Selbst das Nägelschneiden Poesie

Ein Gedichtband anlässlich Georg Maurers 100. Geburtstag

Von Tobias AmslingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Amslinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Gehminuten ist das Leipziger Rosental von der Wohnung des Rezensenten entfernt. Hier, inmitten dicht besiedelter Wohngebiete, schließt der Wald eine Grünfläche ein. Hunde jagen hinter Stöcken her, Mütter und Väter schieben Kinderwagen oder besuchen mit ihrer Familie den nahen Zoo. Ein Stück gemachte Natur, das einen jedes Mal aufs Neue verblüfft: wie sich der Blick in die Weite öffnet, nach all den Häusern nichts mehr sichtbar ist als Wiese und Wald. Vielleicht empfand der Lyriker Georg Maurer ähnlich, als er an diesem Ort Zeilen wie diese verfasste: "Streckt euch, Zweige, erwacht! / Ich habe ein Ei gegessen und weißes Brot. / Mein ganzer Leib lacht. / Die Nachtsorgen sind tot."

Der Dichter dieser optimistischen Verse aus dem "Dreistrophenkalender" - ein Verkaufsschlager in der DDR - verharrte jedoch keineswegs in froher Baumbetrachtung; er war sich ebenso über die elementare Gewalt der Natur im Klaren: die Bäume im Rosental neigten sich kürzlich so bedrohlich im Sturm, dass die wenigen verbliebenen Spaziergänger fluchtartig ihre Wohnungen aufsuchten. Maurer schrieb vor Jahrzehnten: "Du lachst zwar, wenn dir der Sturm / die Mütze absetzt, / aber wenn er die Dächer abhebt / und kirchturmhoch / unter seiner Achsel dich mitnimmt, / merkst du, daß der Sturm etwas ist - über dir".

In Leipzig gibt es eine Georg-Maurer-Straße, eine Georg-Maurer-Bibliothek, und anlässlich des 100. Geburtstages am 11. März enthüllte der Bürgermeister der Stadt eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus Maurers. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der große, 1971 gestorbene Dichter weitestgehend vergessen ist - im Gegenteil: es macht umso deutlicher, wie sehr sein Rang auf den einer Lokalgröße beschränkt wird.

Damit steht Maurer nicht alleine da. Zahllose, in der DDR bekannte Autoren mit hohen Auflagen werden heute kaum noch gelesen. Und in vielen Fällen muss man sagen: mit Recht. Doch im Gegensatz zu den Dichtern, deren Werk nicht mehr als versifizierte Parteipropaganda war, schöpfte Maurer aus einer anderen poetischen Quelle. Zwar lasen Generationen von Schülern und Studenten sein Gedicht "Der Schreitbagger" als platte Hymne auf den Fortschritt - aber die ideologische Vereinnahmung einiger Texte kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der größere Teil seines Werks nicht von marxistischen Schematismen geprägt ist. Entscheidend ist vielmehr Maurers elementarer Bezug zur Sprache, zur Natur und zur Menschheit überhaupt. Ein "naiv angeschautes quadratmetergroßes Stück Erde", kann nach seiner Überzeugung zu mehr "Weltschau" führen als alle Versuche, "die bewußte weltanschauliche Aussage zu forcieren."

Maurers dichterische Fähigkeit liegt darin begründet, wirklich alles - selbst das Fingernägelschneiden - poetisch nutzbar zu machen ("wenn aus Horn die Sichelmonde / bleich durchs Badezimmer fliegen"). Seine umfassende Kenntnis der Literaturgeschichte und sein ausgeprägtes Gespür für den Versbau machten ihn auch zu dem Lehrer, der als künstlerischer Professor am Institut für Literatur "Johannes R. Becher" entscheidend die Entwicklung so unterschiedlicher Autorinnen und Autoren wie Sarah Kirsch, Volker Braun oder Adolf Endler beeinflusste: "Es hatte sich herumgesprochen, daß hier einer wirkte, dem es um die Sache der Lyrik insgesamt ging, um die Mehrung der poetischen Potenz seiner Gesellschaft." (Franz Fühmann)

Nachdem Ausgaben mit Maurer-Texten jahrelang vergriffen waren, ist es nun dem Verleger Peter Hinke und Eva Maurer, der Herausgeberin und Witwe des Autors, zu verdanken, dass anlässlich Maurers 100. Geburtstag eine Auswahl seiner Gedichte der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht wird. Das in der 2006 von der Stiftung Buchkunst ausgezeichneten "Edition Wörtersee" erschienene Bändchen versammelt wichtige Teile des Werks. Die Anordnung der Gedichte folgt keiner streng-wissenschaftlichen Chronologie; hier wird kein toter Dichter musealisiert - vielmehr stellt der Band die Lebendigkeit der Gedichte heraus, lädt zum Lesen ein. Sein Titel - "Ich sitz im Weltall auf einer Bank im Rosental" - ist gut gewählt: der Dichter sitzt im Park. Aber sein Wort klingt im Weltall, nimmt alle Welt in sich auf: "Noch bin ich der Nistplatz, / wo sich paart, was von innen, / was von außen kommt."

So, wie sich der Wald im Rosental zu einer weiten Fläche öffnet, so öffnen die Gedichte Maurers die Welt zur Poesie. Diese Gedichte interessieren sich für das, was überdauert - deswegen überdauern sie. Beim Spazieren lesen wir, die Enkel: "Bäume im Rosental! Ihr überlebt mich. / Aber ich hab euch genannt. Und findet ein Enkel / im Antiquariat einen Band, holzfrei, / so findet er das Holz, wo ich wandelte - / und geht meine Wege."


Titelbild

Georg Maurer: Ich sitz im Weltall auf einer Bank im Rosental. Gedichte.
Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke, Leipzig 2007.
96 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 3937799222

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch