Konkurrierende Wertsysteme der Zeitenwende?

Ein Sammelband über "Bürgerliche Werte um 1800"

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der aus einer 2003 veranstalteten Tagung an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena hervorgegangene Sammelband vereinigt 19 Beiträge um den in literaturwissenschaftlichen und soziologischen Diskursen vernachlässigten Begriff des "Bürgers". In Verbindung mit dem Begriff der "Werte" und der Konstitution von Wertesystemen kommt man zum zentralen Thema des Bandes, zu den "Bürgerlichen Werten" und deren Referenzsystemen.

Die Beschränkung der Publikation auf den Bereich "Bürgerliche Werte" hat ihren Ursprung und ihre Folie in dem Jenaer Sonderforschungsbereich "Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800". Die Fragestellung des Bandes lässt sich - in Korrespondenz mit dem Sonderforschungsbereich - mit dem Interesse am Strukturwandel einer ständischen und bürgerlichen Gesellschaft zwischen 1770 und 1830 zusammenfassen. Die Herausgeber formulieren in der Einleitung die überraschende Erkenntnis, die sich aus den Beiträgen der Tagung ergab: "Gerade auch die zeitliche Konzentration auf die Jahrzehnte vor und nach 1800 erwies sich im übrigen als überaus anregend, um zentrale Annahmen der bisherigen Forschung noch einmal genauer in den Blick zu nehmen: Das Bild der bürgerlichen Werte und ihrer Vermittlung erscheint differenzierter und disparater, ihre Verdichtung zu einem geschlossenen, programmatischen Entwurf zweifelhafter, und auch die sozialformierende Wirkung von Werten muß, jedenfalls soweit es die Ausbildung einer neuen Gesamtformation von Bürgertum betrifft, noch einmal kritisch überprüft werden."

Die Beiträge des Bandes unternehmen dabei sukzessiv die Überprüfung dieser gesellschaftlich-psychologischen Prozesse, indem in den Abschnitten "Werteproduzenten", "Wertevermittlung", "Werte" und "Werterezipienten" Berufsgruppen, Institutionen und gesellschaftliche "Kulturfelder" in ihrem produktiven Wechselverhältnis zu dem Begriff "Werte" betrachtet werden.

Dabei gelingt es der Einleitung "Bürgerliche Werte um 1800" und dem einleitenden Aufsatz von Klaus Manger "Dichter und Schriftsteller als Werteproduzenten um 1800" den Problemhorizont zu skizzieren und eine Bestandsaufnahme zu machen. Außerdem wird - dazu kontrastierend - auf die Bedeutung von Sprache, nationaler Identität und dem Individuum im Prozess der Wertegewinnung und Wertekonstitution verwiesen. In Mangers Fazit meldet sich die Heterogenität der Moderne zu Wort, wenn die Modelle von Wertekonstitution bei den verschiedenen Autoren miteinander verglichen werden und weder ein einheitliches System noch ein Konsens feststellbar zu sein scheinen: "In einer so brüchigen Welt - man sehe die Distanz von nur einer Generation zwischen Klopstocks 'Messias'-Epos und Goethes Epos - kommt es, soweit das in der Macht der Dichter und Schriftsteller liegt, auf den Einzelnen an. Wenn wir auf Goethes zeitlich benachbarte 'Achilleis' (1799) blicken, wo der Himmel über Troja wohl auch von den Pariser Revolutionsbränden gerötet ist, sehen wir Denkmal und Herdenverehrung [...] als Totenkult. Menschwerdung aber bleibt die Sache zu festigender Gesinnung. War das Vertrauen in die Literatur früher größer? Hilfreich und wertebewahrend mochte sie sein in früheren wie in künftigen Tagen."

Die Aufsätze führen die Adaption der Werte in einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft aus. Sie beleuchten die Auswirkungen auf "Ehe, Familie und Geschlecht" (Katja Deinhard, Julia Frindte) und widmen sich in dem Aufsatz von Hans-Werner Hahn über die "Werterezeption und Wertevermittlung in bürgerlichen Milieus der Residenzstadt Weimar" der Nachbarstadt Weimar. Dabei wird auch das schwierige Verhältnis des Adels zu den neuen gesellschaftlichen Paradigmen beleuchtet. Nimmt man das Spektrum der Beiträge und bezieht es auf die Einleitung, werden zwar nicht alle Fragen geklärt, aber eine neue Perspektive auf den "Zeitenwechsel 1800" eröffnet. Die durch den Titel suggerierte Einheitlichkeit einer bürgerlichen Kultur um 1800 erfüllt sich nicht, und es sind eher die individuellen und heterogenen Aspekte, die den Gegenstand der Monografie prägen. Und es steht dem Projekt positiv zu Gesicht, wenn die Herausgeber dies in ihrer Einleitung wohlweislich antizipieren, wenn sie anmerken, dass "wenig dafür [spricht], daß es je gelingen wird, in der nachständischen Gesellschaft ein Bürgertum als halbwegs geschlossene soziale Formation zu identifizieren und abzugrenzen." Die Ergebnisse der Aufsätze werden zwar nicht vorweggenommen, aber der Rahmen für die Forschungserkenntnisse festgelegt: "Wir wissen freilich längst, daß die im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft einsetzende und sich bis heute fortsetzende Diversifizierung und Differenzierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionsbereiche auch vor dem einzelnen Menschen nicht haltmacht, so daß eine Vermittlung zwischen diesen Bereichen in der individuellen, als Einheit gedachten Persönlichkeit lediglich postuliert, jedoch nicht erreicht werden kann."

Trotz der skizzierten Problematik der Monografie ist es überraschenderweise ein "runder" und lesenswerter Band geworden. Für Kultur- und Literaturwissenschaften ein Buch, das zur Kenntnis genommen werden sollte.


Titelbild

Hans-Werner Hahn / Dieter Hein (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf - Vermittlung - Rezeption.
Böhlau Verlag, Wien 2006.
420 Seiten, 44,90 EUR.
ISBN-10: 3412169048

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