Zwischen Morgengrauen und Tag

Die Feministin Hedwig Dohm erzählt in ihrem Roman "Sibilla Dalmar" vom Leben eines Übergangsgeschöpfes

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Jahrhunderte hinweg und bis in die jüngere Vergangenheit hinein zählte es zu den beliebtesten männlichen Abwehrstrategien weiblicher Autorschaft, die Werke von Schriftstellerinnen autobiografisch zu lesen und ihnen somit implizit - wie natürlich oft genug auch explizit - jede Fähigkeit zur künstlerischen Gestaltung abzusprechen. Denn das eigene Leben aufzuschreiben, dazu gehört ja wohl nicht viel; im Grunde reicht schon die in der Grundschule erlernte Fähigkeit, Buchstaben einigermaßen sinnvoll aneinanderzureihen, so der insinuierte Kurzschluss.

In den 70er- und frühen 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts versuchten Autorinnen der zweiten Frauenbewegung wie etwa Inga Buhmann ("Ich habe mir eine Geschichte geschrieben"), Svende Merian ("Der Tod eines Märchenprinzen") und wohl auch Karin Struck ("Klassenliebe") das Verdikt positiv zu wenden, indem sie dezidiert subjektiv und - wie sie zumindest meinten und anstrebten - ganz ohne künstlerische Gestaltung ihr (Er-)Leben im Patriarchat, in der Klassengesellschaft und in der männlich dominierten Student(inn)enrevolte aufschrieben. Denn dies, so ihr inzwischen längst als naiv erkannter Glaube, verbürge Authentizität. Andere - etwa Verena Stefan mit ihrem Bestseller "Häutungen" - schrieben zwar ebenfalls autobiografisch, versuchten jedoch zugleich eine nicht-sexistische, nicht-patriarchal geprägte Sprache zu entwickeln. Während heute wohl niemand mehr um einer vermeintlichen Authentizität Willen dezidiert 'unkünstlerisch' schreibt, lebt das Ringen um eine neue, nicht-patriarchale Sprache nicht nur in der feministischen Linguistik, sondern auch in literarischen Texten noch immer fort, prominent vertreten etwa durch die Werke von Marlene Streeruwitz.

So wie etliche der Romane der Zweiten Frauenbewegung verstanden werden wollten und von feministischen Aktivistinnen und den damals noch raren Literaturwissenschaftlerinnen auch gelesen wurden, nämlich biografisch-authentisch, wurden auch die wiederentdeckten literarischen Erzeugnisse der Ersten Frauenbewegung interpretiert, namentlich diejenigen von Hedwig Dohm, der je nach Standpunkt als ebenso scharfsinnig wie -züngig geschätzten oder gefürchteten Polemikerin, die zugleich eine von - fast - allen Seiten unterschätzte Literatin war und dies bis heute geblieben ist. Denn gerade für die Rezeption ihrer Werke zeitigt die biografische Lesart fatale Folgen. Dies nicht nur, weil die Protagonistinnen der beiden Romane "Schicksale einer Seele" und "Sibilla Dalmar" durchaus keine rolemodels für kämpferische Feministinnen der Zweiten Frauenbewegung abgeben konnten, da sie nicht einmal für die Zeit, in der sie geschaffen wurden, als solche gedacht waren, sondern von Dohm als 'realistische' Darstellungen begabter Frauen konzipiert wurden, die von den patriarchalischen Verhältnissen zerrieben werden und darin Gabriele Reuters literarischer Tochter "[a]us guter Familie" verwandt sind. Doch wurde Dohms 1896 publizierter Roman "Sibilla Dalmar" bereits unmittelbar nach Erscheinen von Münchens grande monde und dem Publikum insgesamt als biografischer Schlüsselroman über Dohms Tochter Hedwig Dohm-Pringsheim gelesen.

Wie Nikola Müller und Isabel Rohner monieren, besteht die Problematik einer solch (auto-)biografischen Lesart darin, "dass gerade die künstlerischen, gestalterischen Qualitäten des Textes nicht ins Blickfeld geraten, ja förmlich über-lesen werden". Dabei handele es sich bei dem Roman um "ein vielschichtiges Werk mit einem dichten intertextuellen und intermedialen Netz [...] mit einem für die Romankonzeption zentralen Wechselspiel zwischen Inhalt, Form und Stil". Das ist - trotz der einen oder anderen stilistischen und ästhetischen Schwäche des Romans - sicher nicht übertrieben. Eine solche Schwäche zeigt etwa eine Passage, in der Dohm die Ich-Erzählerin erst an einem verarmten Kind vorbeigehen, dann aber umkehren und ihm ein Goldstück in die Hand drücken lässt. "Es entfiel dem halbgeöffneten Händchen und rollte mir nach mit einem so dumpfen eigentümlichen Klang." Dieses gelungene Bild wird im nächsten Satz durch seine Explikation entwertet: "Nein, diese Form der Wohltätigkeit ist gewiss nicht die richtige."

Müller und Rohner ist es zu danken, dass man sich von den literarischen Qualitäten des Romans (dem mittleren der drei Generationen umfassenden Trilogie "Werde, die du bist") wieder leicht selbst überzeugen kann, ohne sich zuvor in abgelegenen Bibliotheken auf die Suche nach den wenigen überlieferten Exemplaren begebenen zu müssen. Denn soeben ist "Sibilla Dalmar" als erster Band der von den beiden Germanistinnen herausgegebenen Werkausgabe Hedwig Dohms erschienen. Unlängst erst hatten sich die beiden Germanistinnen durch die Herausgabe eines Bandes mit "Ausgewählten Texten" von Hedwig Dohm für die editorische Großaufgabe empfohlen (siehe literaturkritik.de 9/2006). Die damals geweckten Erwartungen werden durch den vorliegenden Band nicht enttäuscht. Neben dem Text des Romans, einer Vorbemerkung und einer Einleitung enthält er zwei Selbstanzeigen Hedwig Dohms zur Erstausgabe "Sibilla Dalmars" sowie sechs zeitgenössische Rezensionen, darunter eine aus der Feder der Feministin Helene Stöcker.

Mehr noch als durch die biografischen Lesarten wird dem über weite Strecken als Briefroman verfassten Werk seit einigen Jahrzehnten durch eine kaum anders denn als infam zu nennende Unterstellung jeglicher künstlerische Wert abgesprochen. Peter de Mendelssohn setzte sie 1975 in die Welt. In seiner Thomas-Mann-Biografie "Der Zauberer" behauptet er, Hedwig Dohm - eine, wie der Herr befindet, "im Grunde sehr naive Frau" - habe die "langen und detaillierten Berichte", die sie von ihre Tochter aus München zugesandt bekommen habe, "sorgfältig" aufbewahrt und "alles, was darin über die Münchner Gesellschaft stand, beinahe Wort für Wort in ihre[n] Roman" übernommen, dessen "Hauptfigur" eben "ihre eigene Tochter" sei. Noch im Jahre 2005 plapperten Inge und Walter Jens dieses vernichtende Urteil in pejorativer Diktion nach: Dohm habe "die töchterlichen Episteln ohne große Retuschen" abgeschrieben. Merkwürdig nur, dass weder Mendelssohn noch das Ehepaar Jens die Korrespondenz zwischen Hedwig Dohm und ihrer Tochter je eingesehen haben können. Denn von der ist, wie die Herausgeberinnen des vorliegenden Buches bemerken, "bislang kein einziger Brief" entdeckt worden. Was aber bleibt, klagen Müller und Rohner, ist die Unterstellung, Dohm sei "eine schlechte Schriftstellerin und des Plagiats an ihrer Tochter schuldig". Ein "Trugschluss, der an Rufmord grenzt", wie die Herausgeberinnen fast allzu zurückhaltend formulieren.

Doch genug der Kritiker- und Biografenschelte. Kommen wir zur Handlung des Romans, auf die hier allerdings nur einige Schlaglichter geworfen werden sollen. In den frühen Jahren der 1867 geborenen Protagonistin geht deren Mutter ganz in der Sorge um Wohl und Wehe Sibillas auf. Später wird sie die Vertraute ihrer Tochter, die ihr in Briefen all ihre Sorgen, Hoffnungen und Nöte schreibt. Sibillas Vater, ein Bohemien und Bruder Leichtfuß, spielt hingegen im Leben der Titelheldin und somit auch im Roman kaum eine Rolle. Man darf vermuten, dass er und somit auch sein Verhältnis zu seiner Tochter sich auch dann nicht wesentlich geändert hätten, wenn er nicht so früh verstorben wäre.

Als heranwachsende junge Frau blickt Sibilla mit Verachtung und Gleichgültigkeit auf ihre Alters- und Geschlechtsgenossinnen herab, denen sie sich nicht ganz zu Unrecht überlegen fühlt, was sich in gelegentlichen boshaften Bemerkungen etwa über "eine Straßenschönheit, richtiger eine Über-die-Straße-Schönheit" niederschlägt. Dass diese "ganz kindlich naiv" geblieben ist, lastet Sibilla ihr allerdings nicht an, denn auf "[b]rachliegende[n] Felder[n]" gedeiht nun einmal nur "Unkraut", und "[ü]ber den Höhen mit ihren Sternen ist für Frauen die Lokalsperre verhängt", wie Sibilla sehr wohl weiß und auch selber erfahren muss.

Denn auch der jungen Frau aus der besseren Familie bleibt jede Möglichkeit zu einer sinnvollen und erfüllenden Tätigkeit verschlossen. Und daran, dass es ihr gestattet werden könnte, irgendwann einmal ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, ist gar nicht zu denken. Allerdings bringt sie auch nicht die Energie auf, wirklich darum zu ringen. "Um gegen den Strom zu schwimmen, muss man stark sein, Muskeln von Stahl haben. Und die meinen? - Zwirnsfäden sind's." So ergibt sie sich ohne lange zu zögern in eine Ehe mit einem Mann, den sie zwar nicht liebt, der jedoch ihren Lebensunterhalt sichern wird. "Vom Schuljungen bis hinauf zum greisen Philosophen, weiß doch jeder, dass die Ehe unser Beruf ist [...]. Da nahm ich - um meinen Beruf zu erfüllen -, was sich mir bot." Das Paar, das nie wirklich eines werden wird, geht nach München, wo es sich in den Kreisen der Salons und der Boheme bewegt. Während ihr Mann zahllose Affären hat, entwickelt Sibilla eine Zuneigung zu einem jungen Sozialisten. Zuletzt zielt ihr ganzes Streben darauf ein Kind zu bekommen, ein Mädchen. Zu ihrer Enttäuschung gebiert sie jedoch einen Sohn. Bald darauf stirbt sie an Kindbettfieber.

In die Handlung verwoben sind unzählige Bonmots, Aphorismen und (Selbst-)Reflexionen der Protagonistin. Etwa über den Einfluss von Vererbung und Erziehung auf die Entwicklung eines Menschen, über die Ehe oder über Feminismus und Antifeminismus, wobei Sibilla auch schon mal ein antifeministisches Klischee entschlüpft. Tatsächlich aber gelten ihre Sympathien der am fernen Horizont sich abzeichnenden "Frauenfreiheit". Ihre Sympathien wohlgemerkt, nicht aber ihre Hoffnungen. Dafür verschwimmt besagter Horizont ihr in allzu weiter Ferne, während in der Erzählgegenwart "[a]ller weiblichen Kreatur" noch "von früh an die Flügel gestutzt" werden. Vermutlich sind diese Ferne und die Hoffnungslosigkeit zwei der Gründe dafür, dass Sibilla sich "nicht einmal so recht lebhaft für die Frauenfrage interessieren" kann. Hinzu kommt, dass neun von zehn Menschen "die unglaublichsten Niaiserien" über das Frauenrecht daher sagen. "Und widerlegst du sie mit schlagenden Gründen, so sagen sie noch einmal und noch hundertmal genau dasselbe und immer dasselbe, jahrein, jahraus, bis es einen davor ekelt."

So fühlt sich Sibilla als kraft- und hoffnungsloses "Übergangsgeschöpf" in einer "Übergangsepoche" verloren. "Ach ja, wir armen, um ein paar Jahrzehnte zu früh geborenen Mädchen" seufzt sie. "Hineingeboren zwischen Morgengrauen und Tag. Ich bin doch schuldlos daran, dass ich zwischen zwei Kulturen geklemmt bin, dass ich nicht rückwärts kann zu den spinnenden, strickenden Hausfrauen, nicht vorwärts zu den freien Geschlechtern, die nach mir kommen werden." Wohl nicht zuletzt aus dieser resignativen Haltung heraus wird Sibilla immer wieder von geradezu daseins- und weltverneinenden Anwandlungen geplagt. "Was soll man auch denken! Das ewige Wieso, Warum, Wozu und ähnliche Menschen- und Geisterrätsel sind so abgedroschen. Und was man auch denken mag, es wird ja doch widerrufen, wie die Vererbung, das Tuberkilin, der Sündenfall, die Arche Noah usw. Und die neueste Idee, der neueste Glaube wird doch auch über Nacht alt." Und überhaupt: "In fünfzig Jahren sind wir alle tot", wie ihr ständiges Credo lautet. "Also: Menschen fort! Bücher fort! Alles fort! Nur meine Chaiselongue nicht, die brauche ich zum Nichttun wie das liebe Brot." Doch auch das vermeintlich süße "Nichttun" gibt Sibilla schnell auf. "Was? Idealisch, nirwanahaft das Nichttun? Aber gar nicht, gar nicht, au contraire: erschaffenwollend, zeugenwollend ist's."

Sollten die LeserInnen sich einmal zum "Nichttun" aufgelegt fühlen, mögen sie es sich gerne auf ihrer Chaiselongue bequem machen, sich in die Sofaecke kuscheln, im Bett ausstrecken oder - wenn die Jahreszeit es wieder zulassen wird - ins grüne Gras legen, ganz nach Belieben. Keinesfalls aber sollten sie vergessen, hierbei stets ein Buch zur Hand zu halten. Einer der Bände Hedwig Dohms wäre nicht schlecht, am besten vielleicht gerade "Sibilla Dalmar".


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Hedwig Dohm: Sibilla Dalmar.
trafo verlag, Berlin 2006.
305 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3896265601
ISBN-13: 9783896265609

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