Schizo und mittendrin

Judith Mair und Silke Becker praktizieren die postmoderne Taktik des 'So-tuns-als-ob'

Von Sandra KluweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Kluwe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir leben in einer Zeit des Etikettenschwindels. Wer modisch 'in' sein will, trägt den lässigen 'casual look', kauft Jeans mit 'used'-Effekt, die abgetragen und ausgewaschen wirken, ohne es zu sein, und verwendet viel Mühe darauf, sich die Haare zum unfrisiert wirkenden 'out-of-bed-Effekt' zu stylen. Der Tatbestand einer Entlassung wird unter den schönfärberischen Etiketten der 'Freistellung', 'Aussanierung', 'Umstrukturierung' oder 'Verschlankung' verkauft; die gewerbliche Verlagerung in Niedriglohnländer nennt man "Smart-Sourcing" - kurz: Das Marketing und seine rhetorischen Tricks dienen der postmodernen Universalökonomie als "Instrument der sozialen Kontrolle".

Das funktioniert aber nur deswegen so gut, weil der Kulturbegriff und das Wirtschaftsprinzip austauschbar geworden sind, wie Josef Beuys bereits 1978 erkannte: "culture meets capitalism". Die Ökonomisierung der Politik ist in dieser Formel selbstverständlich mitgemeint. Dass der Palast der Republik, das alte DDR-Staatsgebäude, beinahe in einen 'Nike-Palace' verwandelt worden wäre, dass die Mitgliedskarte der SPD Eigentum der IMAGE Ident Marketing GmbH ist und Shopping-Bonuspunkte für Autos, Computer, wertvolle Bucheditionen, Investment, Kino und so weiter. enthält, derlei löst inzwischen ja kaum noch ein Schulterzucken aus. Oder doch?

Es gab und gibt verschiedene Formen des Widerstands gegen die universale Vermarktung. Die von Mair und Becker propagierte Strategie ist eine dialektisch-ironische: Was die beiden dem ubiquitären 'fake for real' entgegensetzen, ist nicht Authentizität, sondern ein potenziertes 'fake for real', das mitspielt, statt zu streiken, aber auf der Metaebene ein ganz anderes Spiel vorbereitet. Das 'falsche Selbst', so könnte man mit Winnicott sagen, schafft Freiraum für das 'wahre Selbst', aber nicht im Rahmen eines unbewussten Schutzmechanismus', sondern strategisch gewieft. Alles andere, so die Autorinnen, griffe angesichts der neokapitalistischen Taktik des 'Erstickens durch Umarmung' entschieden zu kurz.

Denn eben jene Authentizität, die im Kampf gegen die "marketingtechnische Inszenierungsmaschine" auf den Plan gerufen wurde, ist als käuflich erwerbbares Image längst wieder Bestandteil des Marketings geworden. Dies gilt nach Ansicht der Autorinnen nicht nur für Authentizität, sondern für jede Form der Systemkritik oder Rebellion: Parkas mit RAF-Logo, Hammer-Sichel-Schweißbänder und T-Shirts mit Prada-Meinhof-Schriftzug sind der real existierende Beweis für die Assimilation revolutionär gemeinter Symbole, die sich, "sauber entkernt und saniert", als Life-Style-Pep wiederfinden: 'No Logo!' wird zum Logo; der "Fake-Rebell geht um."

Im Bereich der Unternehmensführung kennt man ein solches 'Ersticken durch Umarmung' aus pseudodemokratischen Feedback-Ritualen und Mitarbeitergesprächen: Unter Anwendung der 'VW-Regel' kann destruktiv Gemeintem der Zahn gezogen werden, indem man es konstruktiv umdeutet und den Vorwurf in einen Wunsch verwandelt ('Das ist doch ein ganz mieser Laden hier!' - 'Sie haben offenbar den Wunsch, diesen ganz miesen Laden hier zu verbessern? Machen Sie doch mal einen Vorschlag, ich bin sehr an Ihrer konstruktiven Kritik interessiert!'). Bleibt die Einsicht: "Wer heute als Kritiker, Rebell, Querulant oder Störenfried von sich reden macht, muss damit rechnen, noch ehe er sich versieht, zum Impulsgeber und Ideenlieferant des Systems zu werden, gegen das er sich richtet."

Dies haben die Revolutionäre von einst bis heute nicht kapiert: Wer als junggebliebener Alt-68er in Sneakers einhertänzelt, ohne etwas über die Branding-Techniken von Nike und die frühkapitalistischen Produktionsbedingungen in den Exportproduktionszonen Manilas zu wissen, hat das Update in Konsumkritik verschlafen und die politische Vorbildfunktion verspielt, meinen die Autorinnen.

Wie aber kommt es, dass nicht nur die 68er, sondern die große Mehrheit, der viel geschmähte 'Mainstream', den Tricks des Marketings und der neoliberalen Managementmythen auf den Leim geht? Das ist keine primär ökonomische, sondern eine psychosoziale Frage, und sie führt auf die schon von Christopher Lasch gestellte Diagnose einer kollektiven narzisstischen Störung - die freilich vom Marketing genährt wird: Für die Menschen der Postmoderne scheint die "Aufmerksamkeitsökonomie" via Medienpräsenz, Handyklingeltonfrequenz und Google-Notierung an die Stelle des intrinsischen Selbst(wert)gefühls getreten zu sein: Stehst du auf der ,hotornot.com-Liste' ganz oben, brauchst du kein Ich-Ideal mehr, erst recht kein selbstgezimmertes: Schein rangiert vor Sein, Fremdrepräsentanz vor Selbstrepräsentanz, Image vor Substanz.

Dieses Schielen nach dem Glanz im Auge des Anderen als pathologisch einzustufen, halten die Autorinnen allerdings für unterkomplex: Den Glauben an ein 'wahres', inszenierungsfreies Selbst nennen sie ein "gut florierendes Gerücht" und stellen statt dessen die konstruktivistische Frage nach der postmodernen "Polyphrenie" (Wolfgang Welsch): "Wer bin ich und wenn ja wie viele?" Oder drastischer: "Scheiße, die Welt ist schizophren und wir sind alle mittendrin". Und dagegen, so Mair und Becker, hilft nichts, als den Anspruch auf Identität und In-Dividualität gegen ein 'fake for real' einzutauschen. Notgedrungen, aber keinesfalls fatalistisch, denn der Als-ob-Modus steht für die "Kategorie der Tat", und zwar der subversiven: Gezielte Falschmeldungen, entstellte Gesprächsprotokolle und erfundene Berichte, Spionage, PR-Kampagnen mit falschem Absender, fiktive Wahlplakate und Rundschreiben mit gefälschtem Briefkopf sollen "als Steinchen im Getriebe der wirtschaftspolitischen Mediokratie" dienen.

Die Autorinnen begnügen sich also nicht damit, das Marketing kultursemiotisch zu dekonstruieren, sondern sie basteln an einem - hier und da halbkriminellen - "De-Marketing", das die Macht von Werbung und Medien mit ihren eigenen Waffen schlägt: Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht. Aber die ,fake-for-real'-Guerrila zeigt ihre Zähne nicht, sie tarnt sich systemkonform, und erst, wenn sie mitten im Vorstand sitzt, lässt sie ihre metaphorische Bombe hochgehen.

Das ist unmoralisch. Aber schon der 'junge Genosse' aus Brechts 'Maßnahme' ging im Kampf gegen die Unterdrücker unter, weil er nicht simulieren konnte. Besteht das 'Gutsein' heute vielleicht gerade darin, den 'moralischen Narzissmus' (André Green), der auf makellose Integrität hält und damit nichts als sein masochistisches Scheitern erreicht, zu opfern und statt dessen die hässliche Tarnkappe des miesen Schweins auf sich zu nehmen, mit der sich erfolgreich(er) rebellieren lässt?

Diese Frage wird von den Autorinnen eindeutig bejaht; etwas zu leichtsinnig wohl. Schließlich kann der Balanceakt zwischen strategischer Camouflage und unbewusster Angleichung auch als Freibrief dienen, um sich unmerklich mit genau den Privilegien des Feindbilds auszustatten, die ein verdrängter Neid als die hassenswertesten liebt. Aber wie auch immer man die Strategie einer paradoxen Intervention qua Fake bewerten wird: Das Rezept dafür liefert Beckers und Mairs Buch in mustergültiger Weise. Judith Mair, eine 33jährige Diplomdesignerin mit eigener Agentur, die bereits in ihrem Buch "Schluss mit lustig!" (2002) den faulen Zauber hinter den Etiketten unserer schönen neuen Arbeitswelt entlarvt hat, und Silke Becker, PR-Beraterin und freie Autorin, kennen, wovon sie schreiben, nicht nur aus eigener Erfahrung - sie schreiben auch genau so. Das fängt bei den Anglizismen an ('fake for real'; besonders hübsch in der Ableitung 'der Fakende'), geht weiter mit dem Cover (in einer Farbe, die hart an den monopolisierten Panther der Telekom grenzt), dem Marketingjargon ("Musthave", "briefing"), den Zitaten, die als eyecatcher in grau unterlegten Blöcken präsentiert werden (wobei auf Seitenangaben grundsätzlich verzichtet wird), und hört bei allerhand coolen Sprüchen auf, die eindeutig belegen, dass die Autorinnen überaus talky und trendy sind, die Schlüsselqualifikationen der Kommunikationsgesellschaft voll drauf haben und im "survival of the hippest" "ganz vorne mit dabei" sind (wie eine der Lieblingsfloskeln des Buches lautet).

Setzt man das 'fake-for-real'-Prinzip absolut, ergibt sich daraus natürlich ein performativer Widerspruch: Das Buch ist geschrieben, als meinte es die Aussage, dass heute nichts mehr ernst gemeint werden kann, nicht ernst. Jedenfalls wird keineswegs immer deutlich, wo die Identifikation aufhört und die Abgrenzung beginnt: Der kritisch-reflexive Seiltanz auf der Metaebene droht hier und da auf die Objektebene abzustürzen.

An anderen Stellen geht die nüchterne Abgeklärtheit in übersättigte Blasiertheit über und macht die Allianz mit der Dekadenz eines Oscar Wilde perfekt ("Die erste Pflicht im Leben ist die, so künstlich wie möglich zu sein"). Allerdings sollte man diese etwas süffisante Superschläue ruhig hinnehmen, denn wenn etwas an diesem Buch nichts mit 'fake for real' zu tun hat, so ist es die zeitdiagnostische Intelligenz seiner Autorinnen.


Titelbild

Judith Mair / Silke Becker: Fake for Real. Über die private und politische Taktik des So-tun-als-ob.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
285 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 359337675X

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