Potpourri der Unisitten

Milos Vecs "Campus Knigge" erklärt die Manieren der Wissenschaftler

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser "Campus Knigge" ist kein Ratgeber und kein Benimmbuch. Vielmehr beschreiben oder karikieren seine etwa 100 alphabetisch gereihten Stichworte das akademische Leben. Meist sezieren sie Verhaltensformen der Forscher und Lehrer mittels Betrachtungen durch eine soziologische Brille. Aus dieser Froschperspektive, die mehr das Wie der Wahrheitssuche als deren Was und Wozu in den Blick nimmt, erscheint das akademische Milieu der Universitäten, Forschungsinstitute und Akademien als ein Soziotop, in dem verschrobene Menschen merkwürdigen Moden folgen. Diese Einschätzung der weltfremden Gelehrten ist nicht neu. Die Stereotypen vom Pedanten bis zum mad scientist bevölkern Komödien, Satiren und Campus Novels seit langem.

Das vorliegende Buch freilich ist durchaus vom Olymp der Wissenschaften herab ediert: Es entstammt der "Arbeitgruppe Manieren" der Jungen Akademie der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Neben dieser Elite der Jungwissenschaftler haben auch einige Altvordere der Akademie, etwa Dieter Simon oder Jürgen Trabant die satirische Betrachtung ihres eigenen Nests nicht gescheut. Falls es überhaupt zutrifft, dass Akademiemitglieder den gemeinen universitären Campus noch als ihr Nest betrachten. Selbstkritisch ist der knappe Eintrag zu "Akademie" dabei allemal, denn er konstatiert: "Alle Versuche, die alten Gelehrtengesellschaften in Arbeitsstätten, Intellektuellenforen oder Gedankenzündmeilen zu transformieren, können getrost als gescheitert angesehen werden."

Dieses Buch macht es dem Rezensenten scheinbar einfach, seine Kritik zu schreiben. Liefert es doch in seinen Artikeln "Knigge", "Kritik" und "Rezensionsethik" eine Reihe von Kriterien, die man auf diese lexikalische Sammlung von Kolumnen anwenden könnte. Immanente Kritik wird durch diese Einträge, wie auch durch das satirische, moralisierende und gelegentlich denunzierende Beobachtungsverfahren nahegelegt. Das Lemma "Knigge" klärt darüber auf, dass unter dieser Chiffre eine Vielzahl von Büchern firmiert, die das eigentliche Werk des Freiherren von Knigge "Über den Umgang mit Menschen" längst verdrängt habe: "Es ist unsichtbar geworden in seiner aufklärerischen Reflexion, in seinem Moralisieren, in seiner ebenso brillanten wie bitteren Sozialkritik, welche Knigge aus Beobachtung unvollkommener Zustände infolge unvollkommener Menschen entwickelte. Seine Gesellschaftsethik, wie man mit sich und anderen auskommt, formulierte er ohne Prinzipienreiterei."

Der Eintrag zu "Kritik" wiederum beklagt schwungvoll, dass es keine Kunst der kritischen Beurteilung mehr gebe; diese verschwinde in der Rezensionsethik. Statt mutiger, witziger und entschiedener Urteile herrsche die Langeweile des Wiederkäuens und der Paraphrasen. Anstelle der wilden Polemiken des 19. Jahrhunderts treffe heute die Ödnis der Rezensionen auf die Ödnis der Bücher. Nun ja: Genügt dieser Eintrag, genügen die anderen Einträge diesem hohen Anspruch an "aufklärerische Reflexion"? Offeriert dieses in schmucker schwarz-roter Typographie gestaltete Buch "ebenso bittere wie brillante Sozialkritik"? Ja. Aber: Die allermeisten dieser halb- bis vierseitigen Kolumnen sind schon gut geschrieben, auf Pointe getrimmt und häufig geschliffen formuliert. Aber das Lamento des Eintrags über "Kritik" (wie auch vieler anderer Beiträge) kann einem, trotz aller witzig-humorigen Sätze, die Lektüre des Buches (und das akademische Leben) schon sauer machen. Zwar wird in diesem Potpourri der Unisitten nicht gerade dem Idyll der alten Ordinarienuniversität nachgeweint, aber der Spott über fragwürdige Neuerungen (von Exzellenzclustern bis Powerpoint) insinuiert gelegentlich doch eine Verfallsgeschichte ehemals ehrwürdiger, besserer Institutionen.

Letztlich sind diese kleinen Essays natürlich lauter Einzelstücke; mal glänzende, mal stumpfe Perlen, gereiht auf die Kette des Alphabets. Trotz aller Einladung zu entschiedener Kritik, kann man sie schwerlich pauschal bejubeln oder für nichtsnutzig erklären. Manche Einträge gibt es gar doppelt, wie den über "Coolness" als akademische (Un-)Tugend, dem ein weiterer über "Kälte" folgen darf. Ironischerweise schreibt Jürgen Trabant den (informativen und eleganten) Essay über "Coolness" um in seinem Lemma "Globalesisch" gegen die Wissenschafts-Hegemonialsprache Englisch zu wettern. Coolness und Kritik/Rezensionsethik scheinen jedenfalls wegen ihrer doppelten Behandlung besonders beliebte Themen der akademischen Selbstreflexion zu sein.

Dagegen fehlen Artikel zu einigen wichtigen Aspekten des akademischen Lebens: "Distanzbeziehung" oder "Pendeln" nebst "Dreitagewoche" sind doch gewiss Elemente der akademischen Lebensform. Auch die Einträge zu Kernbeständen studentischen Daseins weisen Lücken auf: "WG", "Unistreik", "Semesterparty" sind nicht unwesentliche Aspekte universitärer Sozialisation. An solchen Fehlstellen, die durch Beiträge zu "Studentenwohnheim" und "Erstsemestertagen" nur notdürftig kompensiert werden, merkt man deutlich, dass das Gros der Autoren vom akademischen Mittelbau an aufwärts residiert. Mit vier Seiten gehört dem (für diese Personengruppe schicksalhaft wichtigen) "Berufungsverfahren" folglich einer der längsten Texte. Und der Eintrag "Auswahlverfahren" widmet sich nicht dem für Anfänger existentiellen Numerus clausus, sondern erst den späteren Stipendien und Forschungsanträgen.

Mangelhaft darf man auch den Eintrag "Männer" finden, der nur mit F.K. Waechters mäßig pertinenter Karikatur "Schwanzvergleich" bestritten wird. Die Einträge zu "Y-Chromosom", "guter Mann" und "Finnland" wiegen die schwache Ausleuchtung des vermeintlich starken Geschlechts auch nicht gerade aufklärerisch auf - obgleich sich die Gender-Forschung doch in den letzten Jahren verstärkt den De-Codierungen von Männlichkeit zugewandt hat. Ebenso unbefriedigend knapp fällt der Artikel zur "Emotionalität" aus, der anschwellende Forschungstrends, gerade auch in der Jungen Akademie, ignoriert. Der Eintrag zur "Mensa" hat von der massenhaften Verbreitung von Salattheken und anderen "gesund-und-lecker"-Innovationen nichts gemerkt und ergeht sich lieber in dümmlichem Zynismus.

Großes Lesevergnügen gepaart mit Erkenntnisgewinn bieten hingegen die Artikel über den "Essay" als souveräne Form wissensgesättigten Schreibens. Oder die Beobachtungen zur "Bibliothek" von Ulrich Raulff, die, wie eine handvoll weiterer Lemmata, ein Wiederabdruck sind. Spielräume und Typologien des akademischen Arbeitens leuchten kontrastive Artikel aus, wie etwa "Einzelschreibtischforscher" versus "Drittmittel" oder die aktuellen "Exzellenzcluster". Eine schöne Rechtfertigung ist der "Weltfremdheit" des Wissenschaftlers gewidmet, eine plausible Kritik dem "Nichtangriffspakt" zwischen Lehrenden und Studierenden, die gegenseitig zu wenig voneinander erwarten und sich solcherart schlampig durchmogeln. Informativ sind Einträge wie die zur Typologie von "Honorarprofessoren" oder der willkommene Klartext unter dem Eintrag "Kohle". Denn wer wusste schon, was die jeweils anderen, mithin Hiwis, Wimis, Professoren verdienen? Hier springt einem die - außerhalb professoraler Standesorgane bisher noch kaum öffentlich debattierte - zwanzigprozentige Gehaltskürzung bei Umstellung akademischer C-Besoldungen auf W-Besoldungen in klaren Zahlen ins Auge.

Wunderbar aufklärerische Miniaturen sind auch Texte wie der zur "Nekrophilie" als exzessiver Verehrung toter Wissenschaftler durch ihre Epigonen. Oder der zum "Schweigen", das als Gegenmittel zur Publikationsflut doch bitteschön von der DFG gefördert (vulgo: bezahlt) werden sollte. Und natürlich Jürgen Kaubes Polemik gegen "Powerpoint" nebst seinem Lob des "Feuilletonwissenschaftlers". Ein Prachtexemplar eines solchen ist Kaube zweifellos selbst; denn wie kein anderer verfügt dieser FAZ-Redakteur über die Kunst des sezierenden Blicks auf wissenschaftliche Moden und Methoden gepaart mit umfassender Bildung und prägnanter Sprachkraft.

Lehrreich und lustig sind, zumindest für Geisteswissenschaftler, die Artikel zum Status eines "Nature Paper", zum "SCI" (dem "Science Citation Index" und seinen Auswirkungen) und zur SPU. Mit der ist die "smallest publishable unit" gemeint. Das karrieristische Gebot der Vielpubliziererei zerstückelt Erkenntnisse in SPU-Häppchen. Rebekka Habermas findet in ihrem Artikel zum "Habitus" des Wissenschaftlers dessen "eigentliche Inkarnation" im Geisteswissenschaftler. Und hier wiederum glaubt sie, zum "Kern des Kerns" des wissenschaftlichen Habitus vorgestoßen zu sein, wenn sie dessen Ausprägung "bei den Besten, Innovativsten und damit eben Exzellentesten dieser Spezies" umreißt als: "Empirisch zutiefst gesättigter Sarkasmus, der die Lust an intellektueller Neugier noch nicht vertrieben hat."

Mehr oder weniger sarkastisch kommen die meisten dieser Minima Moralia, Reflexionen aus dem akademischen Leben, daher. Empirisch gesättigt sind die soziologischen Miniaturen schon - "zutiefst" freilich nur deren bessere Hälfte. Fraglich bleibt, ob sie Lust machen können auf intellektuelle Neugier, oder auf das Milieu, wo diese professionell institutionalisiert und gelebt werden sollte. Fraglich auch, an wen sich dieses Buch richtet. Der akademische Mittelbau mit Karriere- und Verbleib-Ambitionen findet darin einige kluge Systemanalysen und einige witzige Karikaturen. Für Studierende dürfte vieles davon eher belanglos bleiben, manches vielleicht aber auch einen neugierigen, decouvrierenden Blick hinter die Kulissen erlauben. Ob Professoren oder Rektoren an solchen Kolumnen Nutzen und Gefallen finden, das weiß der Himmel - oder unter säkularisiert akademischen Vorzeichen: Harvard und Co., die ETH oder die Max-Planck-Gesellschaft.


Titelbild

Milos Vec (Hg.): Campus-Knigge. Von Abschreiben bis Zweitgutachten.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
240 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3406550622

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