Ein beweglicher Ort der Moderne

Andreas Bernards "Geschichte des Fahrstuhls"

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von den unzähligen Dingen, die an diesem Buch frappieren, besticht am Schluss vor allem das Understatement. Einen "beweglichen Ort der Moderne" nennt Andreas Bernard den Fahrstuhl bescheiden im Titel, und am Ende spricht er schlicht melancholisch von einem Ort, der dem Menschen das Heimischwerden versage. Understatement prägt auch den Stil. Hier wird elegant und luzide erzählt, ohne sinnlose Spekulationen, ohne manierierte Wortgebinde, ohne akademischen Jargon.

Dabei erweist sich der 37-jährige Kulturwissenschaftler und Journalist Andreas Bernard als Virtuose der "kulturellen Netzwerkanalyse". Den Fahrstuhl, der seit 1854 seinen Siegeszug aus den USA nach Europa antritt, verfolgt er nicht nur mit einem technisch versierten und einem literarisch geschärften Auge, sondern mit dem Facettenauge des panoptischen Historikers. Quellen in immenser Zahl hat er befragt, Hunderte von Geschichten miteinander verknotet: soziologische, technische, medizinische, architektonische, städtebauliche, kameralistische, literarische, etymologische, bildnerische und sogar kirchliche: der Fahrstuhl als Beichtstuhl. Und immer wieder Geschichten von Hotels: das "Waldorf Astoria", das "Adlon", die ersten Luxus-Appartements im 19. Stock und so fort.

Fast alle Geschichten spielen zwischen 1850 und 1930, vorwiegend in Berlin und New York; doch alle werden benutzt, um das Objekt der historischen Begierde zum "paradigmatischen Ort der Moderne" hochzufahren. Und nach oben gehört der Lift ebenso konkret wie symbolisch. Mit der senkrechten Schneise durchs Haus vollzieht er den Duktus des "Breschelegens", dieser vielleicht militantesten Geste der Modernisierung im 19. Jahrhundert. Fünf Aspekte arbeitet Bernard daran heraus; und bei jedem zuckt das Herz des antiquierten europäischen Menschen zusammen.

Wirbelsäule des modernen Hauses

Da ist erstens die schneidende Rationalität des Projekts. Eine Gerade durch den Lebensraum legen heißt in Luftlinien denken. Denn das Leben auf Erden ist ungerade. Von Georg Simmel stammt die Beobachtung, dass die Städte im Lauf der Zeit nach außen hin immer mehr gerade, weil geplantere Straßen erhalten, während die Altstadt ein Gewimmel von krummen Gassen bleibt. Eben diese Szene findet Bernard im Haus seines Untersuchungszeitraumes vor, nur dass der Fahrstuhl mit seinem senkrechten Schacht selten außen bleibt, sondern ins Hausinnere einbricht - wie eine Wirbelsäule in eine Muschel.

Alteuropäisch ist alles verschachtelt; Bernard zitiert Kafkas "Prozess"-Haus. Das Treppenhaus windet sich hoch, auf Absätzen bleibt man stehen, blickt hinauf oder hinunter, kann sich verstecken, ungesehen lauschen und vieles mehr. Im ,ungelifteten' Haus gilt zudem: Je wohlhabender die Gegend, desto beliebter die Bel Etage im ersten Stock - und desto geringer geachtet die oft stickige Dachkammer, die nur mühsam zu erreichen ist. Bernard beschreibt den Umschwung, der im imaginaire sociale mit der Einführung des Fahrstuhls stattfindet: Während ein Felix Krull noch von "erleuchteten Schwebehäuschen" schwärmt, in denen sich flirten lässt, steigt die moderne Gesellschaft wie ein Wetterfrosch im Lift unaufhaltsam nach oben. Licht und Luft im Dachgeschoss entsprechen dem neuen Lebensgefühl, das sich Roof Gardens und Penthouses wünscht.

Das Denken und Bauen in Luftlinien - pardon: Lift-Linien - führt aber auch peinigende Ambivalenzen ein. So zwingt der Lift in seiner technisch ausgereiftesten Form die Menschen zugleich anonym und intim zueinander; und was er an Schwerkraft erspart, kommt als Panik zurück. Ausführlich schildert Bernard die Ursprungsgeschichte des Fahrstuhls. Als der Erfinder Elisha Graves Otis sein Werk 1854 öffentlich vorführt, ist es nicht die reine Hebeleistung, welche die Menschen begeistert (Lastzüge hatte es etwa im Bergbau schon früher gegeben); vielmehr ist es die Fangvorrichtung beim Abwärtsfahren. Otis lässt sich hochziehen, schneidet das Seil durch, aber siehe, die Plattform bleibt im Gerüst einfach hängen. Sie stürzt nicht ab.

Abstürzen und Steckenbleiben

Es hat einen anthropologischen Sinn, dass diese Vorführung schließlich zur Ursprungsszene erklärt wurde und zur Verbreitung angeregt hat. Sie versprach Sicherheit und, paradoxerweise, eine verhinderte Abfahrt. Ähnlich wie der aufrecht Gehende ständig in Sorge um seinen Fall ist, wünscht man sich eben keinen Absturz im Haus. Noch heute fahren viele Menschen zwar gern hinauf, gehen aber lieber zu Fuß hinunter. Natürlich gibt es auch die Angst vor dem Steckenbleiben - Louis Malles "Fahrstuhl zum Schafott" hat dazu die Kino-Geschichte geschrieben. Und überhaupt erzeugt der Lift dann doch eine Kette von Unfällen, die jeweils die Technik weitertreiben. Das Gerät produziert ähnlich neurasthenische Ängste wie die Eisenbahn; ja, der Schacht ist de facto ein ins Wohnhaus und senkrecht verlegtes Gleis. Auch hier drängt also das Anonyme hinein ins Intime.

Gelöst wird die Ambivalenz mit immer mehr Sachlichkeit. Indem die nummerierten Druckknöpfe eingeführt werden - eine der schönen Abschweifungen des Buches gilt ihnen -, werden die Stockwerke quantifiziert. Sie bilden nun Schichten, die einander mehr oder weniger fremd sind. Das Haus als familiäre Einheit verschwindet aus dem Gedächtnis.

Wie der Lift die morsche Lebenswelt um 1900 auch symbolisch aus den Angeln hebt, bildet den dritten, höchst plausiblen Aspekt des Buches. Die rationale Idee, gerade Linien dort zu legen, wo bisher krumme waren, geht ja auch mit Geschwindigkeitsräuschen einher. Vermutlich waren die ersten Wettrennen, später Pferderennen, hier die Ideengeber. Die Idee der "Karriere" wurde zum "Weg nach oben". Und diesen Weg zu motorisieren, verhalf dem Lift zu ungeahnter Semantik. Jedenfalls im Büro-Hochhaus, wo die Chefetage nach oben wandert und immer weitere Aussichten bietet. Gleichzeitig wird das Wohn-Hochhaus zum urbanen Bienenstock: für die "einsame Masse" des Mittelstandes in den USA, für die Proletarier in Deutschland.

Der Fahrstuhl verleiht Flügel

Die utopische Verheißung des Fahrstuhls als Sieg über die Schwerkraft kann im imaginären Haushalt kaum überschätzt werden. Der Lift ist von Beginn an eine archaische Wunscherfüllung, doch eine anthropologisch bedrohliche. Denn er ist eben kein Flugzeug, will dessen Imitation des Vogels nicht mitmachen. Schlagend ist Bernards Beobachtung vom Zusammenhang zwischen Tiefen- und Höheneroberung. Je tiefer der Bergbau, desto höher die Hochhäuser und die Reichweite der Lifte. Letztlich zielt diese Bewegung auf den Austritt aus der irdischen Atmosphäre; schon spekuliert man über die Möglichkeit eines Lifts ins Weltall hinein. Hier kommt ein apokalyptischer Grenzwert zur Sprache, den Bernard nicht weiter ausführt, aber dem Leser andeutet - wie etwa auch das Desaster der Türme des World Trade Centers, von denen er gleichfalls nicht ausdrücklich spricht.

Unmöglich, die Fülle der Anregungen und Beobachtungen, geistreichen Brückenschläge und Folgerungen hier einzeln zu würdigen, das riesige Sozialpanorama, den Schatz an Anekdoten und Gestalten: Warum Zar Nikolaus nicht im Fahrstuhl fuhr; warum Chruschtschow in einem steckenblieb; die Geschichte des Fahrstuhlführers; das Wettwachsen der Hochhäuser. Legt man Bernards Buch an die Messlatte, die Peter Burke vor kurzem für kulturhistorische Studien vorgegeben hat, fällt an dieser ein erstaunliches Manko auf. Nahezu alles wird in Burkes "Was ist Kulturgeschichte?" als Thema der Kulturforschung erwähnt - von der Kunst bis zur Wirtschaft, vom Körper bis zur Religion. Nur nicht die Technik. Offenbar sind Studien zur kulturellen Technikfolge bisher nicht gesponsert worden oder haben keine geeigneten Köpfe gefunden.

Andreas Bernards Buch (das aus einer Dissertation entstand) gehört in eine Gruppe von materialistischen Studien, wie sie zuletzt Werner Mitterauer in seinem Band "Warum Europa?" vorgelegt hat. Mitterauer konnte schlüssig zeigen, dass nahezu alle Fortschritte seit dem Mittelalter auf die Einführung von Roggen- und Haferanbau zurückgehen. Diese Agrarwende erzeugte neue Technologien und soziale Umbauten. So auch hier. Stück für Stück erläutert Bernard das ganze Entfremdungstheater der modernen Gesellschaft aus einem einzigen, genial gewählten Gesichtspunkt.

Auf diese Weise kann uns ein Fach wie Kulturwissenschaft überzeugen: nicht mit einem Tagungsband nach dem anderen, sondern mit einer Studie wie aus einem Guss. Dass der Verlag dieses Meisterstück in ein Taschenbuch mit zwei Bildchen zwängt, ist ein Jammer.

Titelbild

Andreas Bernard: Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
336 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-10: 3596173485

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