Der einsame Stadtindianer

Gerhard Seyfried möchte erklären, "wie es damals war"

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den schwarzen Stern der Tupamaros sprühen Fred und Jenny in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre an Münchener Wände. Gerhard Seyfrieds Roman erzählt die fiktive Geschichte eines Pärchens und ihrer Freunde vom Januar 1974 bis zum August 1979. Fred und Jenny, Sandra und Ramon sind keine Personen aus der Zeitgeschichte, sind aber in ihr verortet. Es ist die Geschichte von radikalen Linken, die auf Demos gehen, Parolen sprühen, sich in der "Roten Hilfe" engagieren und dabei immer wieder mit der Staatsmacht zusammenstoßen. Nach und nach radikalisieren sie ihre politische Praxis, bis man sich die Frage stellt, wie "konsequent" man sein will und kann, also den bewaffneten Kampf aufnimmt und den bewunderten Vorbildern von der "Bewegung 2. Juni" (die "Rote Armee Fraktion" ist einem zu autoritär) nachfolgt. Man übt den Autoklau und kundschaftet Banken für einen möglichen Überfall aus. Zwei von ihnen, Jenny und Ramon, gehen in den Untergrund. Fred und Jenny können sich nur noch bei seltenen konspirativen Treffen sehen, die zumeist im Ostblock arrangiert werden. Fred wird zum Unterstützer und lebt deswegen unter polizeilicher Dauerüberwachung. So wenig nur zum Inhalt.

Gerhard Seyfried ist seit Jahrzehnten bekannt als zeichnender Chronist der deutschen Linken ab 1968. Seine Comics über die Geschichte der APO ("Wo soll das alles enden") und das autonome Berlin-Kreuzberg ("Das schwarze Imperium") sind Bestseller, nicht zuletzt wegen der identitätsbildenden Selbstdarstellung. Aber auch die Selbstironie ist nicht so ernst gemeint, denn gleichzeitig kann sie ja auch als Ausrede für die Selbstverkitschung dienen. "Ironisch gebrochen" darf man sich vieles erlauben.

Sollte er also, der für Mathias Bröckers' Verschwörungsbuch über den 11.09.2001 einen verschwörungstheoretischen Schaltplan mit einer "Nazisrael"-Fahne zeichnete, geeignet sein, eine Episode der radikalen Linken angemessen darzustellen? Sein Buch ist leider nur einer der vielen unglücklichen Versuche, Roman und geschichtliche Aufklärung kurzzuschließen. Die Verknüpfung von Sachbuch und Roman, von Wissensvermittlung und Unterhaltung ist eine Mésalliance, unter der beide Seiten leiden. Seyfried hat keine Roman-Geschichte geschrieben, sondern er simuliert einen Roman, um das sagen zu können, was er unbedingt sagen möchte: wie das damals nämlich war und wie es dazu kam und wie "wir" dazu kamen. Dafür schickt er seine Personage durch das Niemandsland seines Buchs, damit sie in Situationen geraten, wo sie sagen und tun können, was der Autor demonstrieren möchte. So schickt er sie in die Langeweile einer Partie Malefiz, damit sie aus der eigenen Biografie plaudern, um die unterschiedlichen Erlebnisse und Motivationen aufzufächern.

Größtenteils liest sich das wie ein politisches Jugendbuch: in den Kulissen von Dialogen sollen Wissensdaten an den Mann gebracht werden. Gut, dass immer ein Stichwort fällt. "Und der Weissbecker? Was war das für einer?" oder "Was war der Blues eigentlich für ein Verein?", und schon steht jemand bereit, um in um Authentizität bemühter schnoddriger Sprache einen Crashkurs in "die Linke und die BRD" zu geben. Die Personage stellt nur die passenden Fragen, um den nächsten zeitgeschichtlichen Exkurs zu ermöglichen. Seyfried aber nimmt den Leser an die Hand und lässt nicht los, so sehr man ihn auch abschütteln möchte. Seine Geschichte wie seine Personen haben deshalb kein Eigenleben, keine Dynamik.

Da wird nicht einfach nur gesprochen, sondern dass gesagt, gefragt und erzählt wird, das sagt der Autor sicherheitshalber nochmal dazu. Das Geschehen wird durch seine Beschreibung permanent verdoppelt. Da wird dann "ungläubig" gesagt und "resolut" eingegriffen, und immer wieder "diskutieren sie sich die Köpfe heiß". Penetrant wird die eigene Erzählung kommentierend geschurigelt, weil schon das Bisschen, was sich da entwickelt hat, dem Autor zuviel Eigenleben hat. Die Personage ist nur dazu da, um Empörung auszudrücken, als Sprechautomaten stehen sie von des Autors Gnaden herum. Man möchte sie ihm wegnehmen und in Kur schicken, damit sie wachsen können, Farbe und Aussehen bekommen.

Seyfrieds Sprache tut ein Übriges. Der Kuchen schmeckt "saugut", die Polizisten sind "echt Schweine", und neben dem Argot der Szene handhabt Seyfried auch die Phrasen der Mehrheitsgesellschaft routiniert: Eine linksradikale Zeitung nimmt natürlich "kein Blatt vor den Mund", sondern "schreibt frei von der Leber weg", weswegen es dann auch "nach allen Regeln der Kunst" vom Staatsschutz schikaniert wird. Und das Grundgesetz wird von den Politikern "durchlöchert wie ein Schweizer Käse". Dank Seyfried braucht man nun keinen Atlas mehr: "Von München ist es keine Weltreise nach Italien"! Wer hätte das gedacht? Penibel listet er die Route einer Urlaubsfahrt der beiden Pärchen auf und beschreibt, wie aus dem Reiseprospekt auswendig gelernt, Ferienwohnung ("Jenny und Sandra kochen in der winzigen, aber modern eingerichteten Kochnische") und Ferienort: "Hier herumbummeln macht Spaß". Da wäre man gerne dabei gewesen.

Seyfried sagt selber, er habe die Geschichte "aus der Sicht der geschilderten Zeit geschrieben", und in dieser Sicht richtet er es sich sehr bequem ein. Immer wieder beschreibt er das Aussehen der linken Sympathieträger, ihre Frisuren, ihre Kleidung, ihre Buttons und so fort. Wird eine von Linken bewohnte Wohnung betreten, werden, wie in einem alternativen "Schöner Wohnen", Grundrisse entfaltet und die Art der Wohnung (Altbau, Parkett, hohe Räume, Stuck) sowie die Einrichtung beschrieben. Gerne wird verraten, was für Platten, Bücher und Filme die Protagonisten bevorzugen. Dies hat aber nicht den Effekt, ein lebendiges Szene-Bild zu evozieren, denn hier werden nur Ausstellungsstücke versammelt.

Auch Erasmus Schöfer sagt über seine großangelegte literarische Geschichte der BRD-Linken von 1968-1989, "Die Kinder des Sisyfos", er schreibe aus der Sicht der Akteure - aber bei ihm wird aus dem, was seine Personen sagen und tun, erkennbar, dass es noch eine andere Sicht als die ihre geben könnte. Bei Seyfried hingegen ist der Horizont hermetisch dicht, ja es gibt nichtmals einen Horizont, zu dem der Blick schweifen könnte. Zu sagen, man schreibe ja nur aus der Sicht der damaligen Akteure, damit kann man sich den Freibrief für Naivität und Verherrlichung ausstellen - denn so naiv und selbstherrlich war man damals. Auch für deutsche Linke sind Seyfrieds Personen erstaunlich eindimensional: keine Zweifel, keine Widersprüche tauchen auf. Und dies war und ist denn auch die Selbstsicht deutscher Linker damals und heute, über heute und damals: Wir sind doch immer nur ehrlich besorgt und entsetzt über das Unrecht in der Welt und deswegen aufrichtig engagiert.

Nach ungefähr der Hälfte wird es besser. Nachdem Jenny und Ramon in den Untergrund abgetaucht sind und Fred und Sandra in Ungewissheit zurückbleiben, wird es trauriger, deprimiert und einsam. Freds Außenwahrnehmung wird erträglich, wahrscheinlich weil die Binnenperspektive qua politischer Gruppenzugehörigkeit wegfällt. Das Leben als Guerillero wie als Sympathisant ist niederschmetternd. Die Negativität greift - und die schärft den Blick. Einen "brutale[n] Ölfarbenanstrich" suchte man vorher vergebens. Zweifel tauchen auf und auch die Rationalisierungsleistungen werden sichtbar: "Hin und wieder kommt er ins Grübeln über den Sinn des ganzen, aber wenn er sich dabei ertappt, beißt er die Zähne zusammen und verscheucht alle Gedanken daran", aber trotzdem muss Fred erkennen, dass "in mir [...] auch keine Spur Begeisterung mehr" und dass das Leben als Guerillero ein "Todestrip" ist.

Sollte Seyfried die erste und die zweite Hälfte seines Buchs absichtlich je für sich geschrieben haben? Sollte er Stil, Sprache, Dialoge, Stimmung und Wahrnehmung so handwerklich überaus sauber eingesetzt haben, sodass von der Negativität des zweiten Teils aus der unbekümmerte erste Teil fadenscheinig wird? Dann wäre ihm eine feine Eulenspiegelei gelungen. Aber es ist wenig wahrscheinlich. Vielleicht wurde er auch nur im zweiten Teil von der Negativität der Guerillero-Dynamik überrollt.


Titelbild

Gerhard Seyfried: Der schwarze Stern der Tupamaros. Roman.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2006.
329 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-10: 3746622719

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