Das hauchseidene Eis des Zweidrittelwissens

Karl Gutzkows "Rückblicke auf mein Leben" in der kommentierten Werkausgabe

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Edition der Werke, Schriften und Briefe von Karl Gutzkow (1811-1877) ist in der Abteilung der "Autobiographischen Schriften" der Band "Rückblicke auf mein Leben" erschienen. Das autobiografische Werk Gutzkows, 1875 veröffentlicht und in einem Zeitrum verfasst, der nicht zu den schriftstellerisch erfolgreichsten Jahren des Autors gehörte, bietet vor allem einen kurzweiligen Einblick in das 19. Jahrhundert.

Bereits die renommierten Editoren des Gutzkow'schen Werkes Heinrich Hubert Houben und Robert Gensel bezeugten seiner Autobiografie wenig biografischen und zeitgeschichtlichen Wert. Die für ihn schon historisch gewordene eigene Biografie wird von Gutzkow unter einer verzerrend-verschönernden Perspektive betrachtet. Anfang der 1860er-Jahre hatte er psychische und schriftstellerische Krise begonnen, die mit Unterbrechungen bis zu seinem Lebensende anhalten sollte. 1865 ist ein Selbstmordversuch dokumentiert, 1870 findet man ihn nach vielem Umherreisen wieder in Berlin, schwere psychische Krisen setzen ein. In dieser Zeit beginnt er mit den Vorarbeiten zu einer biografischen Skizze, die aus locker zusammengefügten Erzählteilen besteht und in der Zeitschrift "Die Gegenwart" im Juli 1874 veröffentlicht wurde. Diese Vorstufe der "Rückblicke" wurde vom Herausgeber Peter Hasubek im Internet im Kontext der kommentierten digitalen Gutzkow-Edition ediert und ist hier einzusehen. 1875, also ein Jahr später, erscheint die Buchausgabe der "Rückblicke", die für den vorliegenden Band als Druckvorlage diente.

Gutzkow rekapituliert in den autobiografischen Bruchstücken den Zeitraum von 1829 bis 1849. Seine Beschreibung des eigenen Lebens setzt zu einem Zeitpunkt ein, als er noch schriftstellerisch unbekannt, mit den Plagen des Literaturgeschäfts aber bereits in Berührung war. Dabei ist der Ton der Beschreibung immer von einem selbstgefälligen und larmoyanten Unterton durchzogen. Gutzkow beginnt seine Lebenserinnerungen mit einem für ihn typischen Anfang. Im Einleitungszitat bezieht er sich auf eine Referenzgröße in Sachen Bildung und Kultur: "Montaigne hat gesagt: Mon métier c'est vivre." Eine Reihe von weiteren Namen folgt in lockerer Folge und bildet den Rahmen für den "philosophischen" Hintergrund, der sich während der Lektüre von über vierhundert Seiten als sehr dünnes Brett erweist. Aber dies war schon zu Hochzeiten seines literarischen Erfolgs nicht die Stärke des Schriftstellers Gutzkow. Diese zeigt sich in der offenen Struktur der "Rückblicke". Zusammengesetzt aus Erinnerungen, Anekdoten und kleinen Erzählungen über seine Zeitgenossen entwirft Gutzkow ein Panorama des literarischen Deutschlands vom Anfang der 1830er-Jahre bis hinein in die Revolutionsjahre 1848/49. Die politischen Ereignisse von 1848 bleiben in seinen Erinnerungen marginal. Diese hatte er jedoch schon in "Deutschland am Vorabend seines Falls oder seiner Größe" abgehandelt. Gutzkow schließt seine "Erläuterungen" über sein Leben mit Ausführungen zur Arbeit am Dresdner Theater - nicht ohne mit Emil Devrient, dem "Repräsentanten der Mittelmäßigkeit", "abzurechnen".

Die "Rückblicke" sind ein unterhaltsam zu lesendes Stück Zeitgeschichte, gesehen durch die Brille eines nicht mehr ganz so erfolgreichen Schriftstellers, der es nicht versäumt, oft bösartige und missgünstige Seitenhiebe zu verteilen. Möchte man etwas zur Biografie Gutzkows erfahren, sei dem Leser die Konsultation zeitgenössischer Quellen angeraten; möchte man ein anekdotenreiches Kaleidoskop der Zeit über bekannte und mittlerweile vergessene Protagonisten des so genannten "Jungen Deutschlands", über ihre Mitstreiter und ihre Gegner oder über die gesellschaftlich-kulturelle Szene Deutschlands in den 1830er und 40er-Jahren lesen, so ist der vorliegende Band erste Wahl.


Titelbild

Karl Gutzkow: Autobiographische Schriften. Band 2: Rückblicke auf mein Leben.
Herausgegeben von Peter Hasubek.
Oktober Verlag, Münster 2006.
486 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3938568038

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