Enttarnung eines Phantoms

Der zehnte Band des Uwe-Johnson-Forums macht Schluss mit einer Stasi-Legende

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist, wenn auch mit etwas Verspätung, die dem Rezensenten anzukreiden ist, ein Jubiläum in der Johnson-Forschung anzuzeigen: Das internationale Uwe-Johnson-Forum, herausgegeben von Carsten Gansel und Nicolai Riedel im Auftrag der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft, hat 2006 seinen 10. Band vorgelegt. Prinzipiell stehen im Forum Johnsons Werk und seine Rezeption im Vordergrund, doch zur Feier des Jahres hat man sich einem bislang dunklen Fleck seiner Biografie gewidmet.

Im Rahmen seiner Frankfurter Poetikvorlesungen hatte Johnson 1979, unter dem Titel "Begleitumstände" 1980 bei Suhrkamp erschienen, erklärt, seine Ehefrau, von der er sich im Jahr zuvor getrennt hatte, habe ihn jahrelang mit einem Agenten der tschechischen Staatssicherheit betrogen. Dieser sei auf ihn angesetzt gewesen, um die Vollendung seiner Werke zu stören. In der Literaturgeschichtsschreibung ist dies zu der vermeintlichen Information dramatisch zugespitzt worden, Johnsons Frau selbst sei eine Mitarbeiterin des tschechischen Geheimdienstes gewesen - was in etwa der Dramatik entsprach, die der Vertrauensverlust für Johnson bedeutete.

Seine Biografen hatten immer wieder Zweifel angemeldet, doch aus dem Hause Suhrkamp, wo der Nachlass verwaltet wird, die Auskunft erhalten, die Agentengeschichte stimme. Sie ist auch insofern zu einem realen Bestandteil des Johnson'schen Œuvres geworden, weil der Autor sie zu einem bestimmenden Erklärungsmuster gemacht hatte, mit dem er persönliche Probleme, die meist auch literarische waren, zu begründen suchte.

Bernd W. Seiler legt die Angelegenheit nun als Legende ad acta und resümiert den Fall, wie er wirklich war. Der vermeintliche Agent heißt Tomislav Volek, ist Musikkritiker in Prag und hat lange Zeit gar nicht gewusst, welche Rolle ihm für die deutsche Gegenwartsliteratur zugeschrieben wurde. In der Tat hatte er ein kurzes Verhältnis und einen längeren Briefkontakt zu Elisabeth Johnson, der Kontakt zum tschechischen Staatssicherheitsdienst beschränkte sich dagegen auf die Tatsache, dass er von ihm beobachtet wurde. Über ihn an Informationen über Uwe Johnson gelangen zu wollen, wäre ein sinnloses Unterfangen gewesen, weil Elisabeth in ihren Briefen an Volek über vieles schrieb, aber gewiss nicht über ihren Mann. Wie also ist Johnsons dramatische Fehleinschätzung zu erklären? Seiler begibt sich zur Beantwortung dieser Frage in die Spekulationssphäre der Tiefenpsychologie. Dort findet er einen einleuchtenden Grund: Johnson glaubte sich beobachtet, seit er die DDR verlassen hatte, weil er damit bewusst oder unbewusst der Verletzung Ausdruck verlieh, dass seine westliche Existenz letztlich dem Unterdrückungssystem der Staatssicherheit zu verdanken war.

In einem weiteren Beitrag schlussfolgert Gottfried Meinhold, Johnson habe die Spionagegeschichte seiner Frau regelrecht benötigt, um eine schuldige Person für das Misslingen der "Jahrestage" zu haben. Günter Grass macht es sich da einfacher in einem Interview, das Carsten Gansel mit ihm für das Forum geführt hat: Die manischen Verdächtigungen müssten wohl auf Johnsons Alkoholprobleme zurückzuführen sein. Im vollen Bewusstsein, dass man sich mit derlei Mutmaßungen über Uwe nicht mehr auf "originär germanistischem" Terrain befindet, hat sich Carsten Gansel für das Forum dann noch ins Stasi-Archiv begeben und die Aktenlage zu Johnson geklärt. Die wichtigsten Befunde sind die Fehlanzeigen: Zu Johnson findet sich weder in den so genannten Rosenholz-Akten noch bei den operativen Vorgängen etwas.

Das bedeutet, dass es keine systematische Beschäftigung mit Johnson gegeben hat. Stattdessen unterlag er der so genannten "KK-Erfassung", das heißt, Informationen über ihn wurden auf Kerblochkarteien archiviert, sobald sie anfielen. Für das Ministerium für Staatssicherheit konnte er dabei aus mehreren Gründen von Interesse gewesen sein. Er hatte seine Freundin und spätere Frau nach Westberlin schleusen lassen, er befasste sich in seinen Werken mit der DDR und er gehörte zum Umfeld der Gruppe 47, die als kulturelle Repräsentantin der Bundesrepublik galt. Vor allem aber hatte er vom Westen aus noch Kontakte zu DDR-Bürgern, die ihrerseits Objekte in operativen Vorgängen waren.

So trocken und abartig die Materie aus dem Fundus der Überwachungsdienste ist - durch die verdienstvolle Akribie der Johnsonforscher ist eine Intellektuellenbiografie korrigiert, eine Poetikvorlesung um eine polit-psychologische Dimension erweitert und zugleich ein unterentwickeltes Interesse osteuropäischer Geheimdienste am Leben und Werk eines abtrünnigen Untertans dokumentiert worden. Das Literarische kommt gleichwohl nicht zu kurz; neben einem Beitrag zu Johnson und Franz Kafka und der Dokumentation zur Verleihung des Johnson-Preises 2003 an Norbert Gstrein besticht am Ende noch die von Nicolai Riedel erstellte Johnson-Bibliografie mit Nachträgen und Ergänzungen aus den Jahren 1999 bis 2005. Sie füllen sage und schreibe 40 Seiten. Das ist germanistische Wertschätzung und zugleich ein Beleg für die These von Grass, Johnsons Werk werde sich langsam aber sicher durchsetzen.


Titelbild

Carsten Gansel / Nicolai Riedel (Hg.): Internationales Uwe-Johnson-Forum. Band 10.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
220 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3631547358

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