Der Wander-Verführer

Ulrich Grober über eine alte Kunst

Von Klaus BonnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Bonn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buchtitel, der das Wandern als eine alte Kunst preist und neue Wege dahin aufzuzeigen verspricht, mag Neugier erwecken bei all jenen, die schon länger ein Faible haben für die Fortbewegung zu Fuß; und bei solchen sowieso, die geglaubt haben, das Wandern sei etwas völlig Anachronistisches aus der Mottenkiste. Die Frage, inwieweit Wandern eine Kunst sei und worin diese bestehe, gibt einen Anreiz, der zum Schmökern in Grobers Buch verführt. Elf Wanderrouten sind es, die Grober selbst begangen hat und deren Verlauf er in einzelnen Kapiteln nachzeichnet.

Mit Ausnahme des Abschnitts zur Überquerung der Alpen und zu den Grenzgängen im Böhmerwald befinden sich alle Ziele auf deutschem Gebiet. Nur einmal folgt der Wanderer nicht den Spuren seines prominenten Vorgängers wirklich, sondern lässt sich durch Exponate eines Museums zu den Wanderungen inspirieren, die jener damals unternommen hat. Gemeint sind Hermann Hesse und der gleichnamige Ausstellungsort in Calw. Neben Wanderungen, die sich als Spurensuche oder als das Aufsuchen von poetischen Orten erweisen, etwa Martin Heideggers Hütte, Adalbert Stifters Hochwaldlandschaften oder Joseph Beuys' Wegenetz im urbanen Raum, umfassen Grubers Gänge ein breites Spektrum von verschiedensten, ausgesuchten Wandergebieten. Da gibt es eine Herbstwaldwanderung in Deutschlands geografischer Mitte, Wege entlang am Mittelrhein, eine Strandwanderung an der Ostsee, eine Tour mit Kindern und anderes mehr. Jedem Routen-Kapitel folgt ein kleiner Ausflug zu ökologischen, erd- und kulturgeschichtlichen oder lebensklugen Bekundungen, die mehr oder weniger an eine Praxis des Wanderns gebunden sind. Da geht es um die Elemente Luft, Wasser und Erde, um spirituelles Wandern oder Wandern als Überlebenskunst. Diese Exkurse machen kenntlich, dass das Wandern eine Tätigkeit vorstellt, die stets eingelassen ist in einen umfassenderen Lebenskontext, ja einen kosmischen oder historischen Zusammenhang, als dessen einzelnes Glied sich der Wandernde bewusst wird. Lobenswert sind die zahlreichen Literaturangaben und Zusatzinformationen, mit denen die jeweiligen Kapitel im Anhang bedacht sind. Zu jeder erörterten Wanderung findet sich eine kurze Anfahrtsbeschreibung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Wer möchte, kann also den Spuren Grobers nicht nur Zeile für Zeile, sondern im Freien nachgehen. Ein Wander-Führer ist Grobers Buch darum aber nicht. Es folgt keinem touristischen Interesse, sieht sich vielmehr als Antrieb, den Leser selbst auf den Weg zu schicken und ihm mittels seiner Ausführungen einen "Kompass" an die Hand zu geben.

Worin besteht nun die Kunst des Wanderns? Grober hält zunächst fest: "Das Wandern antwortet unmittelbar auf die Zumutungen der Beschleunigung." An anderer Stelle indes knüpft er an den ekstatischen Zustand des "flow" an und schreibt: "Das 'flow'-Konzept, nicht zuletzt in der Sportwissenschaft und in der Tourismusbranche stark gefragt, hat für eine neue Kunst des Wanderns einen hohen Gebrauchswert." Sich demzufolge so sehr in eine Tätigkeit zu vertiefen, dass bald nichts anderes mehr von Bedeutung zu sein scheint, macht diesen Zustand aus.

Aber nicht allein beim Wandern stellt sich der "flow" ein, auch das Fahren mit dem Auto kann einem diesen Kick bieten. Man braucht nur an die "beatnicks" zu denken, an Jack Kerouacs rasende Trips von der West- an die Ostküste quer durch die USA und wieder zurück; an den seinerzeit betörenden Achtelnoten-Swing des Bebop auch. Grober erwähnt die Vertreter der Beat-Generation nicht, da sie so wenig in sein Konzept der Entschleunigung passen. Auch müssen Sonnenuntergänge nicht ausschließlich in der "freien Natur" ihren Zauber versprühen. Wer auf der Rheinbrücke zwischen Ludwigshafen und Mannheim die Sonne auf- oder untergehen sieht, wird vielleicht gerade ob der industriellen Schadstoffemissionen ein Farbenspektakel betrachten können, wie es die so genannte "freie Natur" zu bieten nicht im Stande wäre.

Ein selbstständiges Navigieren im Raum, die Einübung in eine "Wahrnehmung der Natur", Gelassenheit und Selbstmächtigkeit erachtet Grober als wichtige Momente einer Kunst des Wanderns. Entscheidend ist ihm nicht bloß das Selbstgefühl des Einzelnen, sondern eine Wechselwirkung zwischen Innen und Außen, Mensch und Natur, zwischen Ich und Kosmos. Gleich mehrfach kann man von dieser ganzheitlichen Idee, von dem Einen in Allem, von einer Dauer im Wechsel lesen. Das ist das "Alte" an der Kunst, von der hier die Rede ist. "Durch die Luft, die ich einziehe und ausstoße, bin ich Teil des unendlichen Gebens und Nehmens in der Natur, kommuniziere ich mit der Atmosphäre des blauen Planeten, mit dem Kosmos, in dem er schwebt." Oder an anderer Stelle: "Ein schwingendes Gleichmaß scheint alles, was verstockt und verhärtet ist, zu lösen. Der Berg, der Weg, der harte Boden sind nicht mehr Hindernis, sondern Bühne, nicht Feinde, sondern Partner. Illusion der Schwerelosigkeit, des Schwebens. Ozeanisches Gefühl. Glücksmomente."

Grober macht sich für seine Ausführungen, besonders in den die Kapitel begleitenden Essays, eine ganze Fülle von kulturgeschichtlichen, ökologischen und philosophischen Denkansätzen zueigen. Das geschieht zuweilen auf Kosten einer doch wünschenswerten Präzisierung. Wenn er notiert: "Die freie Bewegung in schöner Natur beeinflusst die Qualität der Innenschau positiv", dann klingt das doch sehr nach einer populärphilosophischen Platitüde. Die Stärke des Buches liegt eher in den Beschreibungen der Wanderungen selbst, der Genauigkeit bei der Verschriftung von Geräuschen, Lichteinfällen, der kundigen Benennung von Pflanzen. Es ist Grober uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er vermerkt: "Die Intimität zwischen Mensch und Natur geht über die Sprache."

Hin und wieder möchte man einem Leseimpuls folgen, das Buch beiseite legen und flugs das Ränzlein schnüren. Ein kleines Ärgernis, das dem Schreiber dieser Zeilen beim Lesen widerfahren ist, soll zuletzt noch Erwähnung finden. Nach gut zwei Dritteln des Wegs durch die Textmasse häufen sich Fehler, weniger solche des Drucks als, unverkennbar, der Grammatik. Es ist, als sei dem Lektor bei seinen Streifzügen über die Unebenheiten des Terrains aus Worten gegen Ende die Puste ausgegangen. Für künftige Textwanderschaften ist ihm eine bessere Konditionierung seiner Fähigkeiten zu wünschen, oder einfach mehr "Zeitsouveränität", wie Grober sagen würde.


Titelbild

Ulrich Grober: Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2006.
343 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3861507722

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