Viel satirische Fantasie, wenig stilistische Finesse

Gynter Mödders Gulliveriade karikiert die Überalterung, die Wissenschaften und einiges mehr

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Gulliver-Prinzip des Reisens in verrückte Welten ist ein recht simples poetisches Rezept: Man reiht Episoden aneinander, in denen ein Reisender gesellschaftlichen Missständen in hyperbolischer Form an fantastischen Orten begegnet. Wenn Homers "Odyssee" als abenteuerreiche Irrfahrt und Heimkehr die Blaupause für die Geschichte der Reiseepik schuf, so liefert Swifts satirischer Bericht von fremden Unsitten ein häufig adaptiertes Modell für gesellschaftskritische Attacken auf reale Verhältnisse. Die Gattung der Gulliveriade ist nun vom Arzt und Hobbyautor Gynter Mödder um ein weiteres Exemplar bereichert worden. Der Kölner Medizinprofessor ist Autor zahlreicher Fachbücher und einiger belletristischer Versuche. Mit der im Untertitel angekündigten 'Tyrannei der Alten' trifft er ein Thema, das seit der Erstveröffentlichung dieses Romans 2005 an Aktualität eher noch gewonnen haben dürfte angesichts der demografischen Lage und der breiten Debatten über Probleme einer alternden Gesellschaft.

Es ist eine durchaus gelungene, drastische Dystopie einer Gesellschaft aus wenigen arbeitenden Jungen und allzu vielen mächtigen Alten, die er beschreibt. Doch nicht nur dies: Das satirische Temperament und die Fabulierlust des Autors machen nämlich vor kaum einem Gemeinplatz zwischen Stammtisch und Wissenschaftsnachrichten halt. Sein erzählender Gulliver wird vom weisen, abgedankten Ex-Politiker Munodi über absurde verkehrspolitische Maßnahmen und korrupte Verwaltungen unterrichtet. Er kritisiert Manager, die Personal entlassen, um Unternehmensgewinne zu steigern. Und er attackiert die verfilzte Wirtschaft des Landes Balnibarbi, die von der Balnibarbarenbank kontrolliert wird - in Zeiten des Rückbaus der Deutschland-AG und des globalisierten Finanzkapitalismus ist diese Wirtschaftssatire womöglich nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Die völlig überteuerten, durch eine Art Haussklavenarbeit zu bezahlenden Mini-Mietwohnungen werden ebenso zum Thema wie ein vegetarisches Restaurant, in dem der Fleischhunger Gullivers didaktisch mit dem Angebot einer Mahlzeit aus Menschenfleisch therapiert wird. Der steuergierige Staat versucht gar, eine Haustiersteuer auf Kakerlaken einzutreiben.

Heftiger und deftiger wird die satirisch Verve, wenn sie sich gegen moderne Musik oder moderne Kunst richtet. Ein berühmter, alter Künstler drückt sich höchst erfolgreich mit Exkrementen aus. Die Fäkalsatire aus der Kunstwelt findet ihr Pendant in der Wissenschaftsparodie. In Balnibarbi ist nämlich die Flatologie, mithin die Erforschung der Fürze, die wichtigste Wissenschaftsdisziplin. Diesen Einfall mag man als lustige Chiffre für eine Wissenschaftswelt bewundern, die sich methodisch und terminologisch aufbläht und die vom publizistischen Windmachen geprägt ist - oder die einem frustrierten Kritiker einfach stinkt. Man kann sich freilich auch über diese insistenten analen Leitmotive wundern, die man eher von Pennälerautoren als von Professoren im Pensionsalter erwartet.

Gulliver kann sich kaum an die landesübliche Sitte des Begrüßungsfurzes gewöhnen. Die Flatologie ist geteilt in eine praktische Flatologie unter Dr. Flautuphilus und eine theoretische Flatologie unter Dr. Crepitus, die natürlich heftig konkurrieren. Gulliver weiß Abhilfe für ein Zentralproblem der Furzforschung; diese leidet an einer unterkomplexen Sprache, die den mannigfaltigen Feinheiten der Düfte und Gestanksnuancen nicht gewachsen ist. Der Erzähler schlägt als avancierte, technisch objektive Methode die chemische Analyse der Düfte mittels des Gaschromatographen vor. Diese bahnbrechende Idee wird ihm vom strebsamen Nachwuchswissenschaftler Culero gestohlen. Der gibt sie als sein eigenes Projekt aus und beschafft sich die erforderlichen Geräte von der BFG (Balnibarbi Forschungs Gemeinschaft), deren Gutachter er ist. Die weltbildliche Bedeutung der Blähung wird inszeniert, wenn ein Theologe auf dem monumentalen Flatologen-Kongress die Erdentstehung aus dem Urknall als Furz Gottes expliziert.

Mödders neuer Gulliver behauptet übrigens als Erzählerfigur, zugleich der bald 300 Jahre alte reisende Vorgänger zu sein. Er begegnet im Buch seinem Autor Swift und streitet mit ihm in der Manier Pirandellos und Unamunos über die Urheberschaft seiner Geschichte. Die neue Gulliveriade knüpft in einigen Passagen direkt an Swifts "Gulliver" an, aus dem gelegentlich auch einige Zeilen zitiert werden. Die Wissenschaftssatire Swifts anlässlich Gullivers Reise ins Land Laputa mit seinen verrückten Projektemachern und weltfremden Philosophen ist weit weniger Allgemeingut als etwa Gullivers Begegnung mit den Kleinwüchsigen und den Riesen, oder die berühmten widerlichen Yahoos und sympathischen Pferde im vierten Buch. Mödder schreibt Swifts Wissenschaftskritik fort, wenn er dessen Erfinder, der mittels Gurken Sonnenlicht erzeugen will, in den Projekten heutiger Fusionsforschung aufleben lässt. Seine Episode verspottet die zunehmende Ausdifferenzierung der Wissenschaften anhand einer abstrusen und konfliktträchtigen Spezialisierung von Augenärzten für's linke oder für's rechte Auge.

Einen flott geschilderten Horrortrip erlebt der Erzähler, als er sich im Universitätskrankenhaus als Doktorand vorstellen möchte und als vermeintlich todkranker Patient mit furchterregenden Diagnosen und Therapien, die ihn beinahe umbringen, zum willkommenen Anschauungsmaterial für Studenten wird. Zum Trost für den Erzähler (nicht unbedingt für den Leser) lernt er dort eine liebevolle Schwesternschülerin kennen, die ihn treu sorgend durch den Rest des Buches begleitet. In den gemeingefährlichen Verhältnissen des karikierten Krankenhauses führt der Bedarf an Organen und Transplantationen dazu, dass Patienten zur Einwilligung in ihren Hirntod überredet werden. Leicht fällt und nahe liegt auch der Spott über die Chaosforschung. Die Koryphäe, deren Institut sachgemäß im Chaos versinkt, steht zu Hause unter der Fuchtel seiner putzwütigen Frau. Swifts Inseln der Liliputaner und der Riesen werden im übrigen als Folgen von Gen-Manipulationsexperimenten der in der Bonsaitechnik geschulten Japaner retrospektiv neu erklärt.

Diese gesamte Gesellschaft leidet neben ihren verrückten Wissenschaftsmoden vor allem am demografischen Notstand. Ganz wenige junge 'Siebenprozenter', benannt nach dem kleinen Nettosatz, der ihnen nach Abzug der exorbitanten Sozialabgaben in der überalterten Gesellschaft vom Lohn bleibt, versorgen eine Vielzahl von Hundagern, Rentnern weit jenseits der 100 Jahre. Sie werden von den militanten Alten mit demütigenden Ausweisabzeichen und permanenter Überwachung zu rigiden Arbeits- wie Fortpflanzungspflichten gezwungen. Der Generationenkonflikt eskaliert zunehmend, bis sich am Ende ein offener Bürgerkrieg ankündigt. Diese Satire auf eine unschöne überalterte Welt ist einfallsreich und sarkastisch dargeboten und mithin der stärkste Teil des Romans.

Dessen lahmster Teil liegt hingegen in den brav didaktischen Verweisen auf Swifts Leben, nebst dem Raunen von seiner Beziehung zu einer viel jüngeren Frau. Der Erzähler begegnet nämlich in einem Freizeitpark Shakespeare und Swift, mit deren animierten Holografien er 'virtuell real', wie es heißt, kommuniziert. Überhaupt geraten die Passagen über Literatur und Künste oft allzu unbeholfen, gar unfreiwillig komisch. Das Buch endet mit dem Entschluss des Erzählers zur Niederschrift des Buches. Weit weniger elegant als bei Proust klingt die Berufungsszene hier freilich so: "Theatralisch entledigte ich mich des Schlafanzugs, schleuderte ihn dramatisch in eine Ecke und verkündete: hier steht er, der neue Stern am Dichterhimmel von Balnibarbi, nackt wie ein Neugeborener, der Protokolleur der Geschichte dieses Landes und seiner Menschen. Und seiner Zukunft".

Auch der Erzählerfreund Munodi operiert mir einer anachronistischen, latent kitschigen Opposition von Literatur und Wissenschaft, wenn er warnt: "aber zurück zu deinem Buch: vergiss es, wenn du Karriere machen willst. Die andern opfern ihre Familie, opfere du deine Phantasie. Im Reich der Wissenschaft ist sie unseriös, unheimlich. Schriftsteller sind Scharlatane, Spinner, Querdenker, Sprachanarchisten, Künstler im Erfinden von Lügengeschichten, unberechenbar und ewig aufmüpfig. Begrab dein Buch und auch dein Privatleben, es geht sowieso drauf bei der Karriere."

Mödder ist zweifellos besser im Karikieren als im Rühmen. Das gilt nicht nur für sein Lob der Literatur, die hier durchaus auch als Therapie für Gulliver gepriesen wird, der in Balnibarbi nicht im angestammten Medizinerberuf arrivieren kann. Übler noch munden das Pathos und die Attribute, mit denen Gullivers ebenso treue und aufopferungsbereite wie letztlich blasse junge Geliebte geschildert wird. Sie trägt den süßlichen Fantasienamen Glumdalclitch. Wie aus dem Musterbuch altbackener Weiblichkeits-Imaginationen wird dieser hübschen, sanften Heiligen die nymphomane Intrigantin Rabita als bedrohliche Hure und Hexe entgegengestellt. Vor ihr muss der Erzähler auf die Nachbarinsel fliehen. Das sind schwer erträgliche Frauenbilder.

Diese Gulliveriade zeichnet sich durch kabaretthafte Kleinkunst-Komik und wortspielerische Kalauer aus. Die Fuckultät wird vom Ordinaerius geführt; hier dienen auch Unordentliche Professoren und ein akademischer Un-Rat dem Nichtsnutz als alleinigem Zweck der Wissenschaften. Swift ging als Stilist und Wortkünstler in die Literaturgeschichte ein. Das wird man Mödder leider nicht versprechen können - trotz des im Nachwort reichlich gespendeten Lobs durch den Swift-Forscher Herman Josef Real. Auch die Redaktion des Romans, vor allem der Satz der Taschenbuchausgabe, lässt zu wünschen übrig. Schon im Inhaltsverzeichnis stehen Trennungsstriche, wo sie nicht hingehören, im Fließtext gähnen den Leser gelegentlich große weiße Löcher an. Im immer noch nicht überreichlich bestellten Feld deutscher Wissenschaftskomik gebührt dieser satirischen Reise in eine Horrorwelt von Alten, die die Jungen ausquetschen, gleichwohl Respekt als fantasievolle Medizin- und Forschungsparodie. Die smarte erzählerische Baukunst und kritische Treffsicherheit der Campus Novels eines Malcolm Bradbury oder David Lodge oder die herrlich groteske Fantastik von Samuel Shems amerikanischen Medizinsatiren erreicht dieser Roman freilich nicht.


Titelbild

Gynter Mödder: Gullivers fünfte Reise und die Tyrannei der Alten. Roman.
Verlag Landpresse, Weilerswist 2007.
381 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3935221533

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