Die Konstruktion des Ethnischen

Ein Sammelband zur Ordnung der Kulturen um 1800

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Kultur" ist im letzten Jahrzehnt zu einem Erfolgsbegriff in Wissenschaft und Feuilleton geworden, der unterschiedlichste Erscheinungen erklären soll und nur allzu häufig den Blick auf tatsächlich politische und ökonomische Gründe für Konflikte verstellt. So beginnt man mit einer gewissen Skepsis die Lektüre eines Bandes, dessen Herausgeber Hansjörg Bay und Kai Merten in der Einleitung mit den ersten Worten auf "Fragen kultureller Differenz" abheben, die sie, immer noch im ersten Absatz, für die "Epochenschwelle um 1800" bislang unzureichend erforscht sehen.

Tatsächlich liegen auch für diese Zeit schon zahlreiche Einzelstudien vor, und die Forderung der Herausgeber, "die verschiedenen Aspekte der Etablierung ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen" miteinander zu verknüpfen und auf jene Epochenschwelle zu beziehen, ließe sich wohl allenfalls monografisch einlösen, nicht aber in dem Aufsatzformat, das ein Sammelband erzwingt. Immerhin stellen die Resultate einer Tagung des Gießener Graduiertenkollegs "Klassizismus und Romantik" aus dem Jahr 2003, für den vorliegenden Band noch ergänzt, wertvolle Vorarbeiten für ein solches Projekt dar.

Die Aufsätze sind vor allem auf England, Frankreich und Deutschland bezogen und haben meist literarische Texte zum Gegenstand. Die Beiträge von Viktoria Schmidt-Linsenhoff zu afrikanischen Körperbildern in der französischen Malerei um 1800 und von Ottmar Ette zu Alexander von Humboldts komplexer Text-Bild-Montage in den "Vues des Cordillères" führen über diesen Rahmen aber ebenso hinaus wie jene von Heinz Thoma zur Verzeitlichung und gleichzeitig Nationalisierung in französischen Literaturgeschichten und von Annette Backhaus zur Herausbildung des Rassenbegriffs. Welche Komplexität der Begriff der Rasse in sprachübergreifender Perspektive gewinnt, zeigt Sabine Schülting in ihrer Analyse des englischen Armutsdiskurses zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die Furcht vor einer durch das Elend der frühen Industrialisierung gebildeten, so gefährlichen wie degenerierenden "race", die das englische Bürgertum umtrieb, führte zu sehr unterschiedlichen, wenn auch durchgehend repressiven bevölkerungspolitischen und sozialtechnologischen Strategien. Einige von ihnen scheinen im Kontext der aktuellen Unterschichts-Debatten durchaus aktuell - ein wehmütig stimmendes Beispiel dafür, wie ein wissenschaftlicher Beitrag in drei Jahren bis zur Publikation an Brisanz noch gewinnen kann.

Schülting zeigt, wie die Klassenfrage durch eine der Rasse ersetzt wurde, und skizziert, wie aufmerksam Charles Dickens in seinem frühen Prosawerk "Sketches by Boz" darauf reagierte. Dabei ist die Literatur nicht zum Symptom für einen ohnehin zu belegenden Diskurs reduziert, sondern in ihrer Mehrdimensionalität bewahrt. Genau darin besteht die Stärke aller Beiträge des Bandes: dass die Texte und Bilder nicht als Gelegenheit erscheinen, gesellschaftliche Konflikte nur ein weiteres Mal aufzufinden, sondern als Ansatzpunkt, die Widersprüche auf einer neuen Ebene zu durchschauen. Das gilt für die Aufsätze von Saree Makdisi, Tim Fulford, Alexandra Böhm und Kai Merten zu verschiedenen Aspekten des britischen Exotismus ebenso wie für die Studie von Doris Feldmann zur textuellen Codierung der britischen Nationswerdung am Beispiel von William Godwins "Things as they are". Besonders herauszuheben ist der Aufsatz von Hans Peter Herrmann, der nachzuweisen vermag, in welchem Maße eine Gruppe von deutschen Schriftstellern schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wichtige Bestandteile der später wirkungsmächtigen Nationalideologien formulierte. Herrmann verdeutlicht, auf welchen soziokulturellen Voraussetzungen diese frühe Radikalisierung beruhte, und wendet sich überzeugend gegen jüngere Versuche etwa von Jost Hermand, diesen Texten einen emanzipatorischen Gehalt zuzuschreiben.

Der differenzierte Blick aufs Besondere ist allerdings die Schwäche des Ganzen. Die Beiträge sind immer noch auf einzelne Nationen ausgerichtet. Allenfalls geraten die internationale Rezeption mancher Texte (wie bei Alexander Honold die eines Reiseberichts von George Anson durch Rousseau und Hölderlin) oder politischer Ereignisse wie in der Re-Inszenierung der Französischen Revolution in den "Reflections on the Revolution in France" von Edmund Burke (dazu Ethel Mazala de Mazza) in den Blick. Vertreter der Komparatistik - die allerdings auch noch nicht die Frage gelöst hat, wie sie die Masse ihrer Gegenstände sinnvoll strukturiert - fehlen ganz. Eine Verknüpfung leistet nur die Einleitung, in der Bay und Merten einen wichtigen Unterschied zwischen Frankreich und England einerseits und Deutschland andererseits herausstellen. Das nationale Selbstbewusstsein der westlichen Großmächte war dadurch gekennzeichnet, den zivilisatorischen Fortschritt zu repräsentieren; mit sehr wechselhaften Strategien der englischen Politik gegenüber den verschiedenen kolonialisierten Bevölkerungen. Der deutsche Nationalmythos, der weitgehend unabhängig von den anthropologischen und rassentheoretischen Diskussionen des späten 18. Jahrhunderts entstand, zielte dagegen auf die Wiederherstellung einer vergangenen Ursprünglichkeit. Die Definition eines mit der verderbten Zivilisation assoziierten Feindes im eigenen Volk bereitete in diesem Zusammenhang schon eine antisemitische Ausgrenzung nach innen vor.

Die These überzeugt und lässt doch Fragen offen. Der Eindruck eines deutschen Sonderwegs entsteht einmal mehr durch den Vergleich mit jenen beiden gut erforschten westlichen Staaten, die schon früh zu nationaler Einheit fanden. Schaut man sich die heutigen Grenzen in Europa an, so erscheinen hingegen England und Frankreich eher als Ausnahmen. Dass in einem Band, der kulturelle Differenzen in den Mittelpunkt rückt, die außereuropäische Perspektive ganz fehlt, mag man damit begründen, dass die damals unterdrücktesten Teile der Menschheit sich noch kaum schriftlich artikulieren konnten, die asiatischen Schriftkulturen hingegen wenig Kontakt mit der europäischen Diskussion hatten. Die Konzentration allein auf die drei Länder Deutschland, England, Frankreich - mit Ausnahme eines erhellenden Aufsatzes zu Russland von Neil Stewart - repräsentiert zwar die Fächergewichtung an deutschen Universitäten, doch erschöpft nicht die Fragestellungen, die sich um 1800 im europäischen Kontext ergaben. Wie etwa konnte sich Nationalgefühl nach dem Abstieg von einer europäischen Großmacht (Schweden) oder gar einer globalen Hegemonie (Niederlande) neu oder überhaupt bilden? Wie war zum Beispiel die Lage in einer besiegten und geteilten, als Staat im fraglichen Zeitraum nur kurzfristig existierenden Nation wie Polen? Im ähnlich wie Deutschland noch lange nicht geeinten Italien? Die Einbeziehung der kleineren oder spät entstandenen Länder ist weniger ein Gebot moralischer Gerechtigkeit, sondern böte die Möglichkeit eines analytischen Zugewinns.

Ein zweiter, grundlegender Einwand gegen zumindest einige Beiträge des Bandes ist der widersprüchliche Bezug auf gegenwärtige Diskussionen um Universalismus und Partikularismus. Besonders zwei Aufsätze, die sich im übrigen durch sorgsamen Umgang mit Texten auszeichnen, stehen für diese Problematik. Christiane Frey stellt Moses Mendelssohn durchaus mit Sympathie als Bewahrer jüdischer Partikularität gegenüber christlich-aufgeklärter Kritik an der Fixierung des Judentums auf Schrift, wobei die Kritiker, die auf ihrer Wahrheit bestehen, als borniert erscheinen. Die Neutralisierung ist hier so weit getrieben, dass jegliche religiöse Haltung relativiert und damit ins Unverständliche verzerrt ist: Glaubt man, anders übrigens als der Rezensent, dass Jesus Christus die Menschheit erlöst habe, so erscheinen eben alle, die das nicht glauben, im Unrecht (was noch keineswegs festlegt, wie mit ihnen zu verfahren sei). Paradoxe Folge davon, dass der Relativismus eine allgemeine Wahrheit verneint, ist, dass Respekt für jede partikulare Wahrheit eingefordert wird. Wenn Hansjörg Bay in seinem Beitrag zu Hölderlin meint, mit seinem Autor über die Alternative von Universalismus und Partikularismus hinauszugreifen und ein wechselseitig verschränktes Lernen, das keine Assimilation verlangt, fordern zu können, ist doch der Essentialismus der als partikular vorgestellten Kulturen immer noch nicht überwunden.

An dieser Stelle zeigt sich eine methodische Inkonsequenz. Der Untertitel des Bandes benennt die "Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen". Damit orientieren sich die Herausgeber an dem, was in der Wissenschaft, wenn auch lange nicht für den Alltagsverstand herrschende Meinung ist: dass die Differenzen hergestellt sind und keine natürlichen Einheiten markieren. Wenn aber Rassen, Nationen, Kulturen Produkte von Strategien sind (und, subjektzentriert ausgedrückt: auf Interessen rückgeführt werden können), dann fällt nicht nur die falsche Alternative von Universalismus oder Partikularismus weg, sondern zielt auch jede Forderung ins Leere, Kulturen oder was auch immer zu respektieren. Was als Kultur gilt, ist, folgt man der Konstruktionsthese, Resultat menschlichen Tuns und kann durch neue Strategien verändert oder zerstört werden.

Doch erscheint diese Inkonsequenz nicht über das übliche Maß hinaus und beeinträchtigt den wissenschaftlichen Wert des Bandes kaum. Insgesamt liegen erhellende Einzelstudien vor, die ein breiter ausgeführtes komparatistisches Werk erhoffen lassen.


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Hansjörg Bay / Kai Merten (Hg.): Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Differenzen 1750-1850.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006.
386 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826030478

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