Protest im Schreibversteck

Zum 200. Todestag von Sophie von La Roche

Von Ulrike ProkopRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Prokop

Was machte Sophie Gutermann später Sophie von La Roche zu einer berühmten Autorin? Wie die bedeutendsten Schriftsteller ihrer Zeit, an erster Stelle Goethe, schrieb sie eine neue Literatur, deren Kern in der Bearbeitung autobiografischer Erfahrung bestand. Zwei Jahre vor dem Erscheinen des Jahrhundert-Romans "Die Leiden des jungen Werther" erschien im Jahr 1771 ihr erstes Buch "Geschichte des Fräuleins von Sternheim". Die Grundlage ihres Erzählens waren autobiografische Erfahrungen, die sie in die Form des Briefromans fasste, wie er von England durch die Romane Richardsons nach Deutschland gekommen war. Was die literarische Qualität ausmachte, war jene besondere Lebendigkeit, die sich der Introspektion verdankte - so wie auch Goethes größter literarischer Erfolg seine Bearbeitung der bürgerlich alltäglichen Lebenswirklichkeit und seiner eigenen Leiden war. Mit anderen Worten: diese Autorin, die der Welt mit vierzig Jahren das erste Werk aus ihrer Feder präsentierte, befand sich sofort im main stream der Erneuerung der deutschen Literatur.

Dazu musste sie nicht nur begabt sein, fähig und phantasievoll, das setzte dazu auch Wissen und Bildung voraus. Kein bemerkenswerter Roman kann ohne Kenntnis der Tradition des Erzählens und des Schreibens entstehen. Aber mehr noch - um Autorin zu werden, bedurfte es auch eines persönlichen Mutes und eines Selbstbewusstseins, das vor allem für Frauen dieser Zeit höchst ungewöhnlich war. Es war wie gesagt eine Frage des persönlichen Mutes, aber auch der günstigen Umstände, die diesem begabten Mädchen das nötige Wissen und jenen Respekt der Mitwelt verschafften, der es ermöglichte, das Wort zu ergreifen.

Sophie Gutermann wurde am 6.12.1730 geboren. Sie wuchs in eine Zeit der geistigen Erneuerung hinein und war eine Tochter aus dem gebildeten Bürgertum. Ihr Vater war der Arzt Georg Friedrich Gutermann, der in Augsburg Dekan des medizinischen Kollegiums war.

Das Selbstbewusstsein des aufstrebenden Bürgertums äußerte sich vor allem als Stolz auf berufliches Können und auf Bildung. Der gebildete Bürger besetzte nach und nach die Schaltstellen der gesellschaftlichen Macht - in der Verwaltung von Städten und Fürstentümern; durch akademische Bildung gelangten die Söhne des Bürgertums zu Unabhängigkeit von ihrer Herkunft, weil sie nun ein Amt ausfüllten, als Juristen eine Kanzlei betrieben oder als Mediziner praktizieren konnten. Handel und Manufakturen nahmen an Bedeutung zu, der Adel reservierte sich die Landwirtschaft, das Militär und repräsentative Spitzenpositionen in der Verwaltung. Gesellschaftlich verschärfte sich um 1730 die Abgrenzung der adligen Gesellschaft gegen alle unteren Stände, um so mehr, als die Legitimation feudaler Macht zunehmend brüchig wurde.

Bürgerliche Töchter waren vom Zugang zu den zukunftsträchtigen Berufen von vornherein ausgeschlossen, denn sie konnten nicht studieren: Die Universitäten waren den Männern vorbehalten. Auch in der Epoche der Aufklärung galt für Mädchen der berühmte Satz Diderots: "Sie ist Mutter bevor, sie etwas anderes sein kann" - mit anderen Worten, der weibliche Lebensweg war vorgezeichnet und auch die dafür passende Erziehung sah keine Ausbildung des Geistes, sondern allenfalls eine des Herzens vor. Keine ernsthaften Studien, sondern ein wenig Sprachen, Literatur, Musik und vor allem Haushaltsführung - das musste auch in den Familien des wohlhabenden Bürgertums genügen.

Begabte Mädchen mussten sehen, wie ihre Brüder davonzogen und - der heimischen Aufsicht entronnen - sich im Studentenleben ausprobierten, sich Freundschaften und Wissen aneigneten, um schließlich als Vollendung der Karriere die passende Braut zu wählen. Die Karriere der Frauen kannte dagegen nur einen entscheidenden Schritt - und das war die Heirat. Davon, ob sie vom ,richtigen' gewählt wurden, hing für sie alles ab: die gesellschaftliche Stellung, das Einkommen und das spätere Lebensglück.

Sophie Gutermann war ein begabtes Kind. Ihr Glück war, dass sie die Erstgeborene war. Nach ihr wurden dem Vater in zwei Ehen noch 10 Mädchen und ein Junge geboren. Als Sophie 16 war, starb die Mutter. Sophie versorgte die kleineren Schwestern, während sich der Vater ein Jahr auf Reisen begab. Die Erinnerung an die Kindheit formulierte Sophie von La Roche im Rückblick als 75jährige, in ihren letzten Lebensjahren. Sie erinnert sich an ihre frühe Liebe zu Büchern und verbindet diese Neigung mit der Erinnerung an den Vater. Sie war eine Vater-Tochter. Väter repräsentierten den Zugang zur Welt, zu Macht und Wissen. So schreibt Sophie in ihrem Buch "Melusines Sommerabende" (1806) vom Vater, dass er ihr das Lesen nahe brachte, dass er sie in seine Bibliothek ließ und dass er die kluge kleine Tochter gern vorzeigte: "Mein Vater hatte Dienstags eine Gesellschaft von Gelehrten, wo manchmal Bücher aus seiner Sammlung geholt werden mussten. Bei dieser Gelegenheit machte er mich mit 12 Jahren im Scherz zu seinem Bibliothekar, weil mein gutes Gedächtnis mich alle Titel und alle Stellen behalten ließ, welches ich dann auch zum Auswählen der Bücher für mich benutzte."

An diese Erinnerung schließen sich noch andere Bilder vom fördernden und unterstützenden Vater an. Sophie war eine Art Wunderkind, sie erinnert sich, dass sie schon mit drei Jahren lesen konnte. Sie erhielt eine Bildung, wie sie für Mädchen aus dem gebildeten Bürgertum üblich war: Haushaltsführung, Französisch, Singen, Tanzen, Sticken - darüber hinaus einige Einblicke in Geschichte und Astronomie durch Privatunterricht - aber an einen gelehrten Beruf war für Mädchen nicht zu denken. Lateinkenntnisse waren dazu die erste Voraussetzung. Der Vater verweigerte die Einwilligung, als der bekannte Pädagoge Jakob Brucker ihr hierin Unterricht erteilen wollte. Als sie bereits berühmt war, nachdem sie ihren ersten Roman veröffentlicht hatte, schrieb Sophie an Johann Caspar Hirzel: "Mit 13 Jahren wollte der große Brucker meine Erziehung und Bildung meines Geistes besorgen. Ich bat meinen Vater auf Knien um die Einwilligung, aber er wollte nicht und meine empfindungsvolle Mutter bereicherte nur mein Herz".

Ein weiterer Abschnitt der Lebenserinnerung in "Melusines Sommerabende" macht uns aber auch mit einer ganz anderen Seite des Vaters bekannt - mit seiner Rolle als einfühlungsloser Tyrann. Mit siebzehn Jahren wurde die anmutige Sophie dem Kollegen ihres Vaters, dem gebildeten Leibarzt des Fürstbischofs von Augsburg, Ludovico Bianconi zur Ehe versprochen. Bianconi unterrichtete seine Braut in Mathematik, im Italienischen, in der Geschichte der Kunst. Er veranlasste die weitere Förderung ihrer musikalischen Begabung. Schließlich stritt sich der Vater Gutermann mit dem Bräutigam über die Frage der Taufe der Kinder. Nach dem Willen des Vaters sollten die Mädchen, die Sophie bekommen würde, lutherisch getauft werden wie Sophie es war, nur die Jungen sollten katholisch werden. Über dem Ehevertrag entzweiten sich die Männer - und Sophie schildert in "Melusines Sommerabende" die Folgen: "Bianconi wollte mich heimlich heiraten, mitnehmen und der Welt mehr als dreißig Briefe meines Vaters vorlegen, worin ich ihm versprochen war. Ich versagte es, weil ich meinen Vater nicht betrüben, nicht ohne seinen Segen aus dem Hause wollte [...] Ich musste meinem Vater alle seine Briefe, Verse mit allen meinen ausgearbeiteten geometrischen und mathematischen Übungen in sein Cabinet bringen, musste alles zerreißen und in einem kleinen Windofen verbrennen. Bianconis Portät musste ich mit der Schere in tausend Stücke zerschneiden, einen Ring mit der Umschrift ohne dich nichts mit zwei in den Ring gesteckten entgegen gesteckten Eisen entzweibrechen und die Brillianten auf den roten Steinen umherfallen sehen. Die Ausdrücke meines Vaters dabei will ich nicht wiederholen."

In dieser Erinnerungsszene zeichnet Sophie den Konflikt: sie liebt und wird wiedergeliebt. Aber bei der Heirat spielen die Gefühle die geringste Rolle. Heiraten in vermögenden Familien sind vor allem Verträge zwischen Männern. Der Vater der Braut und der Bewerber müssen sich einigen. Heiraten sind keine Liebesdinge, die Liebe kann dazukommen, aber vor allem dient die Heirat der Lebenssicherung. Der Bräutigam übernimmt die Braut aus den Händen des Vaters und setzt dessen Werk fort. Er beschützt und er bestimmt. Und beidem widersetzte sich Sophie auf ihre ganz besondere Weise. Sie war viel zu klug, sich entführen zu lassen und sich auf Gedeih und Verderb einem Mann auszuliefern, der sie hätte entehren und verachten können, wenn sie sich gegen das Gesetz des Vaters aufgelehnt hätte. Zu jener Zeit hatten Entführungen nicht den Charakter der romantischen Revolte, sondern sie galten als triebhafte Unbeherrschtheit. Die Schuld schrieb man immer der Frau zu, die danach völlig schutzlos war. Wer konnte ihr für die Gefühle des Mannes auch in Zukunft garantieren? Selbst wenn er sie vom Fleck weg heiratete, bedeutete ein solcher Ausbruch aus der Ordnung eine Beschädigung des Ideals immerwährender Tugend, einen Makel, den der Ehemann immer fühlen und den sie immer würde tragen müssen.

Erinnerungen, wie sie uns in dem Werk "Melusines Sommerabende" entgegentreten, werden heute von der Forschung nicht mehr als unmittelbare äußere Wahrheit aufgefasst. Was die junge Sophie damals empfunden hat, was genau geschah, wie sie den Konflikt erlebte - das tritt uns ja im Text der über 70jährigen entgegen. Es ist also vielfach verarbeitete und bedachte biografische Erinnerung. Die Szenen verweisen auf Ereignisse und auch auf die Verarbeitung dieser Ereignisse. Dazu kommt, dass es sich bei "Melusines Sommerabende" ja nicht um ein intimes Geständnis, sondern um einen publizierten Text handelt. Sophie will hier Vorbildliches zeigen.

Als vorbildlich gilt, wie sie den Konflikt bewältigt. Sie verzichtet, bleibt tugendhaft. Aber da ist noch etwas: Sophie macht uns mit ihrer Empörung und den Konsequenzen bekannt. Sie schwört, alles Wissen in sich zu verschließen, das sie dank Bianconi erworben hat. Mit anderen Worten: Sie nimmt Rache, indem sie ihrem Vater, aber auch ihrem zukünftigen Geliebten und dem Ehemann vorenthält, womit Bianconi sie beschenkte, so als seien diese Kompetenzen nicht ihre eigene Leistung, sondern, da sie von einem anderen stammen, auch dessen Besitz. Niemand wird sie in ihrem ganzen Leben singen oder italienisch sprechen hören oder sie in der Mathematik glänzen sehen.

Der Herausgeber von "Melusines Sommerabende", der berühmte Christoph Martin Wieland aus Weimar, fügte eine Fußnote in den Text. Sie lautet: "Daß sie (den Schwur) streng und buchstäblich gehalten, kann auch der Herausgeber aus eigener Erfahrung bezeugen". Wieland musste es genau wissen, denn er folgte Bianconi als der nächste Verlobte der schönen Sophie. Man hatte das verzweifelte und trotzige Mädchen zu den Verwandten des Vaters nach Biberach geschickt, wo sich der 17-jährige Vetter Christoph Martin auf der Stelle verliebte, wie er selbst mehrfach bezeugt hat. Auch Sophie war in ihn verliebt, weil er ihren intellektuellen Bedürfnissen entgegenkam, nicht nur Liebster, sondern auch anregender Förderer und Lehrer sein konnte. Wieland ging kurz darauf zum Studium nach Tübingen. In seinen Briefen führte er Sophie in die zeitgenössische deutsche Literatur ein, während sie als Haustochter auf seine Rückkehr wartete.

Die Verliebtheit des angehenden Gelehrten und bedeutenden Autors Wieland ging in der Studienzeit den natürlichen Weg. Seine Briefe wurden immer seltener und neue Eindrücke und Freundschaften, zunehmendes Wissen entfremdeten ihn der kopflosen Liebe. Hinzukam, dass beide Familien der Verbindung nicht freundlich gesonnen waren. Der Vater Gutermann wollte sich erneut verheiraten und legte den älteren Töchtern eine baldige Ehe nahe. Sophie befand sich in einer prekären Lage. Ihr Vater hatte sein Vermögen ausschließlich dem Stiefsohn zugedacht und benutzte ihre Ablehnung eines Heiratsvorschlags als Vorwand. Sie war plötzlich ein Mädchen ohne Mitgift und "schon" zwanzig. Aber noch schlimmer als die äußere Situation war das Gefühl, mit Gleichgültigkeit behandelt zu werden. Es war die Kränkung, zu Hause überflüssig, vom Vater nur mit Undank belohnt, von der Stiefmutter abgelehnt und von dem Freund und Bräutigam Hans Martin Wieland hingehalten zu werden. Aber auch wenn Wieland gewollt hätte, erst galt es für ihn sein Studium abzuschließen, in ein Amt zu kommen. Erst dann konnte an Heirat gedacht werden - ob überhaupt und wann, all das war völlig unklar.

In dieser Situation zeigte Sophie Gutermann einen charakteristischen Zug ihres Wesens. Nie hat sie als Abhängige an Mitleid appellieren wollen und sie befreite sich mit einem Schlag. Sie vermählte sich am 27.12.1753 mit dem kurmainzischen Rat Georg Michael Frank, genannt La Roche. Wieland war außer sich, ließ sich aber schließlich von Sophie zu einer lebenslangen Freundschaft gewinnen. La Roche war für sie keine Leidenschaftsgeschichte - aber er schloss insofern nahtlos an die Lieben Sophies an, als er ihr den weiteren Zugang zur literarischen und allseitigen Bildung ermöglichte - eine große Chance.

Die Ehe führte Sophie zudem in höfische Kreise. La Roche war der Vertraute und Sekretär des Grafen Stadion, und dieser wiederum war der erste Minister am Hof des Kurfürsten Emmerich von Mainz. Schon als Vierjähriger war Georg Michael Frank, das 13. Kind eines vermögenslosen Chirurgen, vom Grafen Stadion an Kindes statt angenommen worden. Der Graf ließ ihn erziehen und zum Verwaltungsbeamten und Staatsmann ausbilden. Stadion war Vertreter einer reformerischen Aufklärung, und La Roche folgte ihm begeistert und in Dankbarkeit. Stadion war entschieden antikirchlich eingestellt; vor allem sah er in der Macht der Orden eine Beschränkung der landesherrlichen Rechte. Er war mit Voltaire bekannt, kritisierte den Katholizismus als Aberglauben und den Klerus als gefährlich. Männer mit solchen Ideen hingen besonders vom Wohlwollen des Landesfürsten ab und hatten eine riskante Position.

Wie ihr Mann gehörte Sophie nun zum Haushalt des Grafen Stadion, und ihre Aufgabe war völlig anders als die einer bürgerlichen Hausfrau. Bevor La Roche an seine täglichen Geschäfte ging, legte er ihr Bücher und Zeitschriften heraus und versah sie mit Zeichen; von Sophie erwartete man, dass sie das Gelesene bei Tisch oder auf Spaziergängen mit dem Grafen geistreich einfließen ließ, dass sie Sachverhalte referierte, Stichworte lieferte. Sie lernte englisch, denn La Roche war Spezialist für Englandbeziehungen. So kam Sophie mit der neuesten englischen Literatur in Berührung, was für ihr Schreiben von entscheidender Bedeutung wurde. Die Jahre 1753 bis 1768 verbrachte sie bei Hofe in Mainz und im Stadion'schen Schlösschen in Warthausen. Im benachbarten Bieberach war Wieland Stadtschreiber und bald gern gesehener Gast. Sophie hatte ihre ,Heiratsaufgabe' also hervorragend gelöst. Sie hatte sozusagen Karriere gemacht und sich einen Freiraum für ihren Wunsch nach der Teilhabe an dem Wichtigen in der Welt geschaffen.

Sophie hatte acht Kinder. Fünf überlebten die frühe Kindheit. Ihre älteste war Maximiliane, die spätere Mutter von Bettine und Clemens Brentano. Mutterschaft verband sich damals, zumal im Umkreis des Hofes, nicht mit Mutterpflichten im bürgerlichen Sinn. Es war Sophie untersagt, ihre Kinder selbst zu stillen. Sie wurden vom Gesinde erzogen, nicht von der Mutter. Nur den Jüngsten, ihr Lieblingskind Franz, hat sie selbst stillen dürfen. Aber auch er wurde, wie es üblich war, weitgehend nicht zu Hause erzogen.

Der äußere Lebensweg Sophies war durch die Laufbahn ihres Mannes bestimmt. Den ersten Einbruch in eine einmal erlangte gesellschaftliche Position erlebte sie nach dem Tod des Grafen Stadion im Jahr 1768. Mit einem Schlag sahen sich die La Roches in Warthausen verabschiedet und mit schmalen Bezügen ins ländliche Bönnigheim versetzt. Zunächst konnte niemand ahnen, dass der eigentliche Aufstieg La Roches in den Jahren 1771 bis 1780 noch folgen sollte. Er wurde Minister und Kanzler beim Kurfürsten Clemens Wenzeslaus von Trier. In der Verbannung von Bönnigheim 1770 zeichnete sich jedoch erst einmal nichts dergleichen ab. In jener Zeit der Unsicherheit schrieb Sophie von La Roche das Buch, das sie zu recht berühmt machte.

Zu dieser Zeit war sie vierzig Jahre alt und Mutter von fünf Kindern. Ihr Mann war als Vollstrecker des Stadion'schen Testaments monatelang abwesend. In dieser Situation verfasste sie ihren Roman. Sophie von La Roche hat zwei Seiten ihres Schreibens jener Jahre hervorgehoben: ihre Absicht Vorbildliches zur Mädchenerziehung mitzuteilen und eine Reverie, eine Träumerei zu verfassen. In einer Art Tagtraum werden die Schmerzen gelindert und die Wirklichkeit wird umgestaltet.

Die Roman-Heldin mit dem Namen Sophie wird als natürliches Menschenkind im Sinn Rousseaus vorgestellt. Nach dem Tod der Eltern wird sie von ihren Verwandten bei Hof dem Fürsten vorgeführt - in der Absicht, sie diesem als Mätresse zuzuspielen. Damit wollte ihr Onkel seine Aussichten bei Hofe befördern. Das Thema entspricht der bürgerlichen Empörungsmoral der Zeit. Der Landadel, dem die Sternheim entspringt, vertritt im Roman zugleich das wohlhabende und gebildete Bürgertum, das sich in Deutschland gern als der bessere Adel verstand. Höfische Unmoral steht gegen bürgerliche Tugend, personifiziert in der standhaften Jungfrau. Die weitere Handlungsführung geht jedoch eigene Wege. Eher konventionell, aber auch schön beschrieben ist der Bösewicht Derby, ein englischer Lord, der die Sophie von Sternheim durch Intrigen zu einer vorgetäuschten heimlichen Hochzeit und schließlichen Flucht veranlasst. Die Romanheldin lässt sich - anders als Sophie seinerzeit - tatsächlich entführen, und sie muss dafür büßen, denn der Entführer lässt sie schließlich fallen. Die Ehe war Betrug und damit ist das Mädchen entehrt. Das kannte man schon aus dem englischen Briefroman: Die "Clarissa" des damaligen Erfolgsautores Richardson hatte sensationellen Erfolg gehabt.

Nun das Unkonventionelle: Die Sternheim nimmt sich am Ende nicht das Leben und sie stirbt auch nicht; vielmehr besinnt sie sich auf die eigene Kraft und beginnt mit Erziehungsarbeit in ihrer Umgebung, die von der Autorin ausführlich dargestellt wird. Das allein hätte aber auch das Lesepublikum um 1770 nicht zur Begeisterung getrieben. Es entspinnt sich vielmehr ein buntes Geflecht von Flucht, Verfolgung und Bedrohung durch den lasterhaften Derby. Dagegen stellt die Autorin zwei positive Männerfiguren, die beide als angemessene Heiratskandidaten vorgestellt werden: den älteren melancholischen Lord Rich und den jungen Lord Seymour. Mit Seymour hat es eine besondere Bewandnis: er ist der eigentlich Richtige - aber er versagt im entscheidenden Moment. Statt der bedrohten Sophie beizustehen, will er sich vergewissern, ob sie dem Werben des Fürsten wohl widerstehen wird. Zum Schluss befreit sich die Heldin selbst, und da erst tauchen auch ihre männlichen Retter auf. Sophie reicht Seymour ihre Hand, weil er ihrer am meisten bedarf, und sie schenkt ihr erstes Kind dem Lord Rich an Sohnes statt.

Einiges, was uns heute befremdet, hängt hier mit der Zeitdifferenz zusammen. Einer befreundeten Familie ein Kind zur Adoption oder zur Erziehung zu geben, war im 18. Jahrhundert nichts Besonderes und Heiraten wurden, wie schon gesagt, auf Grund von vernünftigen Erwägungen und nicht im Überschwang eingegangen. Aber auch verglichen mit der Literatur der Zeitgenossen weist die Handlungsführung Besonderheiten auf. Das gilt vor allem für die männliche Hauptrolle. Die Entwicklung von Lord Seymour entspricht nicht dem Aufbau eines männlichen Helden, sondern eher geht es umgekehrt: aus der schwachen Heldin wird die eigentlich Tatkräftige, während der männliche Retter schließlich selbst ihrer Hilfe bedarf.

Für die literarische Kreativität der La Roche wurde es entscheidend, dass sie diese moderne Struktur ihrer Beschreibung von Frau und Mann insofern im Hintergrund beließ, als sie stets pädagogische Bemerkungen einstreute, die das Gegenteil behaupteten: vortrefflich werde die Frau durch Bescheidenheit, hausfrauliche Pflichterfüllung und strikte Tugend - ganz gleich wie sich der Mann verhalte. So enthält die Sternheim durch innere Widersprüche eine starke Spannung, die nicht aufgelöst wird. Eine solche Figurenführung war in der zeitgenössischen Literatur unbekannt. Neu war auch die lebendige Darstellung von tatkräftigem Mitgefühl und praktischer Hilfe so wie die positive Wertung einer "entehrten Frau".

Beziehen wir den Roman auf die Lebenserfahrungen der La Roche, so finden wir wichtige Stationen ihrer Lebenswelt und ihrer Beziehungsgeschichte wieder. Da sind die ewig zögernden Männer wie Wieland, gefährliche Beziehungen wie die zu Bianconi und verantwortungsvoll kameradschaftliche wie zu La Roche. Was Sophie in der Beschreibung ganz ausließ, weil es nicht zum idealisierten Bild der weiblichen Heldin passte, war die Tatsache, dass auch das anmutigste Mädchen irgendwann von den Brüdern, Liebhabern und Freunden vergessen wurde, weil diese Anderes und Aufregenderes unternahmen. Und dass das Allerschlimmste war, arm und damit abhängig zu sein und nichts dagegen unternehmen zu können als die Heirat.

Interessant ist der Vergleich mit den "Leiden des jungen Werthers" (1774): Hier wird das Scheitern eines männlichen Identitätsentwurfs unverhüllt ausgesprochen und es wird für den Unglücklichen das Mitgefühl des Lesers und des Autors mobilisiert. Auch die La Roche schöpfte aus ihrer Lebenserfahrung, auch sie kritisierte das Fassadenhafte des neuen Geschlechterentwurfs. Wie Goethe einen unheldischen Helden zeichnete, so entwarf sie eine tatkräftige Unschuld und schwache Männer. Anders als Goethe vermied sie aber die Eindeutigkeit der Aussage. Sie fühlte sich zu sehr verpflichtet, an der Tradition festzuhalten. Während Goethe nach dem Selbstmord seines literarischen Helden ungerührt zur Lebenswirklichkeit zurückkehrte, blieb für die La Roche das Schreiben ein Muster für reales Sein und Verhalten. Damit beschränkte sie den fiktiven wie den kritischen Impuls. Literatur war für sie noch zu sehr pietistisches Erbauungsbuch, als dass sie ihre originelle Leistung ganz hätte ausschöpfen können.

So steht die Sternheim sozusagen an der Grenze zur großen Literatur des Sturm und Drang, und es verwundert nicht, dass die wichtigen jungen Autoren wie Goethe, Lenz und Herder das Erscheinen dieses Romans als ein großes Ereignis feierten, das dem Lebensgefühl der jungen Generation Ausdruck verlieh. Goethe widmete ihr eine begeisterte Rezension, Herder äußerte sich überaus lobend und Lenz wollte sie gleich kennen lernen.

Das Erscheinen der Sternheim, zunächst anonym herausgegeben von Wieland, wurde ein Sensationserfolg mit drei Auflagen bereits im Erscheinungsjahr und die neue Position von La Roche als Geheimer Rat des Kurfürsten von Trier brachte öffentliche Geltung. Sophie war berühmt; sie hatte eine gesellschaftliche Position und sie hatte Geld und Einfluss. Sie führte nun einen Salon, im dem das literarische Deutschland - Merck, Goethe, Wieland, die Jacobis und viele andere - verkehrten. Sophie publizierte auch in den folgenden Jahren, so "Rosaliens Briefe an ihre Freundin" 1780-81 und "Miss Lony und der schöne Bund" 1789, "Rosalie und Cleberg auf dem Lande" 1791.

Die neuen Tendenzen der Literatur waren aber entweder radikal wie der Sturm und Drang oder sie entwickelten sich in Richtung auf eine autonome Kunst, die niemanden beraten und die schon gar keine Pädagogik vorbringen wollte. Die "Sternheim" war eine Gratwanderung zwischen Rebellion und Resignation gewesen. Der Weg, den Sophie nun literarisch einschlug, entsprach zu sehr den Haltungen der Vergangenheit. Sie entschied sich für einen wenig aufregenden literarischen Gegenstand, eine eher zahme Pädagogik der Mädchenbildung, die sie in Geschichten fasste. Damit blieb sie in der entscheidenden Lebensphase als Schriftstellerin (zwischen vierzig und fünfzig) weit unter ihren Möglichkeiten. Andererseits liebte sie auch den gesellschaftlichen Erfolg - und den hatte sie.

Man darf aber nicht vergessen, dass der gesellschaftliche Druck erheblich war. Sie durfte sich öffentlich nicht als selbstbewusste Autorin und als reflektierte Schriftstellerin zeigen. Vielmehr war verlangt, der Roman solle eine unmittelbare Veröffentlichung einer reinen Seele sein - Sophie selbst sollte also ebenso sanft, fromm und unschuldig schön wie ihre Heldin sein. Noch mehr - es wurde von einer Frau erwartet, dass sie in der Gesellschaft Stichworte lieferte und geistreich zu antworten verstand. Was sie aber auf keinen Fall durfte, war ein heftiges Interesse an einer Sache zu zeigen oder einem anerkannten Mann zu widersprechen. Das galt als Schreckbild der gelehrten Frau.

Über den Lebensstil im Kreis der Empfindsamen im Salon La Roche informiert Goethes "Dichtung und Wahrheit" unnachahmlich. Sophie entwickelte in diesem Rahmen einen eigenen Darstellungsstil, der es ihr erlaubte, die Rollen der Hausherrin und der schreibenden Frau zu vereinbaren. Die Eigenart der Selbstinszenierung war kein persönliches psychisches Problem der La Roche, sondern eine Überlebenstaktik. Das wird im Vergleich zu der ganz anders gearteten gleichaltrigen, ebenfalls ungewöhnlich intelligenten und gebildeten Katharina Elisabeth Goethe deutlich. Sophie spielte in Gesellschaft die empfindsame Seelenvolle, während Katharina das unverbildete Naturkind gab. Die beiden konnten sich nicht ausstehen, und je älter sie wurden, desto starrer und auch altertümlicher wurden die Maskeraden, die ihnen zur Gewohnheit geworden waren.

Das Komische eines solchen Habitus verrät das Problematische dieser Überlebensstrategien. Die Fixierung auf die Erwartungen der Zeitgenossen schränkten die Entwicklung der beiden außergewöhnlichen Frauen ein. Sie blieben zwar im Spiel, konnten sich aber nicht frei entfalten. Katharina E. Goethe zog sich auf das Briefschreiben im Privaten zurück; Sophie von La Roche beschränkte sich zunehmend auf das literarische Erzählen als Mittel zur Erläuterung vorbildlichen Verhaltens.

1780 nahm ihr Leben erneut eine plötzliche Wendung. La Roche schuf sich mit seiner antiklerikalen Politik mächtige Feinde. Er verlor alle Ämter, als der Kurfürst von Trier seinen Kurs änderte. Sein Freund und Ministerkollege Hohenfeld nahm die Familie La Roche in sein Haus in Speyer auf. Typisch ist die Tatkraft Sophies: In Speyer entwarf sie den Plan für die erste deutsche Frauenzeitschrift unter ihrer Leitung. 1783 erschien das erste von 24 Heften ihrer Zeitschrift "Pomona für Teutschlands Töchter". Es war eine Wochenschrift, die die journalistischen Talente der La Roche deutlich zeigt, denn das Konzept enthielt Elemente, die bis heute für die Frauenzeitschriften charakteristisch sind: Betrachtungen über weibliche Erziehung, erfolgreiche Haushaltsführung und Reiseberichte, Mitteilungen und Betrachtungen über Literatur, Kunst und Musik, Außerdem eine große Rubrik für Lesezuschriften, die ausführlich beantwortet wurden. Mit der "Pomona" gab sich zum ersten mal eine Frau als Herausgeberin einer Zeitschrift öffentlich zu erkennen. Das Ansehen Sophies trug zur Verbreitung der Publikationen bei. Sie war international bekannt. 500 Exemplare der "Pomona" orderte und bezahlte die Zarin Katharina von Russland. Und noch etwas Ungewöhnliches geschah: Von Speyer aus begab sich Sophie, nun über 50 Jahre, auf ihre großen Reisen in die Schweiz, die Niederlande, nach Frankreich und England und machte ihrer Leserschaft über ihre umfangreichen Reiseberichte und Tagebücher mit ihren Erlebnissen bekannt. Sie wurde damit zur ersten Reiseschriftstellerin Deutschlands

Als sie von ihrer Englandreise heimkehrte, war La Roche nach Offenbach übersiedelt. Hier hatte er mit Hilfe seines Schwiegersohns Brentano ein Haus in der Domstraße erworben. Er war krank. Zwei Jahre pflegte Sophie ihren Mann nach einem Schlaganfall aufopferungsvoll und treu. Er starb Ende November 1788. Sophie blieb in Offenbach, in ihrer Grillenhütte, wie sie das Haus liebevoll nannte. Es war der Ort, an dem sie sich länger als sonst irgendwo in ihrem Leben aufhielt. Das Schreiben wurde zunehmend auch ein notwendiger Erwerb, denn Sophie fand sich im Alter schlecht gestellt - und das erst recht in den letzten Jahren, nachdem Napoleonische Truppen den Einnahmen der Witwe aus den linksrheinischen Städten Trier und Boppard ein Ende bereiteten.

Nach zwei Jahren hat Sophie die "Pomona" eingestellt. Das ist schade, denn mit einer Frauenbibliothek und Frauenkalendern (mit literarischen Produktionen) wurde von männlichen Herausgebern, so auch von Wieland, viel Geld verdient. Warum Sophie aufgab, ist nicht ganz klar, jedoch passt es zu der allgemeinen Situation, einem der Selbständigkeit von Frauen feindlichen Umfeld. Es kam jedoch hinzu, dass Sophie sich isoliert fühlte. Mit Goethe, Schiller, selbst mit Wieland ließ sich kein Arbeitsbund mehr herstellen. In ihren letzten Lebensjahren hat sich Sophie weiter mit der Literatur befasst und geschrieben, zugleich aber vier Mädchen, die Kinder der früh verstorbenen Tochter Maxe Brentano in die Grillenhütte aufgenommen: Kunigunde, Bettine, Lulu und Meline liebten die Großmutter, das Häuschen, den wilden Garten und die Freiheit, die ihnen gewährt wurde.

In den ersten Tagen des Februar 1807 wurde Sophie von La Roche krank und starb in ihrem sechsundsiebzigsten Lebensjahr. Zu Recht ist von den Zeitgenossen hervorgehoben worden, dass sie sowohl über die Fähigkeit zu schwärmerischer Begeisterung als auch über Nüchternheit und Tatkraft verfügte. In ihrem Schreiben ist das schwierige Streben nach Selbstbehauptung ein immer wiederkehrendes Thema geblieben.