Versöhnung ohne Vergebung

Gottfried Wagner und Abraham Peck über die Erben von Tätern und Opfern des Holocaust

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Literatur zum Holocaust fehlt es nicht. Im Gegenteil: Dieser krasseste Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte gehört zu den am besten dokumentierten Ereignissen. Ist es deshalb nötig, weiteres zu diesem Thema zu bringen? Als einigermaßen aufmerksamer Beobachter des Zeitgeschehens muss man sagen: Ja!

Angesichts der manipulativen Zweite-Weltkriegs-Soaps aus der Werkstatt eines Guido Knopp, in denen "deutsches Leid" nach wie vor weitgehend losgelöst vom kausal-historischen Kontext über die Bildschirme flimmert; angesichts der weitgehenden Folgenlosigkeit geschichtlicher Erkenntnis für heutiges politisches Handeln, in der gegen Wiederholungen des Holocausts in Ruanda, Jugoslawien oder Darfur zu spät, zu halbherzig oder gar nicht eingeschritten wird; angesichts eines teilweise anhaltenden Bewusstseinsmangels gegenüber grundlegenden Menschenrechtsfragen (z. B. Georges Bush zu Guantanamo; oder François Mitterand zur Ruanda-Katastrophe: "Ein Völkermord in diesen Ländern ist nicht so bedeutend", sagte er, wie man aus der Zeit erfuhr) - angesichts einer solchen Lage, zu der es Dutzende weiterer Beispiele gibt, muss man sagen, dass die grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Gebot "Du sollst nicht töten" im vierten Jahrtausend nach Moses immer noch am Anfang steht.

Gottfried Wagner und Abraham Peck verfolgen in ihrem Buch des Erinnerns und Nachdenkens die Probleme der Erben-Generationen der Täter und Opfer des Holocausts, als die sie sich beide begreifen. Was Gottfried Wagner, Urenkel Richard Wagners, zur Verwicklung seiner Familie im Dritten Reich zu sagen hat, fängt an mit der Stellung des Urgroßvaters als Stichwortgeber für Hitlers auch "künstlerischen" Rassismus und reicht bis zur Rolle des eigenen Vaters Wolfgang Wagner im heutigen Bayreuth. Das ist bekannt aus der 1997 erschienenen Autobiografie des Co-Autors Gottfried, wirkt jedoch in der jetzt stark konzentrierten Fassung fast wie neu. Was dessen auffällige und anhaltende Bitterkeit rechtfertigt, ist die absolute Folgenlosigkeit jeglicher Kritik am Bayreuther Status quo, der inzwischen ja kaum noch künstlerisches, sondern eher kunsttouristisches Interesse erweckt. Denn neue Aspekte sind den dort weiter herrschenden Nachkriegsideologen der Verschleierung, die seinerzeit dank Marx, Freud, Jung und Levi-Strauss immerhin spannende Ansätze zur Wagner-Werkinterpretation entwickelt hatten, nicht mehr abzugewinnen. Zu einer Neuorientierung, zum Versuch einer "Entschleierungsstrategie" deutscher Kunst, ist es in Bayreuth immer noch nicht gekommen.

Die Schilderungen Abraham Pecks von den tragischen Verwicklungen und Verlusten seiner Familie im Holocaust sind zwar mit den Modellen zeitgenössischer Dokumente vergleichbar, bewegen indes besonders in der Schilderung der lebenslangen Narben, die Pecks Eltern als Auschwitz-Überlebenden verblieben sind und die der berichtende Sohn selbst ererbt hat.

Weitgehendes Neuland betreten beide Autoren mit ihren Reflexionen zum Umgang der Folgegenerationen mit der geschichtlichen Last des Holocausts. Wagner und Peck unternahmen mit Sohn und Neffe eine gemeinsame Reise nach Auschwitz, wobei unterwegs einige familiäre Stationen angepeilt wurden. So auch Landsberg, wo Peck im Lager für "Displaced Persons" geboren wurde (und wo Hitler "Mein Kampf" auf eben jenes Papier brachte, das ihm von Gottfried Wagners Großmutter Winifred ins Gefängnis geschickt worden war). Dann steuert die Gruppe auf Bayreuth zu, die Stadt Wagners, in der Hitler die Enkel des Komponisten liebkoste und wo sich deren Mutter Winifred als Festspielleiterin für die Ziele des tausendjährigen Reichs so gerne instrumentalisieren ließ. Es folgen Krakau und Lodz, die Städte der Familie Peck. Schnell bewahrheitet sich eine erst relativ junge Erkenntnis: dass die Erben auf beiden Seiten - Täter wie Opfer - die elterlichen Traumata übernehmen, wobei diese insbesondere auf der Opferseite an Intensität den Leiden der direkten Überlebenden sehr nahe kommen können.

Wagner und Peck reisen zusammen, protokollieren aber getrennt, und der Leser vermeint, zwei verschiedene Reisen mit getrennten Zielen zu verfolgen. Es gibt keine Verbrüderung, keine Umarmung - der Dialog bleibt von größter Fragilität und es herrscht lediglich eine stille Parallelität der augenblicklichen Existenzen im Schatten des Unfassbaren. Der Deutsche trauert um eine Absolution, von der er weiß, dass es sie nicht geben kann; der jüdische Freund kämpft um eine Versöhnung, die aber keine Vergebung sein darf. Denn so weiß es jüdisches kollektives Gedenken seit Jahrhunderten: Vergeben können nur die Opfer! Wenn diese nicht mehr leben, kann es zwar Versöhnung geben - was eine etwas bessere Form des gemeinsamen Modus vivendi sein mag - aber keine Vergebung, was einer Aufhebung, einem "Vergessen" des Vorgefallenen nahe käme.

Die Deutschen sind geradezu süchtig nach Vergebung und Vergessen - vielleicht auch da, wo Vergessen einer Sünde am Menschsein gleicht: Vergessen dessen, was zum kollektiven Gedächtnis gehört. Der Holocaust ist Teil desselben, und ebenso das, was geradewegs zu ihm führte: der "deutsche Sonderweg", der - künstlerisch - auch mit den ach so germanischen, teils protorassistischen Erzeugnissen eines Richard Wagner gepflastert ist. Er arbeitete prominent, für alle sichtbar mit an jenem "Weg", der - politisch - spätestens seit 1880 erkennbar zu Mord und Totschlag führen musste. Aus diesem Grund vergisst der Urenkel Gottfried Wagner auch nicht die geradezu unanständige, von 1923 bis 1945 anhaltende Extrem-Nähe vieler seiner Familienangehörigen zu Hitler, zu dessen Zielen und zu dessen Apparat, was auch Gottfrieds Vater nie klar und deutlich aufgearbeitet hat.

So, wie die Familie Abraham Pecks ein Muster jüdischen Lebens im alten Europa abgibt, mag die Familie Wagner auch beispielhaft für zahlreiche Deutsche dastehen. Angesichts der in vielen Bereichen wie bei den Wagners gescheiterten geschichtlichen Aufarbeitung ist Vergebung nicht mehr aktuell, nicht mehr möglich. Die bis heute gängige, bis zum Weinerlichen gehende Selbstbemitleidung vieler Deutscher im "Kriegs-Leid" wird nur noch übertroffen von den Mythen der "Unwissenheit" (über die Vernichtungsprogramme) und des "Widerstands" (der von der Breitenwirkung her gesehen nahezu inexistent war).

Wagner und Peck wünschen, dass diese falsche Erfahrung des Kriegs endlich wahrer Empathie weichen möge und durch echten Dialog ersetzt werde, wobei die Tatsache des Dialogs selbst das Ziel sei: "Zur Zeit ist es weniger wichtig, was wir einander zu sagen haben, sondern dass wir an die Möglichkeit des Dialogs glauben." Denn die Kinder, die für die Untaten der Väter a priori nicht verantwortlich sind, werden ebenfalls schuldig, "wenn sie am verhängnisvollen Weg der Väter festhalten": wenn auch sie mit den Opfern der Deutschen weiterhin nicht oder kaum reden. Erst die Bereitschaft zum Gespräch mit denen, die uns aus historischen Gründen fremd geworden sind, - den Opfern - erzeuge auch die Kommunikationsfähigkeit mit dem, was uns in der globalisierten Welt immer noch fremd ist: Dazu sei Europa mehr denn je aufgerufen. Denn, so Peck im Schlusskapitel: "Der Genozid bleibt die dringendste Menschenrechtsfrage im 21. Jahrhundert"; anderenfalls seien wir lediglich das Ergebnis des "Scheiterns der westlichen Zivilisation".


Titelbild

Gottfried Wagner / Abraham Peck: Unsere Stunde Null. Deutsche und Juden nach 1945: Familiengeschichte, Holocaust und Neubeginn. Historische Memoiren.
Böhlau Verlag, Wien 2006.
428 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3205773357

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