Kafkas Code entschlüsselt?

Wie bei Gerhard Rieck aus einem Kindheitstrauma die Kernszene des Kafkaschen Werks wird

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Kafkas Schriften mit all den Schwierigkeiten, die sie für den Interpreten bereithalten, eine Art Geheimcode darstellen, den man nur knacken müsse, um an die eine, im umfassenden Sinn gültige Bedeutung des Werks heranzukommen, ist eine immer noch weit verbreitete Vorstellung. Auch die poststrukturalistische Theorierevolution hat nicht viel daran geändert. Denn nun konnte ja die Tatsache, dass Kafkas Werk sich gegen die Präsenz von Sinn sperrt, einfach als des Rätsels Lösung ausgegeben werden. Trotz dieser offensichtlichen Kontinuität im Interpretationsgeschäft hat die postmoderne Kafka-Exegese nicht nur Freunde gefunden. Gerhard Rieck etwa zieht zu Beginn seiner Arbeit über die "Wiederholungsmotive im Werk" Kafkas gegen den Relativismus der postmodernen Kafka-Interpreten zu Felde, als gelte es, der Wissenschaft den Teufel auszutreiben. "Die Postmoderne", verkündet Rieck, sei "ein Luxuxpflänzchen, ein Wohlstandsprodukt." Ihre Ideologie sei der pure Konsumismus, ihre Herrschaft stütze sie "wie die absoluten Monarchien vergangener Jahrhunderte auf die Methode 'Teile und herrsche.' Geteilt wird dabei die Wahrheit, und zwar in relativierte, subjektivierte, unverbindliche, untereinander entkoppelte und als 'Große Erzählungen' denunzierte Portionen."

Aus welcher Ecke dieser scharfe Angriff kommt, kann Rieck freilich nicht lange verheimlichen. Der postmoderne Mensch, schreibt er, gleiche in seinem Bezug zur Moderne dem "Neurotiker, der zu Beginn seiner Therapie zuviel über sich erfährt, flüchtet und von nun an kein gutes Haar mehr an Psychotherapie generell läßt." Das ist die alte Geschichte, die besagt, dass derjenige, der die Ergebnisse der Psychoanalyse leugne, lediglich ihre psychische Wahrheit nicht ertragen könne und sie dementsprechend verdrängen müsse. Rieck allerdings überträgt diese Geschichte unmittelbar auf die Literaturwissenschaft. Denn den Interpreten, die der Komplexität des Werks und seiner diversen Kontexte gerecht zu werden versuchen und sich einer einsinnigen Deutung enthalten, unterstellt er Angst, - Angst vor der Wahrheit, die die kranke Künstlerpsyche im Kunstwerk verborgen habe.

Dass diese zum Teil wirren Äußerungen letztlich pro domo gesprochen sind - natürlich versucht Rieck in seiner Arbeit, durch die Entschlüsselung eines Geheimcodes die verdrängte psychische Wahrheit von Leben und Werk Kafkas ans Licht zu heben - macht sie nicht weniger ärgerlich. Am ärgerlichsten jedoch ist eine von ihnen ausgehende Gefahr: Man ist nämlich versucht, das Buch nach Lektüre der Einleitung entnervt und erbost zur Seite zu legen. Das jedoch wäre ein Fehler, denn Rieck hat Thesen zu bieten, die zum Teil so stark sind, dass man sie nachgerade zur Kenntnis nehmen muss.

Seine Argumentation beginnt Rieck, indem er den Zusammenhang von zwei biographischen bzw. autobiographischen Texten Kafkas aufdeckt: vom "Brief an den Vater" und den "Forschungen eines Hundes", die beide Szenen enthalten, die Rieck als "Deckerinnerungen" bezeichnet, also als entstellte Reproduktionen eines traumatischen Erlebnisses aus der frühen Kindheit, an das man sich aufgrund der infantilen Amnesie gewöhnlich nicht genau besinnen kann. Die Deckerinnerung im "Brief an den Vater" verberge sich in der traumatischen "Pawlatschenszene", in der das Kind Franz vom Vater des Nachts im Hemdchen auf den Balkon getragen wird, weil es um Wasser gebettelt und mithin gestört habe. Kafka kommentiert im "Brief an den Vater" ohne Schnörkel: "ich hatte einen inneren Schaden davon." Liest man diese Darstellung zusammen mit einer Szene aus den "Forschungen eines Hundes", so kann man, wie Rieck das tut, aus den Deckerinnerungen auf ein Grundtrauma schließen, das tatsächlich in etwa so ausgesehen haben könnte: "Das Kind schläft, während die Eltern miteinander verkehren; das Kind erwacht von dem Lärm und den Geräuschen, die diesen Vorgang begleiten; es ist fasziniert, aber auch zutiefst verstört; es kann seine Erregung nicht bezähmen und macht sich bemerkbar; der Vater (und auch die Mutter?) möchte sich nicht stören lassen und entfernt den kleinen Beobachter aus der Wohnung."

In dieser Form, das weiß auch Rieck, tritt man seiner These noch mit Skepsis gegenüber. Das kann ihn jedoch kalt lassen, denn nun fängt er an, seine Instrumente zu zeigen. Die literarische Ausformung des Grundtraumas in seiner reinen Form, die "explizite Standardszene" also, findet sich gleich im "Verschollenen". Denn dort beobachtet Karl den Sexualakt von Brunelda und Delamarche und wird zur Strafe auf den Balkon verbannt, und zwar immer wieder von neuem, wie der Leser erfährt: "Ich bin nämlich sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunalda solchen Spaß. Es muss ihr nur etwas einfallen, einmal ist es ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmal will sie es anziehen, und da werde ich immer auf den Balkon geschickt." Im "Verschollenen" taucht die "Standardszene" jedoch häufig auch in verschleierter Form auf. Man muss nur hinschauen und erkennt, dass Karl immer dann vertrieben wird - und das geschieht bekanntlich oft in diesem Roman -, wenn er an einem Sexualakt beteiligt war oder ihn beobachtet hat. Aber es bleibt nicht beim "Verschollenen". Rieck nämlich spürt die sogenannte Standardszene in allen wichtigeren Werken Kafkas auf. Und das Ergebnis ist in der Tat verblüffend. Immer wieder stößt der Leser, dem von Rieck die Augen geöffnet werden, auf das gleiche Geschehen.

Mit großem Fleiß löst Rieck daraufhin die Standardszene in einzelne motivische Details auf, die er wiederum durch das ganze Werk hindurch verfolgt, wobei er gelegentlich deutlich über das Ziel hinausschießt. Im Großen und Ganzen jedoch sind seine konkreten Erörterungen sowohl zu den wesentlichen Motiven im Werk Kafkas als auch zu den Bedingungen seines psychischen Lebens (darunter auch so heikle Themen wie die mögliche Homosexualität Kafkas) äußerst erhellend. Ist das Rätsel des "Kafkaesken" damit gelöst? Ist der Code tatsächlich entschlüsselt? Sicher nicht in all seinen Bereichen. So ignoriert Rieck etwa den nicht unwesentlichen Umstand, dass Kafka sein Leiden bzw. sein Trauma zum öffentlichen Text machte, dass er, um es mit Malcom Pasley zu sagen, nur "semi-private games" spielte. Für Rieck ist Kafka eben hauptsächlich das Opfer und nicht der selbstbewusste Literat, der sich auch mit der Psychoanalyse metatheoretisch auseinandergesetzt hat. Dass Kafka wirklich ein Opfer psychischer Zwänge war, wird allerdings niemand bezweifeln wollen. Und so muss man Riecks Arbeit trotz ihrer Zumutungen (die sich im Nachwort wiederholen) wohl oder übel zur Kenntnis nehmen. Es lohnt sich.

Titelbild

Gerhard Rieck: Kafka konkret - Das Trauma Ein Leben.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1999.
355 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3826016238

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