Die Poesie der Wirklichkeit

Michael Roes erzählt vom heutigen Arabien zwischen Moderne und Vergangenheit

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Roes gilt als "Monomane der deutschen Gegenwartsliteratur" (Die Zeit). 1996 veröffentlichte er sein vielbeachteten Romanessay "Leeres Viertel", dann wurde es um ihn - trotz anhaltender Rezeption neuerer Schriften im Großfeuilleton - etwas stiller. Nun kündigt der Berliner Parthas-Verlag eine Werkausgabe der Schriften des 46-jährigen an - und stoppte sie nach Erscheinen des dritten Bandes auch gleich wieder.

Das ist bedauerlich, schließlich sollten nicht nur die älteren Schriften, die in kleinen Auflagen beim ebenso umtriebigen wie anspruchsvollen Gatza-Verlag herausgekommen waren, wieder aufgelegt werden. Die Werkausgabe begann mit zwei Neuerscheinungen, die ältere Stoffe verarbeiten. Da ist zum Einen "Nah Inverness", in dem die Dreharbeiten zu Macbeth, adaptiert mit jemenitischen Laiendarstellern in der größten Sandwüste der Erde, dargestellt werden. Michael Roes hat 2002 selbst solch eine Macbeth-Version im Jemen gedreht. Das Buch ist aber beileibe nicht einfach ein Tagebuchprotokoll - dafür ist Roes zu anspruchsvoll, dafür reizt ihn die poetische Gestaltung der Wirklichkeit zu sehr. Vielmehr setzt er die Aufzeichnungen des monomantischen amerikanischen Regisseurs Hal Dumblatt gegen diejenigen des jemenitischen Dolmetschers Achmed ab, der in seinen 'Berichten' zugleich als Spitzel des jemenitschen Geheimdienstes fungiert. Das polyperspektivische Vexierspiel hat Roes wiederholt erprobt, selten hat er es so souverän eingesetzt: die gelegentlich manierierte Erzählweise der früheren Bücher ist einer erzählerischen Plastizität gewichen. Roes führt den Diskurs der amerikanischen Sichtweise parallel zu dem der jemenitischen und kennzeichnet kulturelle Missverständnisse und Unterschiede, ohne darauf besonders hinweisen zu müssen. Was in der jemenitischen Kultur als unaussprechlich gilt (zum Beispiel Homosexualität), kann auch in den Spitzelberichten nicht erwähnt werden. So aber fehlt den Berichten, was das Tagebuch des Regisseurs enthüllt. Aber: auch dieses Tagebuch ist geschrieben in dem Bewusstsein, dass es von einem Spitzel gelesen werden könnte. Ein Inszenierungsprozess ist also jeder verschriftlichten 'Wirklichkeit' vorgängig.

Zum anderen legt Roes mit "Weg nach Timimoun" eine Art 'Seitenstück' seiner multimedialen Produktion vor: als Spielfilm in Algerien von Roes realisiert, erzählt das Buch eine arabische Orestie. Was zunächst erzwungen multikulturell klingt, erscheint in der Lektüre überraschend plausibel: der Ich-Erzähler Laid reist mit seinem Freund Nadir von Algier in seine Geburtsstadt Timimoun irgendwo in den Weiten der Sahara. Noch als Kind war er vor Jahren von der Mutter nach Algier geschickt worden, nachdem sie seinen Vater umgebracht hatte. Die Nachricht von seiner Rückkehr reist ihm in die Wüstenzone voraus: die algerische Bevölkerung erwartet, dass er den Tod des Vaters rächt. Geschickt schachtelt Roes nun Kindheitserinnerungen und die Realität des von Terror und Willkür geprägten Algeriens der Gegenwart ineinander: mehr imaginiert Laid den Mord an der Mutter, als dass er ihn vollzieht. Dagegen setzt Roes auch die auktoriale Schilderung und steigert so die Mehrdimensionalität seines Schreibens noch einmal. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft liegen in Roes' Erzählung nebeneinander, ebenso wie arabische Gastfreundschaft und Polizeiwillkür, wie Zivilisation der Hauptstadt und Rauheit der Provinz. Indem Roes die Orestie des Aischylos als Erzählmuster einführt, gelingt ihm eine poetische Bändigung der algerischen Wirklichkeit - unpathetischer als in seinem bisherigen Schreiben, aber unnachgiebig im Anspruch, Wirklichkeit in all ihren Facettenreichtum darzustellen.


Titelbild

Nah Inverness. Roman.
Parthas Verlag, Berlin 2004.
241 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 3936324166

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Michael Roes: Weg nach Timimoun. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2006.
176 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3882218649

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch