"Je weiter einer sein Ich ausweitet, desto mehr wird es zur Welt"

Sven Michaelsen blickt in seiner Interview-Sammlung "Starschnitte" hinter Fassaden

Von Monika MünchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Münch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von allen journalistischen Stilformen ist das Interview diejenige, die der plumpen Lüge das Tor am weitesten offen hält. Warum etwa sollte Peter Handke ausgerechnet zum Stern-Autor Sven Michaelsen die Wahrheit sagen, wo er doch selbst folgendes zugibt: "Meine so genannte Biografie besteht aus falschen Spuren, die ich selbst lege, damit zum Erfinden möglichst wenig übrig bleibt." Wer interviewt wird, antwortet das, was er über sich lesen möchte. So einfach ist das.

Doch es gibt im Journalismus noch eine andere Binsenweisheit: Jede Geschichte ist nur so gut wie die Menschen, von denen sie erzählt. Und Menschen und ihre Geschichten, aus diesem Garn hat Sven Michaelsen seine Interview-Sammlung "Starschnitte" gewebt. Anders als üblich stellt in dieser Sammlung die Fantasie des Lesers die Fragen: Michaelsen bietet in seiner Reihe von nachträglich beschnittenen Texten nur die Antworten jener Stars und Sternchen, die er befragt hat. Er täuscht damit Leichtigkeit vor: Als ob sich diese Interviews selbst geführt hätten, von unsichtbarer Hand gelenkt. Dabei ist eben das die vielleicht schwierigste Aufgabe des Chronisten: Menschen zum Reden zu bringen.

Es sind perlengleich aufgereihte, wunderbar zu lesende Lebensweisheiten, die Michaelsen aus den Köpfen seiner Gegenüber geborgen hat. Oft entdecken sie einen Menschen, von dem man fast schon vergessen hatte, dass er Mensch ist: Heino etwa erzählt von seinem Schäferhundclub und Peter Handke darüber, dass er seine Romane mit Bleistift schreibt und die Bleistiftstummel nach Romanen getrennt sammelt. Und dass er pinkeln geht, wenn er eine Schreibblockade hat. "Je weiter einer sein Ich ausweitet, desto mehr wird es zur Welt", sagt Handke auch und erklärt damit, was Michaelsens "Starschnitte" im Kleinen wollen: nichts weniger als die Welt zu deuten.

"Interessante Menschen erklären sich und die Welt" - diesen Untertitel hat Michaelsen denn auch für seine Sammlung gewählt. Als "Idole und Bewusstseinsproduzenten" werden seine Gesprächspartner im Klappentext weiter klassifiziert. Fast ausschließlich sind die Befragten im Kulturbetrieb tätig, viele sind Literaten oder zumindest Meister des Wortes: Enzensberger, Dürrenmatt, Mulisch, Ransmayr, Nadolny, Koeppen, Kempowski, Peter Zadek und Robert Wilson, Siegfried Unseld und Marcel Reich-Ranicki. Aber auch Helmut Newton ist da und Pornoproduzent Hans Moser ("Die ganz große Gefahr ist, dass Pornos Ihre Fantasie korrumpieren"), Claus Peymann, Dieter Bohlen, Udo Lindenberg ("Ein bewusstseinserweiternder Doppelkorn kann Horizonte verschieben"), Robbie Williams, Maler Markus Lüpertz, Regisseur Fatih Akin: blitzende Egos allerorten, auffallend viele Männer.

Das hat vielleicht damit zu tun, dass Michaelsen gerne Männergespräche führt; es geht oft um Sex und gut zur Sache. Doch vor allem haben sich viele dieser Leute offensichtlich intensiv damit beschäftigt, was es heißt, Künstler zu sein; ihre Antworten sind profund reflektiert, amüsant formuliert, auch wenn die Interviews bisweilen stark in Länge und der Tiefe, die sich zwischen Interviewer und Interviewtem auftut, variieren.

Über all dem ist "Starschnitte" zum großformatigen Band mit starken Porträts und luftigem Satz geraten, der einlädt zum blättern in fremden Leben, zum stöbern und verweilen. Ein weises Buch, ein lustiges, spannendes, das die Lust am Klatsch befriedigt, das so, so viele Geschichten erzählt - über Nebensächlichkeiten meist. Doch was im Leben ist nicht eigentlich - nebensächlich?


Titelbild

Sven Michaelsen: Starschnitte. Interessante Menschen erklären sich und die Welt.
DuMont Buchverlag, Köln 2006.
247 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832179917

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