"Bringt ihn um, den Hund"

Tilman Jens schmäht unseren Klassiker

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich erklärte, daß ich künftig bei der geringsten Beleidigung einem oder dem andern die Augen auskratzen, die Ohren abreißen, wo nicht gar ihn erdrosseln würde." So beschrieb Goethe Jahrzehnte später ein Schulereignis, und Tilman Jens, einer seiner Biographen, zitiert ihn genüßlich: "Daran hat er sich gehalten, als Schulanfänger einen Weg skizziert, dem er fortan unbeirrbar folgte [...]. Doch weh dem, der ihm in die Quere kam, seinen Lebensentwurf, seine Karriere, seine Ordnungsprinzipien durchkreuzte." Und wer ist ihm nicht alles "in die Quere" gekommen, und mit allen hat er mehr oder weniger kurzen Prozeß gemacht: Jakob Michael Reinhold Lenz ("ein verhasster Gegenstand"), Maximilian Klinger ("Klinger drückt mich"), Johann Heinrich Merck ("Bellen eines Hundes"), die Schwester Cornelia ("das erznärrische Schwestergen"), Charlotte von Stein, Herder, Hölderlin und Fichte, Kleist, Oken, Eckermann, seine Frau, sein Sohn August, seine Diener und sogar Schiller.

In einer kurzen Schmähschrift zum Goethejahr fährt Jens einmal kräftig durch die Literaturgeschichte und mischt ein für allemal alles auf. Goethe war ein krasser Egoist, der niemanden neben sich duldete, ist Jens' These, ein Egoist, der seine Karriere über alles stellte, jeden ausnutzte, so gut es eben ging, und der als Minister noch Todesurteile befürwortete, die selbst sein Herzog eigentlich nicht mehr so recht wollte. Seine Mitdichter aber hat er alle weggebissen, mit gemeinen Tricks, mit übler Nachrede, mit polizeilicher Bespitzelung und ministerieller Gewalt, mit seiner olympischen Kälte. Und hinterher hat er immer schön alle Spuren verwischt, die Briefe verbrannt, die Akten verschwinden lassen. Jens hat mit "Goethe und seine Opfer" ein verblüffendes Buch geschrieben, nicht wegen seiner Behauptungen über Goethe - die meisten Fakten sind wohl mehr oder weniger schon länger bekannt gewesen -, wertvoll aufgrund seiner Zusammenfassung: so kompakt hat man das noch nicht gelesen. Seltsam ist der Gestus, von dem Jens sich beherrschen läßt: In einer fast schon hysterischen Enthüllungsorgie hetzt er durch die Belege, die er ohne Nachweis und ohne Fußnoten in seinen Text hineinstellt, und es wimmelt nur so von aufgeregten Ausrufezeichen und als Fragen getarnten Unterstellungen.

Nun gut, es ist eine Schmähschrift, wie der Untertitel festlegt, von der wird man kaum sachliche Ausgewogenheit erwarten können, aber etwas weniger aufgeregt geschrieben, etwas weniger humorlos (bis auf den unfreiwilligen Humor seiner oft kruden Formulierungen und einiger schöner Sarkasmen gegen Ende des Buches), könnte man sein Pamphlet auch weniger erregt lesen. Zudem stimmen auch Jens' Fakten nicht immer, wie vier willkürliche Stichproben ergeben haben.

Trotzdem ist sein Buch ein sehr passender Reflex auf die Feierwut, die Deutschland mit "seinem" Klassiker ergriffen hat, und ein schönes Korrektiv für alle, die nur noch den Sockel sehen, auf dem Goethe steht, und nicht mehr wissen, wie er da hinaufgekommen ist. Er war eben nicht edel, hilfreich und gut, sondern ein Machtmensch, ein gefühlskalter Geheimrat mit einer enormen Angst und Abwehr gegen alles, was seine Harmonie stören könnte. Wie sagte Wieland so schön: Um Goethe sei "soviel Licht und Wärme, als vonnöten ist, um ein paar Eier dabei lind zu sieden." Schreibt Jens.

Titelbild

Tilman Jens: Goethe und seine Opfer. Eine Schmähschrift.
Patmos Verlag, Düsseldorf 1999.
152 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3491724112

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch