappentext annoncierte "Porträtgedicht" entpuppt sich wiederholt als Ansammlung eines stereotypen Inventars. Die auftretenden Personen, "Das Mädchen des Meeres", "Die gute Seele" oder "Der schwarze Mann", erinnern an Lustspiel-Charaktere. Den verhandelten, hin und wieder in Leipzig zu lokalisierenden Plätzen, "Der Mendebrunnen", "Für das Völkerschlachtdenkmal" oder "Ein gemeinsames Zimmer", fehlt die Spezifik der Betrachtung.

Insgesamt leidet der Inhalt unter der wenig präzisen Form. So lauscht man dem "Knistern und Knacken" eines Feuers, das wenige Zeilen zuvor als staubender Bauschutt "entlarvt" wurde, begegnet man der "Ödnis herkömmlichsten Kahlschlags", es wird sich "hineinverirrt", oder es spiegelt sich "Narkosedunst" im "blauen Linoleum". Sicherlich sind all diese Aspekte marginal, würde nicht ein zuweilen lässiger Umgang mit sensiblen Materien Anlass zur Beklemmung geben. Ein Besuch "Auf der alten Pferderennbahn" ist im zweiten Gedicht des Bandes kommentarlos wichtiger als der gleichzeitig stattfindende "Aufmarsch in Springerstiefeln". Die Gelegenheit, am Verfall eines Baudenkmals auch den Umgang mit der eigenen Geschichte zu diskutieren, bleibt ungenutzt. In einem anderen Gedicht wird vielmehr wörtlich eine Haltung skizziert, die zum Aufkommen des Hitlerregimes beigetragen hat. In dem Gedicht "Für das Völkerschlachtdenkmal" heißt es: "Es ist Privatheit, die Frieden stiftet". Das oben beschriebene Vakuum der Form erhält nun eskapistische Züge.

Die Nonchalance geht soweit, dass die Themen "Sterbehilfe", "Kindstod" und "Verwahrlosung" herhalten müssen, um ein lyrisches Moment zu erzeugen. Das Poem "Schattenspiel der Ahnen" weist die größte Dichte derartiger Volten auf. Es ist genau genommen nichts anderes als eine Aufzählung von Todesarten, die von dem schlaflosen Textsubjekt auf die gegenüberliegende Zimmerwand halluziniert werden. Die Konstellation ist signifikant: hier das in weiche Laken gebettete Ich, dort eine Frau im Gas, ein verstümmelter Soldat, ein Tumorpatient, der sich die Pulsadern aufschneidet, ein todessehnsüchtiger Lahmer, eine amputierte Brust und so weiter. Bestenfalls wurde hier Benn gelesen und nicht verstanden. Leider wird oft versucht, das Motiv des Todes mittels der Schilderung körperlicher Beeinträchtigung zu steigern. Ob dies beabsichtigt ist, muss offen bleiben, aber dass ein Leben mit Behinderung nicht als lebenswert empfunden wird, liegt im Deutungsspektrum des Textes.

Wie der Titel des Bandes betont, fokussieren viele Gedichte das denkbare Positiv bestehender Zustände. Ein solcher Gestus schematisiert notwendig, ist aber gewiss nicht per se verwerflich. Im Gegenteil: Gerade die Reflexion eines Verhältnisses und der Verweis auf die Veränderlichkeit eines jeweiligen Standpunkts bergen ein großes Potential. Schöne Passagen gelingen Swen Friedel vor allem dort, wo nichts entschieden wird, sondern die Worte syntaktisch zusammen und semantisch gegeneinander stehen. Das Gedicht "Transatlantisch" beginnt mit den Zeilen: "Das Flugzeug spult den Aufenthalt zum Ende / und enthebt uns vom Part 'albernes Pärchen'". Und auch die "Reue, die nicht versöhnen will" am Schluss des Gedichts "Bezüglich eines Mondes" ist in der Lage, eine komplexe Situation mit den Mitteln der Poesie auf kleinsten Raum zum Ausdruck zu bringen.

Am Schluss steht demzufolge die Einsicht, dass eine Tradition beherrscht werden muss, um überwunden zu werden und die Form eines Gedichts mehr meint, als die Anordnung von Worten. Das ist in etwa so originell wie ein Vergleich von Lyriklektüre und Elchtest. Am Ende aber kippt man - oder nicht.


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Swen Friedel: Draußen ist die Sonne. Gedichte.
Lyrikedition 2000, München 2006.
50 Seiten, 6,50 EUR.
ISBN-10: 3865202039

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