Die Geschichte des "Erlösungsantisemitismus"

Saul Friedländer über die Judenvernichtung

Von Benjamin ObermüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Obermüller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der renommierte Historiker Saul Friedländer hat 1998 den ersten Band seiner Gesamtschau der Judenverfolgung im Nationalsozialismus vorgelegt. Schon damals waren sich alle Kritiker einig: Die Herangehensweise und Analyse Friedländers verdient allen Respekt. Nun liegt der abschließende zweite Band über die Kriegsjahre 1939-1945 vor. Herausgekommen ist abermals eine eindrucksvolle Gesamtdarstellung des Holocaust.

Anders als viele Historiker vor ihm wählt Friedländer bei seiner Betrachtung einen anderen Blickwinkel. Standen bisher Strukturen und Täter im Vordergrund der wissenschaftlichen Forschung, so erweitert Friedländer die Perspektive. Zwar greift auch er auf "Quellen der Täter" zurück, ergänzt diese Sichtweise jedoch um die umfangreiche Heranziehung von Memoiren und Erlebnisberichten der Überlebenden. Neben Briefen und Tagebüchern sind dies auch Ghettochroniken. Aufgrund dieses Zugriffs gelingt es Friedländer, zwischen zwei Ebenen zu wechseln. Genauer gesagt: Es werden nicht nur die Entscheidungen zur "Judenfrage" auf der Führungsebene geschildert, sondern auf einer Mikroebene ihre Auswirkungen besonders deutlich vor Augen geführt. Dem Autor gelingt das Kunststück sich nicht nur auf der Höhe der neuesten Forschungen zu bewegen, sondern die Opfer ihrer Anonymität zu entreißen und Ihnen eine Stimme zu verleihen, wie es gerade die strukturgeschichtliche Forschung, trotz aller Verdienste, jahrelang nicht konnte.

Ähnlich wie Daniel Goldhagen, ohne jedoch dessen Fehler noch einmal zu machen, schildert Friedländer Massenerschießungen und die Vorgänge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ausführlich. Auch hier zieht Friedländer eine große Zahl an Selbstzeugnissen heran, so zum Beispiel auf Täterseite die von ehemaligen SS-Schergen.

Ein weiteres großes Verdienst Friedländers ist die Breite der Untersuchung. Es wird nicht nur die Lebenssituation der deutschen und polnischen Juden thematisiert, sondern ein Gesamtpanorama des europäischen Judentums entwickelt. So wird nicht nur die Pluralität des Judentums in Europa deutlich, sondern ebenso die unterschiedliche antisemitische Tradition in den europäischen Gesellschaften. Friedländer macht deutlich, dass ohne die Kollaboration vieler Länder die umfassende Ermordung der Juden nicht möglich gewesen wäre. Staaten wie Litauen, Rumänien oder Bulgarien begingen diese Verbrechen mit - und teils sogar auch in Eigenregie.

Es überrascht kaum, dass die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten den größten Raum in Friedländers Darstellung einnimmt. Der Autor greift, um das Phänomen Holocaust erklären beziehungsweise deuten zu können, auf den Begriff des "Erlösungsantisemitismus" zurück. Damit verwirft Friedländer die These vom biologischen Antisemitismus und schätzt die religiöse Dimension gewichtiger ein. Als absolutes Pendant zum "Arier" fungiere ,der Jude' in der Weltanschauung des Nationalsozialismus. Friedländer macht immer wieder und zum Ende des Buches immer nachhaltiger darauf aufmerksam, als was der Holocaust zu verstehen sei, nämlich als ideologisch motiviertes Gesamtverbrechen und nicht als ökonomisch verstandene Zwecktat. Sicherlich ist diese These beziehungsweise Auffassung nicht neu, jedoch wird sie von Friedländer an Hand seiner Quellenauswahl noch einmal besonders deutlich gemacht.

Die vorliegende Studie ist ein Standardwerk der Holocaustforschung. Zwar greift sie auf keine neuen Quellenfunde zurück, beinhaltet jedoch eine ganze Masse an Selbstzeugnissen, die vorher wenig bis gar keine Beachtung gefunden haben. Die Synthese Friedländers, die nun für die Jahre 1933-1945 komplett vorliegt, macht dem Leser deutlich, wie in gemeinsamer europäischer Kollaboration, jedoch stets unter Federführung der deutschen Regierung, die Juden Schritt für Schritt vertrieben und vernichtet wurden. Gerade in einer Zeit, wo Antisemitismus wieder verstärkt aufkommt, wünscht man diesem Werk zahlreiche Leser. Wohl bei keiner anderen Lektüre wird man fassungsloser über die Verbrechen der Deutschen und Europäer zurückgelassen.


Titelbild

Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
870 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406549667

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