Der Kolonialkrieg als Bürgerkrieg?

Zehn Fallstudien zur Gewalt des Imperialismus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kolonien wurden üblicherweise durch Gewalt erworben, gewaltsam verteidigt und häufig erst nach einem Krieg aufgegeben. Es scheint eine trübselige Angelegenheit, sich mit diesen Vorgängen zu beschäftigen, und über längere Zeit hinweg geschah dies vor allem im Namen einer historischen Gerechtigkeit, die darin bestehen sollte, die Verbrechen der Kolonialisten aufzudecken und ihren Opfern wenigstens das Vergessenwerden zu ersparen.

In den zehn exemplarischen Studien, die die Herausgeber Thoralf Klein und Frank Schumacher hier zusammengestellt haben, steht dagegen ein analytischer Zugriff im Vordergrund. Was kaum mehr als Gegenstand einer Erinnerungspolitik schien, hat in den vergangenen Jahren an Aktualität gewonnen. Die Interventionen in Afghanistan und im Irak haben viel mit Kolonialkriegen gemeinsam. Sie werden mit dem Argument der Zivilisierung begründet, und die vorherrschende Form der Auseinandersetzung ist der Kleine Krieg, die Guerilla, die ihrerseits durch die Asymmetrie der militärischen Mittel erzwungen ist: Fast alle der zehn Kriege, die Gegenstand des Buches sind, werden von Beginn an als Guerillakrieg geführt oder gehen nach einer Phase, in der die überlegene Macht ihre Stärke in offener Feldschlacht ausspielen kann, in einen solchen über.

Bedenkenswert sind die Überlegungen Dierk Walters in einem einleitenden Beitrag: dass das scheinbar Neue am Anfang des 21. Jahrhunderts die Rückkehr zur Normalität sei. Nach Walter war die Kolonialisierung im Zeitalter des Imperialismus, die auf eine Annexion von Territorien zielte, historisch die Ausnahme, und eine informelle politische und ökonomische Kontrolle schwächerer Konkurrenten, wie sie seit den 1960er-Jahren wieder vorherrscht, der Regelfall. Sogar die Ausnahme relativiert Walter, indem er darauf verweist, dass fast nirgends in den riesigen, im 19. Jahrhundert okkupierten Territorien sich die Kolonialmacht im Sinne eines modernen Staats einrichten konnte und sie fast überall darauf beschränkt blieb, punktuell militärisch, politisch und wirtschaftlich zu intervenieren. Als Sonderfall könnte sich auch der Erfolg in West- und Mitteleuropa seit dem Westfälischen Frieden erweisen, den Krieg völkerrechtlich einzuhegen. Was trotz einzelner Übergriffe in einem halben Kontinent über gut dreihundert Jahre gelang, ist weltgeschichtlich wiederum eine Seltenheit: Zumeist führen nicht prinzipiell gleichrangige Staaten gegeneinander Krieg, sondern eine Seite ist derart überlegen, dass Zonen mehr oder weniger informellen Widerstands: kaum oder gar nicht begrenzter Gewalt entstehen.

Was das bedeutet, wird in dem Sammelband Beitrag für Beitrag nur allzu anschaulich dargestellt. In den Indianerkriegen im Westen der USA (Michael Hochgeschwender), dem der Deutschen gegen die Hehe in Ostafrika (Thomas Morlang), dem Krieg der USA zur Annexion der Philippinen (Frank Schumacher), dem Boxerkrieg in China (Thoralf Klein), dem Burenkrieg (Cord Eberspächer), dem Krieg wiederum der Deutschen in Südwestafrika gegen die Herero und die Nama und in Ostafrika gegen den Maji-Aufstand (Susanne Kuss), in den Kämpfen Spaniens um seine marokkanischen Kolonien (Ulrich Mücke) und beim Ausgreifen Japans nach China (Reinhard Zollner) sowie dem französischen Algerienkrieg (Daniel Mollenhauer) wandte sich die Kolonialmacht mit aller Härte gegen die Zivilbevölkerung und ihre Lebensgrundlagen, in der Absicht, so gleichzeitig die Guerilla ihrer Versorgungsgrundlage zu berauben. Genozidale Gewalt trat sogar in jenem einzigen hier analysierten Fall auf, in dem Guerilla-Aktionen randständig blieben und die europäische Kolonialmacht sich in einem traditionellen staatlichen Krieg durchsetzen konnte: Auch bei der Eroberung Abessiniens durch Italien 1935/36 (Giulia Brogini Künzi) wurde die Zivilbevölkerung massiv attackiert und zu diesem Zweck sogar Giftgas eingesetzt.

Verbrechen wie der Mord an Unbeteiligten, Folter und Vergewaltigung kollidierten mit der behaupteten zivilisatorischen Sendung und prägten dennoch die Kolonialkriege, von beiden Seiten übrigens: dass in den USA Siedler die ersten Opfer von Indianeraufständen wurden, kam nicht nur in Wildwestfilmen vor. Entsprechendes ereignete sich am Beginn von Kämpfen in Afrika. Auch die systematische Zerstörung von Lebensgrundlagen konnte Bestandteil der Taktik beider Seiten sein: Während im fruchtbaren Ostafrika deutsche Truppen systematisch die Landwirtschaft zerstörten, um die feindliche Guerilla zur Kapitulation zu zwingen, machten gleichzeitig Nama im wüstenartigen Südwesten Afrikas Wasserstellen unbrauchbar, um die Beweglichkeit der deutschen Truppen einzuschränken.

Auf beiden Kriegsschauplätzen kam es zum Genozid: In Ostafrika verhungerten Hunderttausende, im Südwesten trieben deutsche Truppen Zehntausende Hereros in die Wüste und hielten sie von Wasserstellen fern. Es ist überlegt worden, ob sich bereits in diesen Völkermorden der Vernichtungswille zeigte, den SS und Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gegen die Juden richteten. Dabei ist eine Differenz deutlich: In Afrika wurde zwar der Tod von Zivilisten als Bestandteil des Krieges recht unbekümmert in Kauf genommen; doch war dies noch eine Begleiterscheinung, die zu akzeptieren den Rassismus der Täter sicher erleichterte, doch noch nicht selbst Ziel. Damit ist freilich nicht gesagt, dass nicht die Praxis die Täter verrohte und derart auf die europäischen Gesellschaften zurückwirkte; eine Gefahr, die in einer Reichstagsdebatte über die Kolonialkriege für die Sozialdemokratie August Bebel hellsichtig formulierte und für die der vorliegende Band auch Beispiele benennt. Am eindrucksvollsten ist hier der Fall Spanien, wo im Kolonialkrieg brutalisierte Soldaten ab 1936 im Bürgerkrieg ins Mutterland geflogen wurden und dort zum Sieg des Faschismus beitrugen.

Zeigen die zehn Kriege auch zahlreiche Gemeinsamkeiten, so gibt es doch, auch dank der Vielzahl von Konstellationen, die die Herausgeber zusammengestellt haben, große Differenzen. Im amerikanischen Westen ging es um eine territoriale Expansion, in deren Verlauf die überlebenden Ureinwohner ihre Siedlungsräume verloren und zugunsten weißer Siedler auf kleine Reservate konzentriert wurden. Der Schritt der USA, sich mit den Philippinen eine überseeische Kolonie anzueignen, wurde zum Teil mit denselben Personen und Kriegsmethoden durchgeführt, zielte aber auf ökonomische und politische Raumkontrolle, nicht aber auf Boden für Siedler. Gleiches gilt für die deutschen Kolonialkriege in Afrika, in zeitlicher und räumlicher Nähe zum Burenkrieg, der als Besonderheit den Kampf zweier "weißer" Parteien gegeneinander aufweist, ohne dass er wesentlich rücksichtsvoller geführt worden wäre. Gleichzeitig erlebte China eine Intervention, die aus heutiger Sicht besonders interessant ist: Der Boxerkrieg führte eine Koalition kolonialistischer Mächte ins Land, die eine nationalistische Volksbewegung bekämpfte, zu der die kaiserliche chinesische Regierung ein bestenfalls ambivalentes Verhältnis hatte. Diese Koalition vereinte Angehörige verschiedener "Rassen", da auch die japanische Armee an der Intervention teilnahm, und gab vor, für die Einhaltung des Völkerrechts zu kämpfen.

Spanien war nach der Niederlage gegen die USA praktisch aus dem Kreis der Kolonialmächte ausgeschieden. Um die Jahrhundertwende drängten England und Frankreich den Verlierern Besitzungen im heutigen Marokko geradezu auf, um sie für einen künftigen europäischen Krieg an sich zu binden. Doch erwies sich Spanien als zu schwach, um das Territorium jemals effektiv zu beherrschen oder gar Gewinn aus der Kolonie zu ziehen. Einzig die Intervention Frankreichs, das um die Sicherheit in seinen benachbarten Kolonien fürchtete, rettete die militärische Lage. Geradezu das Gegenstück bot ein gutes Jahrzehnt später der italienische Angriff auf Abessinien, der als exemplarisch moderner Krieg angelegt war. Mussolinis faschistische Kriegsmaschinerie und insbesondere die Luftwaffe konnte gegen einen staatlich organisierten Gegner einen vergleichsweise schnellen Erfolg erringen - freilich mit einem ökonomischen Aufwand, der die italienischen Handlungsmöglichkeiten im Zweiten Weltkrieg kurz darauf empfindlich reduzieren sollte. Bestandteil dieses Weltkriegs war Japans Ausgreifen nach China, hier als Sonderfall eines nicht "weißen" Kolonialismus aufgenommen. Zur Nachkriegsgeschichte gehören dann die Kämpfe in Algerien, in denen es der nationalistischen FLN zwar nicht gelang, die französische Armee militärisch zu besiegen, aber doch, die politischen und ökonomischen Kosten so zu steigern, dass die Fortführung des Krieges nicht mehr vertretbar erschien.

Im Vordergrund der Darstellungen stehen weniger die militärischen oder gar technischen Einzelheiten der Konflikte als die politischen Rahmenbedingungen. Dem gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Paradigma entsprechend ist der Erinnerung an die Kriege meist relativ viel Raum gewidmet, was auch heißt: dem Streit darüber, wie an die Kriege erinnert werden soll. Im Zentrum stehen zudem fast immer die politischen Konstellationen in den Kolonialmächten: die Interessen, die zum Krieg führten, die logistischen Probleme der Kriegsführung wie häufig auch die innenpolitischen Konflikte über moralische Fragen, die die durchgehend rücksichtslosen Methoden aufwarfen.

Problematisch ist dabei die Fixierung auf die Gesellschaften in den Kolonialstaaten. Sicherlich hinterlassen entwickeltere Gesellschaften mehr an Schriftzeugnissen und auch ist der Guerillakrieg kein günstiger Anlass, die eigene Strategie theoretisch zu analysieren. Doch ist in der Mehrzahl der Beiträge der Fokus mehr als nötig auf die Kolonialisten gerichtet, obgleich die Mutterländer sich weitaus weniger zu verändern hatten als die Kolonien. Mit der Frage, wie traditional geprägte Gesellschaften mit dem Einbruch eines ganz Neuen umgingen, welche Modernisierungsprozesse gerade durch den militärischen Widerstand wie durch den Terror der Kolonisatoren befördert wurden, kommt ein wichtiger Aspekt nur am Rande vor.

Dierk Walter spitzt etwas zu, was in allen der Beiträge mehr oder minder deutlich formuliert ist: Kolonialkriege waren stets auch Bürgerkriege. Kaum eine Kolonialmacht konnte sich ohne einheimische Helfer durchsetzen; in fast allen Konflikten starben mehr dieser Helfer als Invasoren. Von ganzen Indianerstämmen, die der US-Armee die überlebensnotwendigen Scouts stellten, über die Askari, die die Hauptlast der deutschen Operationen in Ostafrika trugen, bis hin zu den zahlreichen Chinesen, die mit der japanischen Besatzungsmacht kollaborierten: Der Verrat scheint eher Regel als Ausnahme. Doch von Helfern und Verrat zu schreiben, ist schon die Perspektive der nachkolonialen Nationalstaaten. Man könnte, jenseits einer nationalistischen Sicht, umgekehrt fragen, in welchem Maße Einheimische die Fremden nutzten, um sich ihrerseits umkämpfte Ressourcen anzueignen. Das entschuldigt keines der Verbrechen, von denen jeder der Aufsätze im Übermaß berichtet, doch erlaubt es einen nüchterneren Blick auf die Fronten.

Auch das wirkt aktuell. Die Regierenden in Kabul oder Bagdad, mögen sie auch um ein Geringes erfreulicher sein als ihre Alternativen, repräsentieren weniger Demokratie und Menschenrechte als dass sie ein Eigeninteresse verfolgen. Doch zeigen diese Kriege andererseits, was sich für den Westen verändert hat - anders etwa als für Russland, das in Tschetschenien noch einen gewöhnlichen Kolonialkrieg führen kann. Die westliche Ideologie der Zivilisierung hat praktische Konsequenzen für die Kriegsführung. Die strafwürdigen Übergriffe von US-Soldaten in irakischen Gefängnissen erscheinen im historischen Vergleich geringfügig; dass ein paar Bundeswehrsoldaten mit afghanischen Totenschädeln posieren, wirkt gemessen an dem, was in den Kolonialkriegen um 1900 Standard war, als harmloses Freizeitvergnügen. Israel steht sogar unter einer so misstrauischen medialen Kontrolle, dass eine wirksame Aufstandsbekämpfung kaum mehr denkbar ist.

Die Geschichte wiederholt sich also nicht. Die in den Beiträgen eher beiläufig zugestandenen Brutalitäten der Verlierer verweisen darauf, dass der Schwächere nicht automatisch der moralisch Überlegene ist. Die historisch neue Dimension des gegenwärtigen Terrorismus, der auch das Territorium der mächtigen Staaten anzugreifen vermag, führt auf die Frage nach legitimen Mitteln einer Gegenwehr; und diese werden, anders als in früheren Kriegen, sofort zum Gegenstand einer globalen medialen Auseinandersetzung. Um 1900 mochte die Illusion von Verteidigern, mittels punktueller kriegstechnischer Modernisierung traditionale Lebensformen sichern zu können, noch tragfähig gewesen sein; gerade zu deren Vorstellungen verraten vorliegende Aufsätze leider zu wenig. Hundert Jahre später gibt es nur noch Kriege um verschiedene Varianten einer radikalen Modernisierung.


Titelbild

Thoralf Klein / Frank Schumacher (Hg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im Zeichen des Imperialismus.
Hamburger Edition, Hamburg 2006.
370 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3936096708

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