Poetisch, anspielungsreich, gewalttätig

Über Davide Longos Roman "Der Steingänger"

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eng sind die Täler, eng auch die Beziehungen in den italienischen Bergdörfern. Alle wissen alles. Aber trotzdem: man redet nicht darüber. Da muss schon etwas ganz Besonderes passieren. Zum Beispiel, dass Cesare seinen alten Freund Fausto in einem Bach findet, tot, erschossen: "Der Körper schaukelte sanft, das Rohr hatte die Beine verschluckt [...]. Die Arme waren an mehreren Stellen gebrochen und unnatürlich nach unten geknickt."

Alles verändert sich, und nichts verändert sich. Die Steine des Gebirges bleiben so hart wie zuvor und auch die Menschen. Natürlich wissen alle, warum Fausto sterben musste: "Jedem das Ende, das er verdient!" sagt die alte Talina. Auch die örtliche Polizei. Aber die ist bei einem Mord nicht zuständig. Und die von außen, wie die Kommissarin, wissen gar nichts. Nicht, warum Cesare "der Franzose" genannt wird, nicht, wer wirklich zu wem gehört, wer schon damals als Schleuser und Schmuggler zusammengearbeitet hat, nicht, wie die Menschen hier leben: schweigsam, abweisend, vorsichtig. Sie beobachten, mischen sich selten ein, und Fremde mögen sie gar nicht.

Aber Fausto war nicht nur ein alter Freund, er war auch der Patensohn von Cesare, der viele Jahre in Frankreich gelebt hat. Als der junge Sergio ihm erzählt, dass sich in einer Hütte in den Bergen eine Gruppe Menschen versteckt, und als Cesare eines Tages nach Hause kommt und seinen Hund Micol aufgeschlitzt und aufgehängt findet, bleibt ihm nichts anderes mehr übrig: Er muss etwas tun, er muss die Leute auf die andere Seite der Grenze bringen - so wie früher.

Davide Longo hat einen erstaunlichen Roman über ein Bergdorf an der französischen Grenze geschrieben. In vielen Andeutungen und sehr atmosphärischen Beschreibungen eröffnet er den Bilderbogen einer kleinen Gesellschaft, die sich im Schweigen eingerichtet hat. Als Cesare eine Frau besucht, wird sanft und gleichzeitig ganz spröde erzählt, wie er sich ihr langsam annähert. Wenig reden sie: ",Du kommst spät', sagte sie ohne Vorwurf in der Stimme. 'Ich weiß.'" Erklärt wird nichts, erzählt wird, skizzenhaft hingeworfen, wie sie ist, wie sie sich begegnen. Und doch, und vielleicht gerade deshalb, ist die kleine Episode, wie die vielen anderen im Roman, schon ein kleiner Roman für sich.

Auch Sergios Geschichte, der sich nachts mit Kumpels trifft, die auch nicht viel reden, und dessen Mutter nach Frankreich geflohen ist, als er noch klein war, wird eher im Vagen gelassen. Nach und nach wird sie fast mehr mitgefühlt als erzählt. Und auch sie entfaltet sich wie von selbst, wird reich und vielfältig, lässt Sergios Sensibilität hervorscheinen, die in all seinen ängstlichen Wörtern steckt. Die zarte, vergebliche Liebesgeschichte zwischen Cesare und der Kommissarin, "deren Augen die Farbe von feuchter Erde hat", Cesares Versuche, in diesem düster gewordenen Dickicht menschenwürdig zu leben, alles wird oft eher gestreift: als wenn sich kleine Fenster in der Sprache öffnen, durch die das Licht des Sinns fällt. Andere Sätze, manche Kapitelschlüsse, harte Schnitte, fallen wie eine Steinfaust vom piemonteser Himmel.

Es ist ein abruptes und doch sehr sanftes, ein anspielungsreiches und im Verschweigen doch deutliches Buch. Es ist, alles in allem, ein kleines, poetisches, zartes und gewalttätiges Meisterwerk.


Titelbild

Davide Longo: Der Steingänger. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Suse Vetterlein.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007.
176 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9783803132086

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